Informelles Wohnen | Forschung

Wie entstehen Slums und informelle Siedlungen?

Slums und informelle Siedlungen sind mit Klischees und Stigmata behaftet. Höchste Zeit aufzuklären

Was ist ein Slum? Der Begriff hat seinen Ursprung im London von Charles Dickens und bezog sich dort auf die Behausungen der Arbeiterklasse mit schlechter Beleuchtung und Belüftung, die dem Verfall überlassen wurden, sodass sich unzumutbare Verhältnisse entwickelten. War im viktorianischen England ein Gebiet erst einmal als „Slum“ eingestuft, konnte es im Rahmen entsprechender Programme als Elendsviertel beseitigt werden, oft ohne dass die Betroffenen auf Ersatzquartiere hoffen durften. Seit dieser Zeit ist das Wort „Slum“ mit negativen Assoziationen verbunden. 

Bei sogenannten informellen Siedlungen hingegen handelt es sich, etwas allgemeiner, um Gebiete, in denen einkommensschwache Menschen leben und die sich ohne amtliche Stadtplanung und offizielle Verwaltung entwickeln. Oft wohnen die Menschen dort in Verschlägen, von denen ein Bulldozer, wenn behördlich etwa eine Räumung angeordnet wird, nur einen Haufen Holz übriglässt. 

Diese Siedlungen sind besonders anfällig bei Extremwetterereignissen aufgrund des Klimawandels, also Überschwemmungen oder auch Bränden, wie sie während Dürreperioden vermehrt auftreten. In vielen Fällen von Geflüchteten und Migranten gegründet, durchlaufen solche Viertel häufig einen Transformationsprozess. Mit der Zeit entwickeln sich beständige Strukturen. Irgendwann dienen neben Holz auch Ziegelsteine oder Beton als Baumaterialien; dabei wachsen die Siedlungen manchmal auch steile Abhänge hinauf, wie die Favelas in Brasilien. 

In Südafrika sind sogenannte „Shanty Towns“ in Zeiten der Apartheid entstanden und für große Teile der Mittelschicht unsichtbar geblieben – obwohl schätzungsweise 24  Prozent der Stadtbevölkerung dort leben. Auch in vielen anderen Ländern, etwa in Afrika und Lateinamerika, führten kolonialistische Strukturen dazu, dass segregierte Stadtteile und somit Parallelgesellschaften in formellen und informellen Vierteln entstanden. 

Seit der Zeit von Charles Dickens ist das Wort »Slum« mit negativen Assoziationen verbunden

Anfang der 2000er Jahre entwickelten die UN die sogenannten Nachhaltigkeitsziele, darunter das Ziel Nummer elf „Nachhaltige Städte und Gemeinden“. Dabei wird der Begriff „Slum“ durch zahlreiche Faktoren wie den Mangel an Wasser- und Sanitärversorgung, Wohnqualität, Lage, Verdichtung und Bestandssicherheit definiert. Demnach können darunter sowohl informelle Siedlungen als auch heruntergekommener Wohnraum wie etwa eine Ansammlung alternder Mietshäuser in Innenstädten fallen. 

Zudem hat das Programm der Vereinten Nationen für menschliche Siedlungen, UN-Habitat,  anerkannt, dass der Begriff je nach Region Unterschiedliches bedeuten kann. In Ländern wie Kenia und Indien werden die Bezeichnungen „Slum“ und „informelle Siedlung“ zum Beispiel oft synonym verwendet. Obwohl die Formulierung des Ziels Slums und informelle Siedlungen eigentlich destigmatisieren sollte, brachte der Slogan „Cities Without Slums“, mit dem das Nachhaltigkeitsziel elf offiziell verknüpft wurde, die Viertel unmittelbar in Zusammenhang mit etwas Unerwünschtem, das es zu beseitigen gelte. 

Einige Staaten wie Indien und Kenia fühlten sich dadurch ermutigt, entsprechende Behausungen abzureißen. Sie entwickelten kostspielige Umsiedlungspläne, die wenig zielgenau oder qualitativ so schlecht waren, dass man schon bald wieder von slumartigen Verhältnissen sprechen musste. In Südafrika wurde das Projekt der Slumbeseitigung sogar in einer Gesetzgebung verankert, wobei diese verfassungswidrig war und auch vor dem höchsten Gericht des Landes angefochten wurde. Mehr Slums denn je wurden im Vorfeld der Fußball-WM 2010, die in Südafrika stattfand, beseitigt. Noch schlimmer war es vier Jahre später bei der WM in Brasilien. 

„Informelle Siedlungen“ und „Slums“: Upgrading vs. Abschaffung

Über die Definition der Begriffe „Slum“ und „informelle Siedlung“ wird weiter leidenschaftlich gestritten. Dabei bekommen die Bewohnerinnen und Bewohner keine Anerkennung dafür, dass sie ihre inoffiziellen, aber bewusst entwickelten Gemeinwesen schrittweise voranbringen. Die meisten Menschen, die in solchen Gemeinschaften leben, werden sich selbst überlassen und müssen ihre extrem begrenzten Ressourcen fast vollständig dazu nutzen, sich ein eigenes Zuhause zu schaffen. Dabei entwickeln sie oft kreative Lösungen, um beispielsweise mit begrenztem Platz auszukommen. Eine der größten Herausforderungen besteht in allen Kulturkreisen darin, in einem einzigen Raum eine Familie großzuziehen. Viele, die über die nötigen Mittel verfügen, erweitern nach Möglichkeit die eigene Behausung um ein zweites Zimmer und vermieten es, weil feste Einkünfte oft eine höhere Priorität haben als die Privatsphäre. 

2015 beschlossen die Vereinten Nationen einen differenzierteren Katalog von Zielen, die bis 2030 erreicht werden sollen. Inzwischen beginnt die Liste des Nachhaltigkeitsziels elf mit zwei Forderungen: Bis 2030 soll zum einen jeder Mensch Zugang zu angemessenem, bezahlbarem und sicherem Wohnraum inklusive Grundversorgung haben; zum anderen sollen Slums nicht abgerissen, sondern saniert werden. 

Die Menschen entwickeln kreative Lösungen für begrenzte Ressourcen

2004 startete Südafrika das Programm „Upgrading of Informal Settlements“. Man wollte in informellen Siedlungen bessere Verhältnisse schaffen, statt sie einfach ersatzlos zu beseitigen. Auch eine Umsiedlung sollte nur als letztes Mittel infrage kommen. Weiterhin sah das Programm die Lockerung von Planungsvorschriften vor, die Förderung alternativer Formen von Grundbesitz und neue Vorgehensweisen bei der Bereitstellung grundlegender Infrastrukturen. 

Doch da viele kommunale Planungsbehörden meinten, die bestehende Gesetzeslage lasse diese innovativen Lösungen nicht zu, wurde fast nichts davon realisiert. Stattdessen ersetzte man viele informelle durch konventionelle Siedlungen. Dabei wurden viele Bewohnerinnen und Bewohner verdrängt. Wir lernen daraus: Planungsvorhaben und die Transformation informeller Siedlungen sollten nicht getrennt voneinander vorangetrieben werden. Komplexe juristische Prozesse im Zusammenhang mit Grundbesitz und Flächennutzung müssen vereinfacht werden. Dies muss mit einer Erneuerung der Infrastruktur einhergehen, die ein flexibles Agieren ermöglicht. 

Doch Bemühungen um Veränderung werden oft von Akteuren blockiert, die ein Interesse daran haben, dass alles beim Alten bleibt: Wenn in informellen Siedlungen zum Beispiel immer mehr Wohnraum vermietet wird, sind die treibende Kraft dahinter oftmals Grundstücksbesitzer, die sich Regelungs- und Gesetzeslücken zunutze machen. 

Die informellen Siedlungen und die formelle Stadt sind aufeinander angewiesen

Zugleich ziehen verstärkt Migranten in die Viertel, die auf der Suche nach Wohnraum wenige Optionen haben. Eine erhöhte Bevölkerungsdichte kann einen Ort zwar wirtschaftlich und kulturell beleben, aber auch dazu führen, dass sich die Lebensqualität deutlich verschlechtert. Zum Teil profitieren auch Unternehmen von temporären Dienstleistungen, die sie in informellen Siedlungen erbringen. In Südafrika beauftragen manche Kommunen zum Beispiel Firmen mit der Lieferung teurer Chemietoiletten. Sobald die betreffenden Siedlungen saniert würden und eine feste Infrastruktur bekämen, wäre es mit vielen dieser lukrativen Aufträge vorbei. 

Diese Dynamiken zeigen deutlich: Die informellen Siedlungen und die formelle Stadt sind aufeinander angewiesen. In der Stadt werden billige Arbeitskräfte benötigt – etwa für die Bewachung von Parkplätzen, für kurzfristige Baumaßnahmen oder Modernisierungsarbeiten in privaten Haushalten. Die hohe Arbeitslosigkeit und der fehlende Zugang zu legalen oder besser bezahlten Tätigkeiten führen dazu, dass diese Aufgaben – für viel zu wenig Geld – im Rahmen von Schwarzarbeit von Menschen übernommen werden, die in informellen Siedlungen der näheren Umgebung leben. 

Weitere Erwerbsmöglichkeiten schafft die formelle Stadt durch ihre verschwenderische Abfallproduktion. Prominente Beispiele sind das Sortieren und Wiederverwerten von Haushaltsmüll, die für viele Bewohnerinnen und Bewohner informeller Siedlungen die einzige Einkommensquelle sind. Das berüchtigtste Beispiel dürfte die sogenannte „Garbage City“ Manschiyyet Nasser in Kairo sein; ein anderes ist Johannesburg, wo im Zuge der Umwandlung von Barackensiedlungen in Betonsiedlungen illegal entsorgter Baustellenschutt verwertet wird. Diese Wechselbeziehungen werden von den Behörden oft wegdiskutiert und wissentlich ignoriert oder – schlimmer noch  – durch Umsiedlungsprogramme zerstört.

Veränderungen werden von Akteuren blockiert, die ein Interesse daran haben, dass alles beim Alten bleibt

Stattdessen müssten sie in Programme zur Veränderung des Status quo integriert werden, damit solche empfindlichen Existenzgrundlagen nicht zerstört und die Slumbewohner nicht noch stärker gefährdet werden. Erfolgreiche Konzepte sind zum Beispiel die Einbindung von Arbeitsvermittlungsstellen, wie sie in Brasilien schon in den frühen 2000er-Jahren im Rahmen von Favela-Sanierungsprogrammen erprobt wurden. Dort kooperierten professionelle Sozialarbeiterinnen und -arbeiter mit Favela-Bewohnern; man bildete spezielle Teams, die für die Entwicklung und Steuerung der Projekte zuständig waren. 

So ließen sich die Maßnahmen zielgenau auf konkrete Probleme und die Gegebenheiten vor Ort zuschneiden – von Gesundheit und Bildung über Beschäftigung bis hin zu bautechnischen Fragen. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Beteiligung von Frauen und Kindern. In Tansania und Südafrika etwa übernehmen in manchen informellen Siedlungen Frauen Führungsaufgaben. In Gruppen organisieren sie zum Beispiel Sanierungsarbeiten an Häusern. Der aussichtsreichste Weg, die Lebensverhältnisse in Slums und informellen Siedlungen zu verbessern, sind Bottom-up-Initiativen, in denen die Menschen, die dort leben, selbst Lösungen erarbeiten. Sie gilt es zu unterstützen und zu fördern – auch vonseiten der Behörden. 

Übersetzt von Andreas Bredenfeld