Corona versus Kultur

Die Corona-Krise hat Theatern, Konzerten und Ausstellungen eine Zwangspause verordnet und bei vielen Freiberuflern und Freiberuflerinnen Existenzängste ausgelöst. Wie wird die Kreativwirtschaft aus der Pandemie hervorgehen?

von Jess Smee

 

Es ist kein Geheimnis, dass die durch das Coronavirus ausgelösten sozialen Verwerfungen den Kreativsektor hart getroffen haben. In ganz Europa sahen sich eine Reihe seit Langem bestehender Kultureinrichtungen zum ersten Mal seit Jahrzehnten – einige sogar zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg – gezwungen, ihre Türen zu schließen. Ironischerweise kam die wirtschaftliche Misere zu einer Zeit, als die Kultur – in Form von Filmen, Büchern und Musik – ganzen Bevölkerungsgruppen, die in den Lockdown gezwungen wurden, Entlastung, Trost und Unterhaltung bot.

Die Zahlen zeigen das Ausmaß des wirtschaftlichen Einbruchs: Zu Beginn der Krise ergab eine Umfrage unter Galerien weltweit einen Einkommensrückgang von siebzig Prozent, sodass viele an den Rand des Bankrotts gerieten. Museen mussten laut dem Netzwerk Europäischer Museumsorganisationen (NEMO) Einnahmeneinbußen um achtzig Prozent hinnehmen. Die große Zahl der Freiberuflerinnen und Freiberufler des Sektors war plötzlich den gefährlichen Kehrseiten der Gig Economy ausgesetzt. Etwa die weltberühmte kanadische Zirkusgruppe Cirque du Soleil, die im März 95 Prozent ihrer Belegschaft entließ und Vorstellungen in sieben Ländern absagte.

Europäischen Politikern wurden die Turbulenzen in der Kreativindustrie rasch bewusst. Mariya Gabriel, EU-Kommissarin für Innovation, Forschung, Kultur, Bildung und Jugend, bezeichnete die Auswirkungen auf den Sektor als „verheerend“. Europäische Politiker betonten die Bedeutung eines Rettungspakets für Kreative.

Der Kreativsektor spielt eine enorme Rolle für die einzelnen Nationen. In Italien zum Beispiel wurde der Wert des staatlich finanzierten Museumssektors vor dem Ausbruch auf 27 Milliarden Euro oder fast zwei Prozent des nationalen Bruttoinlandsprodukts geschätzt und war damit nur geringfügig kleiner als der Landwirtschaftssektor. Vorläufige Daten von Eurostat deuten darauf hin, dass der Covid-19-Ausbruch etwa 7,3 Millionen Arbeitsplätze im Kultur- und Kreativsektor der gesamten EU betreffen könnte. Von diesen sind etwa ein Drittel Selbstständige und nicht ausreichend sozial abgesichert.

Konjunkturmaßnahmen sind weitgehend das Produkt nationaler Regierungen, die entscheiden, wie sie eine kränkelnde Wirtschaft unterstützen und welchen Sektoren sie Vorrang einräumen wollen. Die meisten europäischen Staaten haben zusätzliche Erleichterungen für Kleinunternehmen, Angestellte und Selbstständige bereitgestellt – Mittel, die auch von Kreativunternehmen abgerufen werden können. Die meisten Regierungen in Europa haben zudem besondere Maßnahmen für die Kreativwirtschaft beschlossen. Einige davon waren klein und spezifisch, wie zum Beispiel die des bulgarischen Kulturministeriums, das einen Wettbewerb zur Leseförderung und Unterstützung seines Bibliotheksnetzes ausschreiben will. In Dänemark wollen Radiosender im Dialog mit dem Kulturministerium dänisch produzierte Musik zur Unterstützung lokaler Künstler fördern.

Es gab auch große Finanzspritzen, wie zum Beispiel die des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der im Mai eine zwölfmonatige Verlängerung der besonderen Arbeitslosenunterstützung des Landes für Schauspielerinnen, Künstler, Musikerin und Technikerinnen forderte, einer Maßnahme, die sie während der plötzlichen Pausen zwischen zwei Jobs schützen soll. Laut Macron haben Kleinunternehmen und Selbstständige, die am stärksten unter der Krise leiden, Anspruch auf einen speziellen, von der Regierung eingerichteten Unterstützungsfonds in Höhe von sieben Milliarden Euro. Macron kündigte zudem an, dass das „besonders hart betroffene“ Centre national de la musique (CNM) einen zusätzlichen Hilfsfonds von fünfzig Millionen Euro erhalten werde.

Deutschland hat ebenfalls internationales Lob für seine schnelle Unterstützung einer krisengeschüttelten Industrie erhalten. Im Juni stellte das Land als Teil eines großen Konjunkturprogramms ein Fünfzig-Millionen-Euro-Paket vor, das sich an FreiberuflerInnen und Kleinunternehmen unter anderem in der Kunst- und Kulturindustrie richtet. Dieses wurde innerhalb von vier Tagen nach Ankündigung verteilt. Der Berliner Senat hat hundert Millionen Euro in Form von Zuschüssen für Freiberufler und Kleinunternehmerinnen im Kultursektor bereitgestellt.

Viele Künstlerund Kreative stehen jedoch weiterhin kurz vor dem Ruin: In Deutschland zum Beispiel können Bundesmittel nur zur Deckung von Geschäftskosten verwendet werden, nicht für persönliche Ausgaben wie Krankenversicherungsbeiträge oder Mieten für Wohnraum, sodass sie für viele Freiberufler keine große Hilfe sind. Eine von fast 300.000 Künstlerinnen und Künstlern unterzeichnete Petition warnte davor, dass die Kreativen „ohnehin am Rand des Existenzminimums“ leben, aber „durch die derzeitige massenhafte Absage von Veranstaltungen drohen sie über diesen Rand gestoßen zu werden“. Ihr Fazit lautet: „Die Gesellschaft mag für einige Zeit auf kulturelles Leben verzichten können, aber tut sie es zu lang, könnte am Ende niemand mehr da sein, der es wiederaufleben lassen könnte. Deshalb: Vergesst die Kunstszene und die Freiberufler nicht!“

Doch wie wird die Kreativszene nach der Corona-Krise aussehen? Bislang gibt es keine konkreten Antworten. Klar ist, dass die Branche inzwischen neue Formate entwickelt hat, die zwar einfallsreich, aber finanziell nicht tragfähig sind. Viel kreativer Output wurde auf Online-Kanäle umgelenkt, wobei Filme, Theaterstücke und Kurse oft kostenlos oder zu einem niedrigen Preis angeboten werden. Nach der Wiedereröffnung sind die Kartenverkäufe in den Theatern und Kinos aufgrund der notwendigen Abstandsregeln in den Sälen stark zurückgegangen. Großveranstaltungen und Festivals bleiben verboten.

Aber auch das künstlerische Schaffen hat sich über Nacht verlagert: Es verarbeitet nunmehr eine Gesellschaft im Wandel und bildet diese ab, was auf die Anpassungsfähigkeit dieses lebenswichtigen Sektors hindeutet. Man nehme nur das Teatro Real in Madrid, das kürzlich eine modifizierte Version von Verdis „La Traviata“ mit den entsprechenden Abstandsregeln und Darstellerinnen mit OP-Masken uraufgeführt hat. Solange es möglich ist, den Spielbetrieb fortzusetzen, werden Europas Kreative weiter kreativ sein.

 

JESS SMEE ist Redakteurin bei Kulturaustausch.