Weltatlas

Karten ohne Klischee?

Weg vom eurozentrischen Blick: Das verspricht ein neuer historischer Weltatlas – und hält beinahe Wort

Ausschnitt der Karte mit Nord- und Südamerika sowie einem Teil Europas

Die Geschichte der Welt – von der Verbreitung des Homo sapiens bis zum Arabischen Frühling –  möchte der Atlas von Christian Grataloup seinen Leserinnen und Lesern als Kartenwerk näherbringen. Der französische Autor, emeritierter Professor für Geografiegeschichte und hierzulande durch sein Buch „Die Erfindung der Kontinente“ bekannt, präsentiert auf fast 600 Seiten jedoch nicht nur beinahe 500 optisch ansprechende Karten, sondern auch knappe Texteinführungen zum jeweiligen Geschehen.

Darüber hinaus sind die Karten untereinander vernetzt, und verweisen auf andere, die ähnliche Themen behandeln. So lässt sich das chronologisch angelegte Werk nicht nur in zeitlicher Abfolge, sondern auch thematisch lesen. Es ist ein Werk, das man immer wieder zur Hand nehmen mag, um sich über Raumkonstruktionen und geografische Zusammenhänge im Verlauf der Zeit zu informieren.

Die Karten des zuerst in Frankreich erschienenen Bandes entstammen zum großen Teil der Zeitschrift „L’Histoire“ und wurden für die erneute Publikation überarbeitet und visuell vereinheitlicht. Sie weichen zum Teil von der etablierten Perspektive ab und setzen – so wie im Fall einer Karte zur Globalisierung um 1900 – die Vormachtstellung Europas und der USA eindrücklich in Szene.
 

„Grataloup präsentiert Weltgeschichte im klassischen Stil: Sie umspannt zwar die ganze Welt. Am Ende kehrt sie jedoch stets nach Europa zurück“

Dies bedeutet allerdings nicht, dass Europa nicht weiterhin grafisch und inhaltlich im Mittelpunkt stünde. Zwar ist Grataloup nicht der bekannten, häufig als eurozentrisch kritisierten Epocheneinteilung in Ur- und Frühgeschichte, Antike, Mittelalter und Neuzeit gefolgt, sondern hat das Buch in 13 Kapiteln angeordnet, von denen sich der Hauptteil ab Kapitel Sechs mit der Neuzeit beschäftigt.

So kann er die Geschichte der Neuzeit in der gebotenen Feinteilung darstellen.Einer eurozentristischen Darstellung entkommt er so jedoch nicht, denn Europa wird ab 1500 zum zentralen Bezugspunkt des Bandes. Das zeigt sich nicht nur in der inhaltlichen Struktur des Werks, sondern auch in den einzelnen Karten: Europa ist der Bezugspunkt für den „Rest der Welt“. Von diesem Kontinent gehen alle Bewegungen aus und seine Entwicklung wird besonders ausführlich geschildert.

Grataloup präsentiert Weltgeschichte damit im klassischen Stil: Sie umspannt zwar die ganze Welt und wird durch einen Schuss „Big History“ – etwa in Form der Besiedlung der Erde durch den Homo sapiens in Kapitel Eins – aufgefrischt.

Am Ende kehrt sie jedoch stets nach Europa zurück. Besonders interessant sind daher die ersten fünf Kapitel, in denen diese „Europäisierung der Welt“ weitaus weniger stattfindet und auch die politische Geschichte und damit territoriale Veränderungen durch Kriege, die in späteren Kapiteln immer mehr Gewicht bekommen, noch nicht im Mittelpunkt stehen.

„Besonders eindrücklich sind derweil andere Karten wie jene zu den „Klimatischen Veränderungen“, die Auswirkungen des Klimawandels nachzeichnen“

Diese zweite Schwerpunktsetzung ist bedauerlich, da es doch gerade Karten wie „Die Domestizierung von Pflanzen und Tieren“ und „Der Schwarze Tod“ oder Visualisierungen der gelehrten Gesellschaften des 18. Jahrhunderts sind, die unsere Perspektive auf die räumlichen Verflechtungen der Welt erweitern. Stattdessen gibt auch Grataloup den neuzeitlichen Kriegen und meist bekannten Schlachten viel, zuweilen zu viel Raum.

Besonders eindrücklich sind derweil andere Karten wie jene zu den „Klimatischen Veränderungen“, die lokale und regionale Auswirkungen des Klimawandels nachzeichnen. Von der Zerstörung von Ressourcen über die Zunahme von extremen Wetterereignissen und den Anstieg des Meeresspiegels bis hin zu Zonen geschmolzener Permafrostböden verdichten sie aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse.

Andere eindrückliche Karten stellen dar, wie der Erste Weltkrieg durch Soldaten und Ressourcen aus den Kolonien sowie durch assoziierte Mächte zu einem Weltkrieg wurde und wie Züge und Schienen im Zeitalter der Industrialisierung erstmals Europa vernetzten. Die Breite der Schienennetze zeigt den Betrachterinnen dabei an, wie früh ein Gebiet verkehrstechnisch erschlossen war.

Vergleichen kann man diese Verkehrswege dann über das Verweissystem des Atlanten mit jenen der europäischen Händler und Kaufleute im 13. Jahrhundert oder mit denen der Hanse. Diese Vergleichsmöglichkeiten sind eine große Stärke des Werkes.

An anderer Stelle hingegen bleibt der Atlas weit hinter seinen grafischen Möglichkeiten zurück, zum Beispiel bei der Darstellung des subsaharischen Sklavenhandels zwischen dem 7. und dem 19. Jahrhundert. Zwar wird hier gezeigt, von wo Menschen verschleppt wurden.

„Stark ist der Band immer dort, wo er die ausgetretenen Pfade der Weltgeschichte verlässt und visuell verdeutlicht“

Die ökonomischen Verflechtungen der Sklaverei mit der Kolonialwirtschaft werden jedoch nicht dargestellt, etwa wie die Arbeit der Verschleppten auf den Zuckerplantagen in der Karibik und auf den Baumwollplantagen in den USA die Exporte ankurbelten. Und überhaupt würde man sich insgesamt eine detailliertere Auseinandersetzung mit dem afrikanischen Kontinent wünschen– auch abseits der vormals französischen Kolonien.

Im Anschluss an das Vorwort des Historikers Patrick Boucheron, der den Atlas mit der Bemerkung „Die Geschichte geht weiter“ als nicht abgeschlossen kennzeichnet, könnte man diesen deshalb abschließend so würdigen: Die Geschichte der Welt, die Globalgeschichte, geht nicht nur weiter, sie ist widersprüchlicher und komplexer, als dieser Atlas uns an vielen Stellen Glauben macht.

Stark ist der Band immer dort, wo er die ausgetretenen Pfade der Weltgeschichte verlässt und visuell verdeutlicht, wie weltweite Verflechtungen auch abseits von Europa vonstatten gingen – und welche Räume sich dabei auftaten. Schon deshalb lohnt sich die Lektüre.

„Die Geschichte der Welt. Ein Atlas“. Von Christian Grataloup. C. H. Beck, München, 2022.