„Gemeinsam können wir den Kampf gegen die Autokraten gewinnen“

Ece Temelkuran setzt Hoffnung in die revolutionäre Jugend in der Türkei
Foto: IMAGO / ZUMA Press Wire
Das Interview führte Ruben Donsbach
Hunderttausende sind in den größten Städten der Türkei auf die Straße gegangen, um gegen die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu zu protestieren. Erleben wir gerade einen neuen Gezi-Moment?
Die Menschen wirken noch entschlossener als im Jahr 2013. Ihre politischen Ziele sind konkreter, obwohl die Demokratie in der Türkei seitdem noch weiter eingeschränkt wurde und aktuell besonders brutal gegen Demonstrierende vorgegangen wird. Sie kämpfen, obwohl diesmal weder Europa noch die USA ihre Unterstützung signalisieren.
Was gibt Ihnen Hoffnung?
Ich glaube, dass wir einen historischen Moment erleben. Die politischen Entscheidungsträger in Europa und den Vereinigten Staaten sollten ihre Haltung überdenken. Denn es könnte gut sein, dass bald jemand anderes an die Macht kommt, eine neue demokratisch gewählte Regierung – und dann müssen sie all die unmoralischen Deals, die sie mit Erdoğan abgeschlossen haben, neu verhandeln.
Warum glauben Sie, dass das Regime kurz vor dem Sturz steht?
Erstens – und das ist nur halb ein Scherz – weil es die Astrologen sagen.
Ernsthaft?
(Lacht) Ja, warten Sie ab. In der Türkei ist die häufigste Frage an Astrologen: „Wie entwickelt sich das politische Klima?“ Diese Astrologen treten im Fernsehen auf und erreichen dort ein riesiges Publikum. Einer wurde nun verhaftet, weil er sagte: „Das Regime ist bald am Ende – die Sterne stehen so und so.“ Lange Zeit hätte sich niemand getraut, so etwas öffentlich zu sagen. Aber die Zeiten haben sich geändert, und das macht der Regierung offensichtlich Angst.
Woran zeigt sich das noch?
Man versucht panisch, die Proteste mit aller Macht zu unterdrücken. Immer mehr Menschen wird aber klar, wie brutal und absurd sich das Regime verhält – selbst manchen AKP-Wählern oder Anhängern des herrschenden Systems. Und die Leute machen da nicht mehr mit. Es ist vielen von ihnen inzwischen richtig peinlich, das zu unterstützen. Irgendwie hat sich in den Köpfen und Herzen der Menschen das Gefühl breitgemacht, dass Erdoğan die Kontrolle verloren hat. Das ist ein sicherer Indikator dafür, dass eine Veränderung unmittelbar bevorsteht.
„Ein großer Unterschied zu den Gezi-Protesten von 2013 ist, dass die Progressiven jetzt eine einflussreiche Organisation als Verbündeten haben: die CHP, die Gründungspartei der türkischen Republik, eine klassische sozialdemokratische Partei“
Hängt das auch damit zusammen, dass die Menschen sehen, wie brutal der Staat gegen junge Menschen, gegen die eigenen Kinder vorgeht?
Absolut. Junge Menschen in der Türkei waren lange nicht politisiert oder organisiert, einfach weil sie alle Hoffnung verloren hatten. Jetzt aber ist einer der beliebtesten Slogans auf den Demonstrationen: „Wenn wir brennen, dann brennt ihr mit uns.“
Das Regime hat aber immer noch Kontrolle über die politischen Institutionen und über Einrichtungen der Zivilgesellschaft. Wie kann es abgelöst werden?
Ein großer Unterschied zu den Gezi-Protesten von 2013 ist, dass die Progressiven jetzt eine einflussreiche Organisation als Verbündeten haben: die CHP, die Gründungspartei der türkischen Republik, eine klassische sozialdemokratische Partei. Ekrem İmamoğlu ist die Integrationsfigur dieser Partei. Lange war die CHP dysfunktional, aber jetzt hat eine neue Politikergeneration sie für junge Menschen geöffnet. Irgendwie haben sich Straßenprotest und Partei sozusagen miteinander verbunden, ohne dass die CHP ihre traditionelle Bedeutung verloren hätte.
Wie war das möglich?
Das war eines der Argumente in meinem Buch „Wille & Würde – Zehn Wege in eine bessere Gegenwart“ (2022). Ich schrieb darin: Der Ausweg aus der aktuellen politischen Misere sei möglich, wenn „Schiffswracks zu Riffen werden.“
Was meinten Sie damit?
Viele etablierte Parteien in der Türkei sahen irgendwann wie Wracks aus, bloße Metallskelette, die auf dem Meeresgrund liegen. Doch dann siedelten sich Fische und anderes Leben daran an, und das Wrack wurde mit der Zeit zu einem lebendigen Riff. Genau das passiert gerade in der Türkei: Die Jugend macht aus der altmodischen CHP ein politisches Lebewesen. Und das ist der spannende Teil, den man in Europa und den USA beachten sollte.
"Die Erinnerung an den Holocaust und der Krieg in Gaza stehen in einem riesigen moralischen Spannungsverhältnis zueinander"
In den USA haben es die Demokraten in den letzten Jahrzehnten nicht geschafft, progressive Jugendbewegungen in die Partei einzubinden – bzw. Versuche, dies zu tun, haben eher zur Spaltung der Partei beigetragen. In Deutschland waren es nicht die SPD oder die Grünen, die den jungen Aktivistinnen und Aktivisten Zuflucht boten, sondern die Linke. Inwiefern macht es die CHP, eine klassische sozialdemokratische Partei, besser?
Als Olaf Scholz zu den antifaschistisch motivierten Kundgebungen befragt wurde, die in Deutschland als Prostest gegen die Kooperation von CDU und AfD im Bundestag organisiert wurden, sagte er nur: Vielen Dank. Das war’s. Er hat diese neuen Initiativen nicht wirklich willkommen geheißen, keine Verbindung zu ihnen aufgebaut. So sterben politische Parteien. So übernehmen Faschisten die Macht.
Auch der Krieg in Gaza hat viele junge Menschen in Deutschland politisiert, doch viele fühlen sich von der etablierten Politik nicht vertreten.
Dafür gibt es in eurem Land einen bestimmten Grund – und der ist bekannt. Die Erinnerung an den Holocaust und der Krieg in Gaza stehen in einem riesigen moralischen Spannungsverhältnis zueinander. Doch wenn dieser Konflikt nicht gelöst wird und die Linke sich nicht vereint, dann sage ich: „Viel Glück, Deutschland.“
Zurück zur Türkei: Worum geht es bei den Protesten im Kern?
Es gibt zunächst eine globale Perspektive, die man verstehen muss. Nach dem 11. September 2001 trieben der Westen – vor allem die USA – zusammen mit türkischen und arabischen Intellektuellen das Projekt des „politischen Islams“ voran. Gemeint war eine milde Form von Islam, kombiniert mit freier Marktwirtschaft und etwas Demokratie. Die Idee war: „Geben wir diesen muslimischen Ländern einen islamisch eingefärbten ideologischen Rahmen, damit sie keine Selbstmordattentäter werden.“ So einfach war das. Eine Demokratie bon pour l’Orient. Für die Türkei war Erdoğan der perfekte Kandidat, um dieses Programm umzusetzen. Es ist kein Geheimnis, dass viele der weltweit mächtigsten Entscheidungsträger, einschließlich Barack Obama, seine Präsidentschaft bejubelten. Sie machten ihn zu einer global als relevant wahrgenommenen Figur – weil er zur richtigen Zeit den richtigen Ton traf.
Aber das war doch nicht neu, oder?
Doch, schon. Die Türkei war immer konservativ, aber nie islamistisch. In vielen arabischen Ländern hat die Religion eine tiefgreifende Bedeutung und einen umfassenden Einfluss auf den Alltag der Menschen, in der Türkei nicht. Ich komme aus einer sehr säkularen Familie aus İzmir, der säkularsten Stadt in der Türkei, aber das gilt mehr oder weniger für das ganze Land: Die Türkei war, bis Erdoğan kam, Atatürks Land. Die Modernisierung und Säkularisierung, die Atatürk von Staats wegen durchsetzte, prägen unsere nationale Identität bis heute. Die Türkei will nicht das islamistische Land sein, das Erdoğan seinen Anhängern verspricht. Und so trifft dieses Projekt des politischen Islams, das überall sonst gescheitert ist, nun auch in der Türkei auf starken Widerstand.
"Da entwickelt sich gerade eine eigenständige politische Kultur. Etwas wie eine globale 'Cloud-Kultur'. Man kann ihr Wachstum von den Protesten 2001 in Porto Alegre während des Weltsozialforums über den Arabischen Frühling bis hin zu Gezi nachverfolgen"
Und was befeuert gerade jetzt diese umfassenden Proteste?
Der aktuelle Anlass ist die eskalierende Wirtschaftskrise in Kombination mit einer politischen Repression, die inzwischen geradezu absurde Ausmaße angenommen hat. So wurden zum Beispiel viele private Streaming-Plattformen für Serien und Filme zensiert oder ganz geschlossen. Das erinnert stark an das iranische Regime und ist ein Eingriff in die privatesten, persönlichsten Bereiche des Lebens. Vielen Menschen in der Türkei ist das einfach zu viel geworden.
Würden Sie sagen, dass die jungen Menschen in der Türkei, die jetzt protestieren, dabei spezifisch durch die westliche Kultur beeinflusst sind, durch einen westlichen Lebensstil?
Nein. Ich denke, da entwickelt sich gerade eine eigenständige politische Kultur. Etwas wie eine globale „Cloud-Kultur“. Man kann ihr Wachstum von den Protesten 2001 in Porto Alegre während des Weltsozialforums über den Arabischen Frühling bis hin zu Gezi nachverfolgen. Etwas wird an einem Ort in die Erde eingesetzt und schlägt Wurzeln, und dann taucht es auch an einem anderen Ort auf und wird zu einer neuen, ganz eigenen Pflanze oder Vegetation. Zwischen den Erscheinungen liegen oft Jahre, man sieht sie nicht, aber sie sind immer da. Nun schafft die türkische Jugend ihre eigene Protestkultur, die wiederum andere beeinflussen könnte.
Sie haben gesagt, es gebe einen Wendepunkt, der Wind drehe sich. Versuchen wir einmal, Astrologinnen zu sein. Was wird als Nächstes passieren?
Wenn genug politischer Druck von unten, also vom Volk, entsteht und Europa ein wenig mehr Unterstützung zeigt, könnte es in der Türkei bald zu vorgezogenen Neuwahlen kommen. Und dann könnte Ekrem İmamoğlu Präsident werden.
Wird das Militär das nicht verhindern?
Ein Militär als Machtfaktor wie zu früheren Zeiten gibt es nicht mehr. Nach dem gescheiterten Putschversuch gegen Erdoğan im Jahr 2016 hat das Militär stark an Einfluss verloren.
"wir müssen mit der Illusion aufräumen, dass der Faschismus verschwinden wird, wenn wir uns einfach hinter zentristischen Parteien versammeln. Nein, das wird er nicht. Es wird schlimmer werden"
Sie haben ein Buch mit dem Titel „Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder Sieben Schritte in die Diktatur“ geschrieben. Könnte es sein, dass die Türkei nun diese Schritte rückwärts durchläuft?
Vor ein paar Tagen hat Özgür Özel, der Vorsitzende der CHP, bei einer Kundgebung vor Tausenden von Menschen gesagt, dass ein neues Buch geschrieben werden müsse: Wie man ein Land zurückgewinnt.
Werden Sie dieses Buch schreiben?
Nein, ich kann dieses Buch nicht schreiben, denn es ist ein kollektives Werk. Alles, was ich sagen kann, ist: Wir müssen erkennen, dass diese Bewegung ein globales Phänomen ist, also brauchen wir weltweite Solidarität. Gemeinsam können wir den Kampf gegen die Autokraten gewinnen.
Könnte es eine Situation geben, in der die Türkei demokratischer ist als Länder wie Deutschland oder die USA, wo derzeit die extreme Rechte bei Wahlen Erfolge feiert?
Ich würde sagen: nein. Aber wir müssen mit der Illusion aufräumen, dass der Faschismus verschwinden wird, wenn wir uns einfach hinter zentristischen Parteien versammeln. Nein, das wird er nicht. Es wird schlimmer werden. Und wir werden kostbare Zeit damit verschwenden, in der Defensive zu sein und zu versuchen, die Menschen irgendwie von der extremen Rechten zurück zur Mitte zu holen – anstatt aktiv für den Ausbau der Demokratie und die Weiterentwicklung entsprechender Werte zu kämpfen.
Was brauchen wir also? Was können wir von der türkischen Jugend lernen?
Was wir brauchen, sind Klarheit und Entschlossenheit. Das sind die zwei wichtigsten Dinge. Klarheit bedeutet, zu erkennen, dass wir es mit echtem Faschismus zu tun haben. Wir sind in die gefährliche Situation geraten, weil wir nicht progressiv genug waren – weil wir es nicht geschafft haben, dafür zu sorgen, dass in unseren Ländern echte Gleichheit, Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit gegeben sind.
Und Entschlossenheit?
Ganz einfach: Wir haben erkannt, dass dies Faschismus ist. Wir wissen, was zu tun ist. Also tun wir es. Easy-peasy.
Eine letzte Frage: Wenn sich der Wind wirklich dreht und die Türkei ein anderes Land wird, würden Sie dann dorthin zurückkehren wollen?
Wenn man sein Land verlässt, verändert sich das Ortsgefühl auf dramatische Weise: Das Irgendwo wird zum Nirgendwo.
Was meinen Sie damit?
Es ist eine ganz eigene Art von Gleichgültigkeit, die man gegenüber Zeit und Raum entwickelt. In diesem Sinne weiß ich jetzt, dass es keine Rückkehr nach Hause geben kann, denn das Zuhause, wie ich es kannte, existiert für mich nicht mehr. Aber natürlich würde es mich sehr freuen, wenn ich wieder ohne Angst in meine alte Heimat reisen könnte.