Zwischen Unwissen und Nostalgie
Warum Belgiens koloniales Erbe endlich aufgearbeitet werden muss
von Nathalie Tousignant
Bereits seit einigen Wochen ist Belgien die Bühne verschiedener Protestbewegungen nach amerikanischem Vorbild, die durch den Tod von George Floyd am 25. Mai diesen Jahres ausgelöst oder reaktiviert wurden, darunter die „Black Lives Matter“-Bewegung. Die Proteste fallen auf fruchtbaren Boden, zum Beispiel in Brüssel, wo das koloniale Erbe im öffentlichen Raum omnipräsent ist: ein Erbe, das von militanten Protestierenden angegriffen wird, welche diese Spuren der kolonialen Vergangenheit mit der weiterhin bestehenden Diskriminierung von Personen mit afrikanischen Wurzeln, zum Beispiel bei der Arbeitssuche oder beim Zugang zu Wohnraum, in Verbindung bringen.
Die Medien und die politisch Verantwortlichen haben hastig diese brennende Thematik aufgegriffen, ohne einen Plan zu haben oder die Problematik hinreichend zu verstehen. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich auf zwei Aspekte; zum einen die Rolle König Leopolds II. von Belgien: Hatte er Kenntnis von den Übergriffen im Kongo? Dies zu klären ist wichtig, um die Verantwortung des Königs, seiner Nachkommen und des belgischen Staates zu bestimmen. Auf der anderen Seite wird aufgerechnet: Wiegen die „positiven“ Aspekte des Kolonialismus seine negativen Seiten auf? Forscher haben aufgezeigt, dass diese positiven Aspekte den Interessen des belgischen Staates dienten und dass die effiziente Ausführung kolonialer Aufgaben Vorrang vor den Interessen der einheimischen Bevölkerung des Kongo hatte.
Im Jahr 2020 ist die afrikanische Kolonialgeschichte immer noch nicht verpflichtender Bestandteil des Lehrplans an belgischen Schulen; sie ist das fehlende Kapitel der nationalen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Wenn Schulbücher diesen Teil der Geschichte überhaupt behandeln, tun sie dies im Sinne der kolonialen Propaganda.
Unwissen, Desinformation und Nostalgie kennzeichnen das Verhältnis der Belgier zu ihrer Vergangenheit, die immer noch im öffentlichen Raum sichtbar ist, und das, obwohl seit den 1950er-Jahren des vorigen Jahrhunderts in Afrika, in Belgien und im Rest der Welt von Historikern und Ethnologen Erkenntnisse gewonnen wurden, die zu einer schrittweisen Dekolonialisierung beigetragen haben, auch wenn dieser Prozess noch lange nicht abgeschlossen ist. Die sozialen und geistigen Rahmenbedingungen, welche die (post-)kolonialen Erinnerungen strukturieren, waren bislang noch nicht Gegenstand einer systematischen, widersprüchlichen und wohldokumentierten Dekonstruktion. Lebhafte Erinnerungen ranken sich um Interpretationen dieser Vergangenheit, die nicht vergehen will und die man nicht vom Tisch fegen darf. Die Diskriminierungserfahrungen, von denen die Mitglieder der Gemeinschaft der Afrikaner und der Menschen afrikanischer Abstammung berichten, werden von zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen bestätigt. Dies spiegelt wider, wie schwierig es für die Verantwortlichen ist, den öffentlichen Raum in Belgien zu dekolonialisieren und so endlich einen bislang unsichtbar gemachten Teil der nationalen Gemeinschaft anzuerkennen.
In der langen Geschichte des Kongo, Ruandas und Burundis ist die Epoche der belgischen Kolonialherrschaft von 1885 bis 1962 nur eine Fußnote. Diese Gesellschaften waren Königreiche und Imperien, die nach ihren jeweils eigenen Regeln organisiert waren. Leopold I. und Leopold II. stießen mit der Unterstützung von Wirtschaftskreisen die Expansionsbewegung Belgiens an, das damals die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt war. Die Ausbeutung natürlicher Ressourcen (Elfenbein, Kautschuk und Mineralien), der Aufbau einer Infrastruktur und die Aufteilung des Territoriums durch Missionare und wissenschaftliche Expeditionen zerstörten bestehende soziale und politische Strukturen und ersetzten sie durch ein hierarchisches und segregiertes System, in dem der persönliche Rechtsstatus den Platz bestimmte, den jede/r darin einnahm, und dies ohne Unterbrechung für die gesamte Dauer der belgischen Kolonialherrschaft in Zentralafrika: in Belgien als Kolonie und in Burundi und Ruanda unter dem Mandat des Völkerbunds und später der Vereinten Nationen.
Seit dem Jahr 1960 entwickelten sich die Beziehungen zwischen den Ländern im Zuge der Regimewechsel weiter. In Brüssel und anderswo in Belgien entstanden kongolesische, ruandische und burundische Gemeinschaften durch den Zuzug von Studierenden, ArbeiterInnen und PraktikantInnen, denen sich GegnerInnen des politischen Systems anschlossen. An den Rand gedrängt und ghettoisiert, sahen sie sich mit einem Neopaternalismus konfrontiert, bedingt durch die an die belgische Bevölkerung gerichtete Propaganda, die den Mythos von einer selbstlosen Kolonisierung mit der Mission, die belgischen Territorien zu „zivilisieren“, aufrechterhielt. Der öffentliche Raum mit seinen Monumenten und seinen Namensgebungen, das Königliche Museum Zentralafrikas in Tervuren, die Illustrierten oder die Weltausstellungen mit ihren Menschenzoos bis ins Jahr 1958 zeugen von dieser Desinformation.
Angesichts der körperlichen, psychologischen und symbolischen Gewalt ist es dringend notwendig, diese Wege der Dekonstruktion zu beschreiten, in unaufgeregter Weise. Politischer Opportunismus hingegen drängt zum planlosen Handeln. „Eine parlamentarische Kommission auf Bundesebene sollte eingerichtet werden!“ Dies ist die beflissene Reaktion des Politikers angesichts der gesellschaftlichen Kluft. Um ein wirklich gleichberechtigtes Zusammenleben aller zu ermöglichen, ist es unabdingbar, dass die Kolonialgeschichte an den Schulen unterrichtet wird, dass der öffentliche Raum dekolonialisiert wird und dass wir endlich allen Formen von Diskriminierung den Kampf ansagen.
Aus dem Französischen von Caroline Härdter
NATHALIE TOUSIGNANT ist Professorin für zeitgenössische Geschichte an der Universität Saint-Louis in Brüssel.