Die Zurückstufung des Gedenkens

Läuten die coronabedingten Einschränkungen eine Wende in der Erinnerungskultur Europas ein?

von Thomas Serrier

 

Wird die Wucht, mit der die Covid-19-Pandemie auch die europäischen Erinnerungskulturen erreicht hat, tiefschichtige und längerfristige Spuren hinterlassen? Werden das Selbstbild der Europäer und die Außenwahrnehmung Europas nach diesem denkwürdigen Jahr 2020 andere sein als die bisher gekannten? Unter all den kleinsten oder massiven Veränderungen, die das Coronavirus der Welt und Europa beschert hat, stechen – um nur ein Beispiel zu nennen – die  auf ihren Nukleus abgespeckten Veranstaltungen zum 8. und 9. Mai in den vom Lockdown wie entvölkerten Geisterstädten Berlin, Paris, London oder Moskau besonders markant hervor. Dabei hatte das öffentliche Begehen des 75-jährigen Endes der NS-Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs in Europa auf der Gedenkagenda 2020 ganz oben gestanden. Nun aber hielt am 8. Mai Bundespräsident Steinmeier seine Rede vor der Neuen Wache in alleiniger Anwesenheit der Bundeskanzlerin und der Vertreter des Bundestags, des Bundesrats und des Bundesverfassungshofs, während Präsident Macron bei der traditionellen Pariser Militärparade am 14. Juli auf den seltsam leeren Champs-Élysées auf einmal sehr nackt wirkte und der britische Victory in Europe Day mehr oder minder mit einer einzigen TV-Rede der Queen abgespeist wurde. Auch wenn der belarussische Präsident Lukaschenko stur blieb und die Truppen in Minsk ganz ohne Masken und jegliches Social Distancing Revue passieren ließ, entschied sich sogar Wladimir Putin für eine radikale Schrumpfung der Moskauer Gedenkfeier – und verschob die Siegesparade auf den 24. Juni. 

Wie folgenreich wird dieses regelrechte Entblößen der offiziellen Inszenierungen sein? Wird die sturzartige Anpassung von Gedenkritualen, die sich im Laufe von Jahrzehnten etabliert haben, nur eine zeitlich begrenzte Klammer bleiben? Läutet die coronabedingte Zurückstufung des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg, wie sie angesichts der Fixierung auf Verbreitung und Sterblichkeitsraten des Covid-19 auf dem Höhepunkt der Pandemie wahrzunehmen war, nicht eine neue Periode in den Gedenkkulturen ein – nach dem endgültigen Ablaufen jener von der französischen Schoah-Spezialistin Annette Wiewiorka so genannten „Ära der Zeitzeugen“, die jahrzehntelang eine so zentrale Rolle in den öffentlichen Erinnerungsdiskursen eingenommen haben? Wie verändert das nunmehr auch von offizieller Seite ersatzweise mehrfach eingesetzte digitale Medium die Praxis des gemeinsamen Erinnerns? Denn: Meint nicht „commémoration“, das französische Wort für „Gedenken“, ein Co-Memorieren, also wenn schon keine Übereinkunft der Erinnerungen, so doch zumindest eine Zusammenkunft der Erinnernden? Denkt man wirklich, dass ein virtuelles Zoom Meeting von Erinnerungsträgern zukunftsfähig sein wird für ein Europa, das sich vor dem Virus zunächst tatsächlich hinter den nationalen Grenzen abschottete?

Europäische Erinnerungen, so das Ergebnis der groß angelegten dreibändigen Kollektivstudie „Europa. Die Gegenwart unserer Geschichte“ sind stets geprägt durch ihre Dualität und Dreidimensionalität. Dualität zunächst, weil sie immer gleichzeitig „shared“ und „divided memories“ sind. Auch die Corona-Zeit wird je nach Standpunkt und Narration als „gemeinsame“ Erfahrung mit „trennenden“ Momenten erinnert werden können, von der reflexartigen Rückkehr der Grenzen und dem leicht neidverzerrten Vergleich zwischen den coronageplagten Ländern bis hin zu den hoffentlich zukunftsträchtigen Vorstellungen einer gemeinsamen finanziellen Anstrengung zur Überwindung der Schäden, wie sie zumindest innerhalb der EU seit Mai 2020 debattiert wird. Dreidimensionalität schließlich, weil jede europäische Erinnerung eine zeitliche, eine räumliche und eine globale Dimension und Verfasstheit aufweist. Kollektives Erinnern ist erstens grundsätzlich ein Modus der Gegenwart. Es hat nur mittelbar mit der Vergangenheit zu tun, indem es aus der Fülle des Speichergedächtnisses die Elemente schöpft, die für das Verständnis der Jetztzeit ausschlaggebend sind. So beherrschten seit März 2020, den aktuellen Bedürfnissen entsprechend, historisch relevante Vergleiche mit der Cholera und der Spanischen Grippe, aber auch mit der allgemeinen (politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen) Mobilmachung während der Weltkriege oder den (ein Beispiel für europäische Best Practice liefernden?) Anstrengungen des Wiederaufbaus nach 1945 den Erinnerungsdiskurs der letzten Monate in den sozialen Medien. Keine programmierte Pflichtlektüre, nein, Camus’ „Pest“ aus dem Jahr 1947 führte auf einmal wieder die Verkaufszahlen an.

Zweitens sieht man dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer immer deutlicher, wie wenig „wiedervereinigt“ im Sinne von „vereinheitlicht“ Europa ist, wie nachhaltig Gesellschaften durch ererbte räumliche Spaltungen aus der ferneren und jüngeren Geschichte geprägt sind. Bei allen Überlegungen über europäische Erinnerungen als „Ganzes“ gilt es also zu hinterfragen: Welches (Teil-)Europa ist dabei tatsächlich gemeint, geografisch gesehen?

Und drittens, was die globale Zirkulation des Virus schließlich einmal mehr gezeigt hat: Europa, das noch vor nicht allzu langer Zeit die Welt dominierte und sich danach durch Wohlstandsgefälle und neu gezogene Mauern komfortabel abgeschottet wähnte, geht mit dieser Art von Vorstellungen vollkommen in die Irre. Europa lässt sich jenseits oder abseits des „Rests“ der Welt nicht verstehen, und europäische Erinnerungen lassen sich schon gar nicht in die Grenzen Europas einschließen. Nicht nur, weil die Ära von Kolonialismus und Imperialismus zwangsläufig tiefe Spuren hinterlassen hat, auch insofern, als nicht europäische Völker Europa nun sehr wohl an dessen „universelle“ Werte und die sich daraus herleitende Verantwortung erinnern, etwa in der Debatte um Reparation und Restitution. Die postkolonialen und nun dekolonialen Kontroversen unserer globalisierten Welt müssen zwangsläufig die europäischen Ufer erreichen, auch wenn die Welle einen ganz anderen Ausgangspunkt nimmt, wie etwa beim Todesfall des Afroamerikaners George Floyd, der sich am 25. Mai 2020 bei einer Festnahme durch die Polizei in Minneapolis ereignete. Das Aufsehen, das die Videoaufnahme seines gewaltsamen Todes in den USA erregte, schlug rasch nach Europa über, wo der Ruf zur Schleifung symbolischer Statuen und zur Umbenennung von Straßen laut wurde und in Bristol, Brüssel, Paris, Berlin (soll die Mohrenstraße weg, darf die Kolumbus-Straße bleiben?) zu militanten Gesten führte. Diese jüngste Form einer jahrtausendealten Praxis sagt viel aus. Der Post-Corona-, der dekoloniale Denkmalsturz 2020 als Seismograf für die große Tektonik der europäischen Erinnerungen? In ihm bündeln sich die charakteristischen Aspekte von langer Dauer und angehäuften Zeitschichten, die Frage nach ihrer Gesamtheit und ihren Brüchen, und nicht zuletzt die weltweiten Spiegelungen und Verflechtungen.

THOMAS SERRIER ist Professor für Zeitgeschichte an der Université de Lille. Er forscht zu europäischen Grenzregionen mit dem Schwerpunkt Deutschland – Polen und Frankreich sowie zu europäischen Erinnerungskulturen. Seine jüngste Publikation heißt „Europa. Die Gegenwart unserer Geschichte“ (zusammen mit Etienne François, hrsg. von Akiyoshi Nishiyama, Pierre Monnet, Olaf B. Rader, Valérie Rosoux, Jakob Vogel), wbg, Darmstadt, 2019.