Lyrik | Belarus

Schreiben gegen die Repression

Die staatliche Gewalt gegen Protestierende hat nicht nur viel Leid erzeugt. Es entstand auch ein überraschendes Gemeinschaftsgefühl. Sechs aktuelle Gedichte über den Widerstand
Menschenversammlung mit Holzkreuzen im Hintergrund, ein Mann spielt Gitarre

Belarussische Lyrik als gemeinsame Stimme: In einer öffentlichen Gedichtlesung am 29. Oktober 2020 erinnerten Aktivisten an die stalinistischen Säuberungen von 1937 in Belarus, denen unter anderem zahlreiche Autoren und Lyriker zum Opfer fielen.

Die belarussische Gesellschaft wurde 2020 zutiefst verwundet, aber sie hat auch eine Verwandlung erfahren. Alle Kräfte, die in ihr schlummerten, bündelten sich damals zu einem geeinten Handeln und Sprechen. Belarussinnen und Belarussen empfanden sich als gemeinsamen Organismus.

Sie sprachen mit einer Stimme und gaben sich dem gemeinsamen Handeln, dem gemeinsamen Sprechen voll und ganz hin. Doch während diese verbale nationale Mitteilung nun in der Welt ist, muss der große belarussische Text über das Jahr 2020 erst noch gefunden und interpretiert werden. Ein Ansatzpunkt: die Gedichte, die in diesem Jahr geschrieben wurden.


Die Dichterin u­­­nd Lehrerin Hanna Sewjarynez schrieb im Juni 2020 einen Brief in Gedichtform an das belarussische Staatsoberhaupt Alexander Lukaschenko. Damals wurden gerade Unterschriften für die Registrierung von Kandidaten für die Präsidentschaftswahl im August gesammelt.

Der kandidierende Bankier und Mäzen Wiktor Babariko, der populäre Blogger Sergej Tichanowski und die Menschenrechtsaktivisten Mikalaj Statkewitsch und Pawel Sewjarynez, Hannas Bruder, waren zu diesem Zeitpunkt bereits in Haft. Alexander Lukaschenko, der im Wahlkampf merklich ins Hintertreffen geraten war, hatte seinen Kontrahenten bei einem öffentlichen Auftritt gerade mit Massenerschießungen gedroht.

Der Brief von Hanna Sewjarynez ist eine Antwort auf diese Drohung:

*

Ich habe nie für Sie gestimmt, weil ich’s nie wollte.
Sie waren für mich nur der Vater Koljas.
Als Schulmensch siehst du stets nur Kinder oder Väter.
Du siehst wie einer war, noch als Pennäler,
du siehst in jedem seinen Vater, seine Mutter,
oder das Ganze umgekehrt, auch das mitunter.

Die Väter sind, wenngleich in seltnen Fällen,
fest überzeugt, sich durchweg besser auszukennen,
sie sind beim Elternabend munter am Dozieren
über das Unterrichten, Frühaufstehen und Manieren,
wer dumm, wer klug ist, und wo ganz genau
beim Lehrerinnenrock korrekt verläuft der Saum.

Kurz, alles wissen sie, noch besser als die Mütter,
die brav zu Hause sitzen, dort die Ordnung hüten.
Versuch den Kolja dieses Vaters nicht herauszuspüren.
Er zeigt sich ja von selbst, ein echter Einserschüler,
muss Musterschüler sein, und ist rundum perfekt,
versuch ein andrer Mensch zu sein, wer in der Mühle steckt.
Ein jeder Vater wirft wohl einen langen Schatten.

Es fröstelt sogar Söhne, die nie einen hatten.
Das Vaterschicksal lastet oftmals wie ein Fluch,
in guten Fällen aber schenkt es Söhnen Flügel.
Was du auch tust, im Guten wie im Schlechten,
ereignet sich im Sohn, versengt ihn, kann ihn knechten.
Zumal wenn du ihn hemmst, geht es ihm an den Kragen,
wird schwer er an den Schulden deiner Taten tragen.

Und wenn du, aus Verblendung, aus Entsetzen,
Gefängnisse aufstellst und ringsum Absperrketten,
für andere entscheidest, wie sie leben, wo sie weben,
leidet zuallererst dein Sohn, so ist es eben.
Und wenn – der Herrgott möge es verhüten –
der Vater den Befehl gibt, scharf zu schießen,
sag ich – für mich spielt Furcht vor Schmerzen keine Rolle –
Denk nicht an mich, schieß nur. Doch denk an Kolja.

05. Juni 2020[1]

Hanna Sewjarynez, 1975 in Minsk geboren, ist Pädagogin, Philologin und Autorin. Sie veröffentlichte Monographien zur Geschichte der belarussischen Literatur, populärwissenschaftliche Schulbücher und mehrere Romane. Sie lebt in der Kleinstadt Smaljawitschy unweit von Minsk. Hannas Gedicht spricht mit „weiblicher“, mütterlicher Stimme – eine Perspektive, die während der kommenden Proteste von großer Bedeutung sein sollte.

Es geht um Nikolai, den jüngsten Sohn Alexander Lukaschenkos, um die Verantwortung Erwachsener für das Schicksal ihrer Kinder, und um die verheerenden Konsequenzen von Gewalt in der Familie und in der Gesellschaft. Es ist ein Aufruf zum Dialog und eine Mahnung vor einem nationalen Trauma für Belarus, wenn junge Menschen durch ein verantwortungsloses Regime willkürlich gegeneinander in Stellung gebracht werden – die einen bewaffnet, die anderen nicht.

Präsident Lukaschenko verweigerte diesen Dialog nicht nur mit der Dichterin selbst, sondern auch mit der Gesellschaft insgesamt. Am Abend des 9. August 2020, nach der Verkündung der gefälschten Wahlergebnisse, begann die von Lukaschenko angekündigte und von den Sicherheitskräften minutiös geplante Abrechnung mit den Demonstranten.

Überall in den belarussischen Städten und Dörfern gingen empörte Menschen auf die Straßen – und die Sicherheitskräfte gingen mit scharfer Munition, Blendgranaten und schwerem Gerät gegen die Protestierenden vor. Die Menschen waren wie betäubt angesichts der Nachrichten über die ersten Toten auf den Straßen, über Folter und Misshandlungen in Gefängnissen und Polizeirevieren.

Doch der Schock versetzte die Gesellschaft nicht in Starre. Nur drei Tage später fand sie eine unerwartete, asymmetrische Antwort auf die Gewalt. Freiwillige bauten Nothilfelager vor den Gefängnissen auf, Medizinerinnen und Mediziner bildeten Menschenketten vor Krankenhäusern, und vielerorts schlossen sich weißgekleidete Frauen zu Frauenmärschen zusammen.

Am Morgen des 15. August fand ein Solidaritätskonzert auf den Stufen der Minsker Philharmonie statt. Menschen versammelten sich vor dem Gebäude, Musikerinnen und Sänger zogen mit Instrumenten vor dem Haupteingang auf. Es erklangen klassische belarussische Lieder, aber auch ein neuer Choralsatz nach Versen des Lyrikers Andrej Chadanovič:


AN DEN UFERN DER FREIHEIT

An den Ufern der Freiheit ist Sommer, bald Morgen.
Aus einem Strahl wird dann flutendes Licht.
Das Freie ist fern irdischen Vorteils verborgen.
Der Strom nicht zu fassen, in den Fluten des Lichts.

Stärkt sich die Flut – ist die Welt wie einst,
wo Neues erscheint – wird Altes beweint,
es erleuchtet die Stadt – Hoffnung kehrt ein,
wird Tag in den Höfen, der die Ängste vertreibt.

Vom Hof in die Gassen, Wege und Straßen,
sie tragen den Plätzen, Prospekten herbei
das Wort, das selbst die härtesten Herzen
mit Wahrheit erfüllt und von Zweifel befreit.

Kein Mensch wird vom Licht nun mehr überseh’n,
in Veränderung liegt der Kern dieser Zeit.
Einst ergebenen Sklaven steht es jetzt frei zu geh’n
Werden Menschen zum Volk, bleibt das Volk – Menschlichkeit.

In den Höhen erstrahlen die Helden der Zeit,
ein Streifen des Lichts, eine Spur heißen Bluts.
Kehren Stimmen zurück in die Mehrstimmigkeit.
An den Ufern der Freiheit. Schwimme auch du.

14. August 2020[2]

Andrej Chadanovič, geboren 1973, ist Lyriker, Übersetzer und Publizist. Er hat über zehn Gedichtbände veröffentlicht und setzt sich als Belarussisch-Übersetzer für die polnische Literatur ein. Das Gedicht „Na berazie Voli“ entstand buchstäblich am Vortag seiner Premiere. Der Chor studierte es in einer einzigen Probe ein und präsentierte es sogleich der Öffentlichkeit. Es klang wie ein Aufatmen – von der Befangenheit in die Freiheit.

*

Das tatsächliche Ausmaß der Gewalt vonseiten des Regimes wurde erst später offenbar. Mit Anbruch der Wahlnacht war während der Vergeltungsaktion für mehrere Tage kein Internet in Belarus verfügbar. Als es endlich wieder funktionierte, tauchten Dutzende Fotos zusammengeschlagener und gefolterter Menschen auf.

Die Lyrikerin Kryscina Banduryna goss ihren Schock und ihre Trauer in diese Verse:

ANLEITUNG ZUM PLATTMACHEN VON MENSCHEN

Euer wichtigstes Werkzeug ist Angst.
Die Angst vor dem Schmerz ist stärker als der Schmerz.
Wenn ihr ihre Angst steuert, steuert ihr auch sie.
Nehmt ihnen die Stimme, zwingt ihnen die Klappe zu.
Wenn sie schreien – schlagt zu. Schlagt ärger
als sie schreien.
Dunkel, schwarze Uniform, Informationssperre,
Lauern in den Höfen, Explosionen, Kugeln,
Desinformation, Spaltung, Militärkolonnen,
Hämatome, Knochenbrüche, SHT,
gern ein paar Leichen – nicht zu viele,
dann nicht beschwichtigen,
was mit „Zufällen“:
selbstgebauter Sprengsatz, Herzfehler, Suizid.
Je größer die Angst, desto größer die Stille.
Alle einsacken.
„Käfig“, „Banja“, Spagat, Karzer,
Besserungsarbeit mit Knüppeln –
lehrt sie die Heimat richtig lieben.
Die Angst vor dem Schmerz ist stärker als der Schmerz.
Jeder hypothetische Schlag schmerzt mehr
als ein realer.
Telefone, Telegram, Kanäle,
ihre läppisches Geschreibsel mit Mama,
der Kontakt zu den Organisatoren ...
Haltet sie nackt,
den Knüppel mit Präser in Bereitschaft,
wenn sie aufmucken – legt los.
Kein Arschloch kommt wieder raus.
Keine Hilfe. Keine Gnade.
Sie werden uns nicht schonen.
Werft ihnen, wie Hunden, einen Kanten Brot vor für alle,
sollen sie sich verbeißen.
Und nichts zu trinken geben.
Drei Tage ohne Kübel –
dann mal schauen nach den vollgeschissnen Kühen.
Wenn einer rausdarf – Quittung in die Fresse:
sollen sie zahlen
für ihre Freiheit,
wenn sie sie denn
so nötig hatten.

20. August 2020

 

Kryscina Banduryna, 1992 in Mazyr im Süden von Belarus geboren, ist Philologin und studiert belarussische und amerikanische Literatur in Minsk. Sie veröffentlichte einen Gedichtband sowie Zeitschriftenbeiträge, ihre Gedichte wurden auch ins Russische übersetzt.

Aufgrund eigener Erfahrungen beschäftigt sich Kryscina bereits seit langem mit häuslicher Gewalt. Nun transponierte sie dieses Problem auf die Beziehung der Regierung zur Bevölkerung.

Ein Trauma zu betrachten, über ein Trauma und aus einem Trauma heraus zu sprechen, ist aus künstlerischer Sicht mit erheblichen Risiken verbunden. Zum einen mit dem persönlichen Risiko, im Schmerz zu versinken und sich der Rache des Täters auszusetzen.

Zum anderen gibt es das ästhetische Risiko, über die Grenzen des Künstlerischen, der Poesie hinauszugehen.

Zugleich besteht aber die Chance, die Erfahrung des Schmerzes in einen neuen literarischen Kanon zu überführen. Die starke, enthüllende Stimme Kryscina Bandurynas ist im poetischen Text des neuen Belarus von unverzichtbarer Bedeutung.

*

Von Mai/Juni 2020 bis zum Jahresende gingen Zehntausende gewöhnliche Bürger, die keinerlei Neigungen zu Randale oder kriminellen Handlungen hatten, durch die Gefängnisse. Bei den letzten großen Solidaritätsmärschen im November und Dezember nahmen die Sicherheitskräfte an einem Tag anderthalb- bis zweitausend Menschen fest.

Die meisten wurden wegen „Teilnahme an nicht genehmigten Massenveranstaltungen“ verurteilt. Der Lyriker und Musiker Uładź Liankievič war zweimal hinter Gittern, im September und im Dezember. Nach seinem ersten Gefängnisaufenthalt schrieb er einen Gedichtzyklus über seine Erfahrungen in der Haft:
 

HERBST 2020

[…]

– die ganze nacht haben sie leute geschlagen im hof
die ganze nacht haben sie leute geschlagen im hof

hunde haben gebellt
hunde haben gebellt

habt ihr gehört?
– nur ruhig
das hast du geträumt
das hast du geträumt
niemand wurde geschlagen
niemand wurde geschlagen
schlagstöcke auf körpern
hättest du gar nicht gehört

der schlagstock
landet lautlos [3]

***

prozess auf dem gesprungenen iPhone des wärters
setz dich in dieser zelle
schau die batterie ist runter
wir machen das im schnelldurchgang
also keine widerrede
in deinem eigenen interesse
denn wenn die batterie ganz runter ist
hörst du das urteil nicht
erfährst nicht mehr wie lange
wir dich noch hierbehalten
dann liegst du da
fragst dich wie lange noch
du diese scheiße riechen musst
die echte scheiße mein ich jetzt
die scheiße wie sie sich ergibt
aus der kacke des zellengenossen untere pritsche
aus der kacke des zellengenossen obere pritsche gegenüber
aus deiner eigenen kacke
und der der gestern eingefahren ist
hat noch kein einziges mal geschissen
die scheiße in der wir sitzen
ist also noch nicht komplett
kein ding gewöhnt sich schon der neue
dann haben wir das volle bouquet

– los geht’s
weshalb haben sie das haus verlassen?

***

– gebt mir eine tablette
gegen meinen kopf

ich will keinen
kopf mehr haben
ich bin es satt
ihn zu tragen

er hat augen
in sie dringt das giftgas ein
das ihr licht nennt
und zur nachtruhe nicht löscht

ich will keinen
kopf mehr haben

er hat einen mund
den ich mir stopfen muss
mit dem stinkenden gummischleim
den ihr als brot auszugeben versucht

ich will keinen
kopf mehr haben

er hat ohren
die ihr vollbellt
mit eurem „hndaufnrckn“
„gsichtzrwnd“
„schnll“

gebt mir eine tablette
wieso sind sie aus?

– weil wir alle
kopftabletten selber
gegessen haben

also frss hltn [4]

***

– wer hat geläutet?

– die elf
chef
lass eine rauchen, hm
kann ich paar schritte
hast du mal feuer
die elf
wie spät ist denn
kann ich was rauchen
ich bin ganz brav
lässt mich kurz raus
mal duschen

schritte knarren im gang
ein schlüssel knirscht im schloss
bevor die tür auf ist
hupf-hupf auf den boden
das ganze kammeroktett

von hinterm gitter schaut
der schüler, der sich irrte
und in die falsche klasse trat:

– so, fck
bei mir wenn eine zelle ärger macht,
büßt gleich die ganze anstalt
[…]

November 2020

Der Philologe Uładź Liankievič wurde 1987 in Minsk geboren. Er publiziert und übersetzt Lyrik, darüber hinaus betätigt er sich als Songtexter und Musiker. Uładź’ poetische Reportage ist das Zeugnis einer versuchten Vernichtung, vergleichbar mit den Praktiken im sowjetischen Gulag der Stalinzeit.

Politische Häftlinge werden in Belarus gezielt unter unhygienischen, erniedrigenden Bedingungen festgehalten. Die Zellen sind überfüllt: Menschen müssen auf dem blanken Fußboden schlafen, ohne Matratzen und Bettzeug. Lüftung oder Heizung gibt es nicht.

Spaziergänge werden willkürlich verweigert, Päckchen und Briefe von Angehörigen nicht ausgehändigt. Doch diese poetische Reportage ist in erster Linie ein Zeugnis moralischen Widerstands gegen die Entmenschlichung.

*

Für mich persönlich war die wichtigste Erfahrung des Jahres 2020 die außergewöhnliche ethische Solidarität der gesamten Gesellschaft. Sie hat diesen lang anhaltenden und starken Protest überhaupt erst ermöglicht. Man könnte den Zustand, in den die Belarussinnen und Belarussen im August 2020 eingetaucht sind, als Katastrophe bezeichnen. Zugleich erlebten sie aber ein außerordentliches Maß an Fülle, ein ungeahntes Maß an Staunen, Schönheit und wahrer Beglückung:

das ist die glücklichste zeit
in meinem ganzen leben
sagt er

es ist wie leben nach dem tod
leben anstelle
des todes

unmöglich zu erklären
und unnötig

unmöglich vorauszusehen
und unmöglich zu übersehen
augenblicklich

du gehst zwischen toten häusern
und plötzlich siehst du die toten auferstehen

überall die auferstehung der toten

überall kommen die menschen aus den toten häusern
erheben sich aus den gräbern und kommen heraus ohne unterlass
erstaunte menschen kommen heraus in massen
schar auf schar der lebendigen

sie lachen und weinen und singen und tanzen
unsterblichen gleich

wie an totem strauchwerk sich knospen entfalten
wie der raum in einer wolke badet
aus roten und weißen blüten

wie die bienen summen berauscht
an schwerem und trunkenem pollen

wie sie sich lieben
wie niemand jemals
in meinem ganzen leben
sagt er

21. November 2020[5] 

Ich wurde 1963 in Minsk geboren und habe mein gesamtes Leben in dieser Stadt verbracht. Mittlerweile sind 16 Lyrikbände von mir erschienen. Aus dem Gedichtzyklus, den ich 2020 unter dem Eindruck der Ereignisse geschrieben habe, ist der Band „Belarus oprokinuta“ („Umgekipptes Belarus“) geworden.

Gedichte aus diesem Zyklus wurden nach ihrer Veröffentlichung sofort in mehrere Sprachen übersetzt – so reagierte die Welt auf die belarussische Verwandlung. „das ist die glücklichste zeit …“ ist mein Schlüsseltext des Jahres 2020.

Glück ist seinem Wesen nach nicht identisch mit Wohlbefinden und Sicherheit. Zum Glück gehören Schmerz und Freude gleichermaßen. Der Schmerz, dass bei einem Marsch anderthalbtausend Menschen festgenommen wurden. Und die Freude, wenn ein Freund von seinem Sohn, einem politischen Häftling, einen Brief bekommt.

*

Das folgende Gedicht von Nasta Kudasava entstand im Sommer 2021, ein Jahr nach Beginn des ethischen Aufbegehrens in Belarus. Die illegitime Regierung wütet weiter.  Sie belegt Zivilisten mit ungeheuerlichen Haftstrafen, zerstört Medien und Nichtregierungsorganisationen, verfolgt Sportlerinnen und Kulturschaffende, aber sie kann die Loyalität der Bevölkerungsmehrheit nicht zurückgewinnen. Die Gesellschaft ist am Schmerz nicht erstickt. Sie atmet aus voller Brust, sie wahrt Gesicht und Haltung inmitten des Leids:

Sieh doch, wie viele Leben in mir wimmeln! Sieh,
wie Universen in mir lodern voller Wonne!
Da bin ich wilder Keiler, da geschmeid‘ger Hirsch,
da schlummer ich am Ladoga als frohe Robbe.

Sieh, sieh, ich bin das Kernlein in Sibriens Zeder.
Wärm mich als Kuschelkokosnuss in Ghanas Sonne …
Ich wisper mein „Inmar …“ über Udmurtiens Wäldern
und trag das Himmelsleuchten in den trauten Norden.

Doch dort, wo der August den Feldern Locken windet,
wo über meiner Heimat jeder Storchenruf verstummte,
wo Schweigen, Stille eingefroren …
Dort sieht nicht hin.

Dort
klafft die Wunde.

27. August 2021

Nasta Kudasava, geboren 1984, ist Lyrikerin und Übersetzerin. Sie hat vier Lyrikbände veröffentlicht und lebt in der Stadt Rahatschou. Nasta empfindet hier die Stimme der belarussischen Dichterin Larysa Henijuš (1910-1983) nach. Henijuš lebte in Prag, als sie nach dem Zweiten Weltkrieg von Mitarbeitern des NKWD entführt und in die UdSSR verschleppt wurde. Sie kam in den Gulag und lebte anschließend unter zahlreichen Entbehrungen in der Kleinstadt Selwa.

Bei Nasta Kudasava klingen Motive von Henijuš an, wenn sie über die niedergetrampelte, entehrte Heimat klagt, den Stolz der unbeugsamen Belarussin feiert oder ihre tiefe Gewissheit über die souveräne Zukunft ihres Landes ausdrückt: „Dies eine Ziel ist mir ein Muss, / ich sag es ohne Herzensbeben: / Wenn leben, dann für Belarus. / Denn ohne dies ist gar kein Leben“, schrieb Larysa Henijuš.

 *

Und so erkennt sich der belarussische poetische Text der Jahre 2020 und 2021 in klassischen Stimmen, darunter diejenigen von Michaś Čarot, Natalla Arsieńnieva und Larysa Henijuš. Aber er findet auch neue Ausdrucksmittel für Glück, Erstaunen und den Mut, ein Zeugnis abzulegen. Er wird geschrieben von denen, die heute ins Risiko gehen und zu Hause bleiben, von denen, die gezwungen waren zu gehen und von denen, die unglücklicherweise ins Gefängnis geraten sind – er wird geschrieben mit einer Stimme. Geschrieben als ein Text.

Aus dem Russischen von Thomas Weiler


[1]      Gedichte hier und im Folgenden – wenn nicht anders angegeben – aus dem Belarussischen übersetzt von Thomas Weiler
[2]      Aus dem Belarussischen von Susanna Sophia Koltun. Zitiert nach: Stimmen aus Belarus, 23.08.2020 

[3]      Aus dem Russischen von Thomas Weiler. Zitiert nach: Alina Lisitzkaya (Hg.): Stimmen der Hoffnung. Aufzeichnungen, Gedichte, Texte der belarussischen Freiheitsbewegung. Berlin 2021, S. 177ff. 
[4]      Aus dem Russischen von Thomas Weiler. Zitiert nach: Alina Lisitzkaya (Hg.): Stimmen der Hoffnung. Aufzeichnungen, Gedichte, Texte der belarussischen Freiheitsbewegung. Berlin 2021, S. 173ff. 
[5]      Aus dem Russischen von Andreas Weihe. Zitiert nach: Alina Lisitzkaya (Hg.): Stimmen der Hoffnung. Aufzeichnungen, Gedichte, Texte der belarussischen Freiheitsbewegung. Berlin 2021, S. 233ff.