Kunst für alle, von allen

Die Straßenproteste in Belarus waren kreativ, farbenfroh und rotzfrech. Sie bezogen ihre Kraft nicht zuletzt aus einer ganzen Generation kritischer Künstler vor ihnen

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von Aliaxey Talstou

 

Die Straßenproteste im Sommer und Herbst 2020 waren enorm farbenfroh und strotzten vor Kreativität. Ein regelrechtes Feuerwerk persönlicher Meinungen und ungehemmten Selbstausdrucks brach sich Bahn, entfacht von einem neuem Optimismus. Leuchtende Plakate und Installationen zeigten die Vielzahl hoffnungsvoller Bürgerstimmen. Auch auf die Kunstszene hatten die Ereignisse einen vitalisierenden Effekt. Viele Künstler:innen suchten nach Möglichkeiten, der Bewegung ihre Form des künstlerischen Ausdrucks zugutekommen zu lassen. Welche Rolle spielte die zeitgenössische belarussische Kunst im Rahmen der Proteste?

Die Ereignisse in Belarus 2020 brachten eine Phase des politischen Aktivismus, wie man sie im Lande schon lange nicht mehr gesehen hatte. Die Festnahmen der populärsten Präsidentschaftskandidaten Sergej Tichanowski und Viktor Babariko im Mai und Juni setzten den Ton für den gesamten Wahlkampf. Es war offensichtlich, dass Machthaber Alexander Lukaschenko keine Absicht hatte, sich zurückzuziehen. Gleichzeitig war das politische Engagement der Bürger:innen mittlerweile so groß, dass eine selbstorganisierte Bewegung zum Sturz der Regierung entstand. Als Swetlana Tichanowskaja zur vielversprechendsten Gegenkandidatin aufstieg, obwohl sie über keinerlei Erfahrung im Zusammenhang mit politischen Ämtern verfügte, schöpften viele Hoffnung. Diese Entwicklung schien zu zeigen, dass nunmehr die Protestierenden am Zug waren. Die Wahlbeteiligung war sehr hoch. Der Wahltag und die Proteste, die ihm folgen sollten, veränderten das Land und führten es in eine tiefe politische Krise, da das Regime den Protesten schon bald mit Unterdrückung und Terror begegnete. Die Situation eskalierte.

Über die Rolle der Kunst dachte im Eifer des Gefechts niemand nach. Aber bereits vor der Wahl hatten Künstler:innen ihre Solidarität zum Ausdruck gebracht und sich Projekten gewidmet, bei denen sie die Interessen der Bewegung über ihre eigenen gestellt hatten. In diesem Zusammenhang entstand zum Beispiel das Projekt cultprotest.me. Es handelte sich um eine Art virtuellen Lagerraum für Bilder, die online wie offline für Plakate und Flyer genutzt werden konnten. Viele Künstler:innen engagierten sich politisch, beispielsweise durch Artikel, Essays oder auch fotojournalistisch. Während der ersten Protestwochen schlossen sich viele Künstlergruppen den Straßenprotesten und den Streiks an. So kam es in Minsk in der Nähe der Nationalen Philharmonie, dem Palast der Künste, der Kunstakademie und dem Janka-Kupala-Nationaltheater zu wichtigen Aktionen. (Das Theater reagierte darauf mit der Entlassung von  58 Schauspieler:innen und Mitarbeiter:innen.)

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Die Welle von Polizeigewalt, die in den drei Tagen vor der Wahl über das Land rollte, schaffte es nicht, die Proteste zum Verstummen zu bringen. Im Gegenteil: Am 16. August 2020 gingen im ganzen Land mehrere Hunderttausend Bürger:innen auf die Straße. Viele trugen selbstgestaltete Plakate und Banner mit bunten Slogans und Bildern, wobei einige extrem direkt waren und andere mit beißender Satire aufwarteten. Und obwohl allen bewusst war, dass die Polizei mit Gewalt, Folter und Mord gegen die Bewegung vorging, war die Antwort der Protestierenden friedlich und von kreativem Optimismus geprägt. Die Spruchbänder machten sich jenseits jeder Höflichkeit hemmungslos über Lukaschenko lustig, wobei sie auch die Rhetorik der Regierung und die staatliche Propaganda aufgriffen. Um einige Beispiele zu nennen:

„Sascha, geh“ (Sascha ist die Kurzform für den Namen Alexander)

„Tribunal!“

„Kein Alk mehr für den alten Mann!“

„Ich bin Philologe, aber ich kann besser zählen“ (in Bezug auf die manipulierten Wahlen)

„Es ist so schlimm, dass sogar die Introvertierten auf die Straßen gehen“

„Und, wie fühlt sich das an?“ (so geschrieben, wie Lukaschenko es aussprechen würde)

Viele Slogans sind von außen nicht einfach zu verstehen – dafür braucht es Kontext. So waren beispielsweise die Sprüche „Junkies fürs Volk“ und „Prostituierte fürs Volk“ Reaktionen auf die stigmatisierenden Worte der Regierung, dass es sich bei den Protestierenden hauptsächlich um Drogensüchtige und Sexarbeiter:innen handle. Wo sich Regierung und Staatsmedien stereotyper Klischees und Hassreden bedienten, nahmen die Protestierenden diese Rhetorik und jene, die sie verbreiteten, direkt aufs Korn. Darüber hinaus waren zwar viele der Slogans auf Russisch, doch verwendeten sie leicht abgewandelte Zitate aus Popsongs, Sprichwörter oder geflügelte Worte, die in ganz Osteuropa leicht zu verstehen waren.


Die Macht der Bewegung war überraschend selbst für jene, die sich schon Jahre oder Jahrzehnte politisch oder sozial engagiert hatten. 


Diese Sprache wurde sehr wichtig für die Proteste. Schnell entstand eine Art Code, ein gemeinsames Vokabular, das leicht zu erkennen und anzuwenden war, sodass es bald nicht mehr nur bei den Straßenprotesten eine Rolle spielte. Vieles verbreitete sich viral in Form von Memes und einprägsamen Sprüchen, die unzählige Male geteilt und aufgegriffen wurden. Jenseits der Plakate, auf denen nicht nur Worte, sondern auch Zeichnungen und Collagen zu sehen waren, gab es jede Menge beweglicher Skulpturen, wie eine gigantische Kakerlake oder einen Sarg aus Pappe, der von einer Beerdigungsprozession begleitet wurde. Menschen trugen Kostüme und führten auf den Märschen Performances auf. Auch Musiker:innen spielten eine ganz besondere Rolle. Viele Teilnehmende sangen Lieder, die schon bald zu Hymnen wurden.

Viele Menschen verwendeten also künstlerische Formen des Ausdrucks, um Position zu beziehen. Dabei gab es natürlich große Unterschiede, was Können und die Originalität der einzelnen Beiträge anging. Doch im Großen und Ganzen gelang die Kommunikation – nicht nur im Hinblick auf die Kernaussagen der Bewegung, wie die Forderung nach fairen Wahlen, einem Ende der Polizeigewalt oder dem Rücktritt Lukaschenkos. Es wurde überdies auch deutlich, wie divers die Stimmen innerhalb der Protestbewegung waren. Das führte auch dazu, dass viele Menschen Zugang zu ihr fanden. Der künstlerische Ausdruck durch Worte und Bilder war elementar und sehr verständlich. Das geschriebene Wort begleitete das gesprochene, wenn Tausende von Menschen Slogans skandierten und dabei nicht nur ihren Forderungen kundtaten, sondern auch untereinander kommunizierten, sich mit Überzeugungen identifizierten und einander anfeuerten. Ihre Sprache war nicht nur politisch, sondern auch funktional, vermochte sie doch die Bewegung in all ihrer farbenfrohen Pluralität lebendig werden zu lassen.

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Die politische Mobilisierung des Jahres 2020 war ebenso besonders wie unerwartet. Am Anfang des Jahres konnte niemand vorhersehen, dass der Wahlkampf die schläfrige belarussische Gesellschaft mit einer solchen Wucht auf den Plan rufen würde. Ein Zeile aus einem Popsong wurde zu einem beliebten Slogan: „Vor dem Sommer kannten wir uns noch nicht.“ Die Macht der Bewegung war überraschend selbst für jene, die sich schon Jahre oder Jahrzehnte politisch oder sozial engagiert hatten. Das gilt auch für jene Künstler:innen, die sich schon seit geraumer Zeit mit politischen Themen befasst hatten.

Bereits in den 2010er-Jahren – als offener politischer Aktivismus gewaltsam unterdrückt wurde – waren Kunst und Kultur in Belarus wichtige Mittel im Kampf für den politischen Wandel. Einige Galerien und Projekträume, die mit regierungsunabhängigen Organisationen kooperierten, boten Nischen für politisch engagierte Kunst, in denen sie dank Fördergeldern von internationalen Stiftungen fortbestehen konnte. Die sogenannte „unabhängige Kultur“ der 2010er-Jahre umfasste aber nicht nur die bildenden Künste, Literatur und Theater, sondern auch die Kreativwirtschaft und die Unterhaltungsindustrie. Sie präsentierte ein alternatives Wertesystem, das sich gegen die staatliche Ideologie richtete.


Allein schon die aktive Rolle der Künstler:innen und ihre kritische Haltung zu bestimmten Themen war ein Zeugnis von politischer Subjektivität.


In den 2010er-Jahren brachten engagierte Künstler:innen ihre Botschaften vor allem durch Ausstellungen in die Öffentlichkeit, seltener auch in öffentlichen Performances. Die Ausstellungen drehten sich meist um Themen wie Menschenrechte, Feminismus oder Ökologie, wobei kritische Aussagen in künstlerische Arbeiten integriert wurden. Selbst wenn es sich nicht immer um eine direkte Kritik am Regime handelte, so war doch allein schon die aktive Rolle der Künstler:innen und ihre kritische Haltung zu bestimmten Themen ein Zeugnis von politischer Subjektivität. Nicht zuletzt dadurch hatten sie auch Vorbildcharakter für das Publikum. So wurde der Kampf für gesellschaftlichen Wandel durch seine Kennzeichnung als Kunst stark aufgewertet.

Künstler:innen, die sich an diesen Ausstellungen beteiligten, nutzten überdies oftmals neue Medien und andere innovative Ansätze. Auch dies verstärkte die Unterschiede zwischen politisch engagierten Künstler:innen und jenen, die sich an der akademischen belarussischen Kunst des 20. Jahrhunderts orientierten, in den Medien Malerei, Zeichnung und Skulptur arbeiteten und in staatlichen Institutionen ausstellten.

Jahrzehntelang war die aktionistische Praxis in der Öffentlichkeit ein Ausdruck von Mut und persönlichem Einsatz. Legendär wurde etwa eine Performance „Geschenk an den Präsidenten. Als Dank für fünf fruchtbare Jahre!” von Ales Puschkin (1999), für die der Künstler eine Karre voller Mist vor dem Sitz des Präsidenten auskippte, ein Bildnis des Präsidenten auf eine Mistgabel spießte und diese in den Misthaufen steckte. Diese Arbeit ist mittlerweile zum Klassiker geworden. Ebenso prägend war eine Reihe von Aktionen, die Michail Gulin im Zusammenhang mit seiner Arbeit „Ich bin kein…“ (2008) präsentierte. Er begab sich mit Plakaten auf die Straße, auf denen Sätze standen wie: „Ich bin kein Partisan“, „Ich bin kein Terrorist“, „Ich bin nicht schwul“, wobei er sich mit seiner Kleidung jeweils am entsprechenden Stereotyp orientierte.

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Nun aber – im Jahr 2020 – waren ähnliche Aktionen ein normaler Bestandteil des politischen Protests geworden. Viele Künstler:innen, die im vorangegangenen Jahrzehnt deutlich politische Position bezogen hatten, waren vom plötzlichen Aktivismus der breiten Bevölkerung überrascht. Das hat scheinbar eine gewisse Verwirrung in die Welt der zeitgenössischen Kunst gebracht. Es stellt die wichtige Frage in den Raum: Welchen Beitrag kann politisch engagierte Kunst in einer Zeit des massenhaften politischen Engagements leisten? Die gesellschaftliche Rolle der zeitgenössischen Kunst, ihr Status und ihre Praktiken mussten jetzt hinterfragt werden, denn plötzlich gingen die einzelnen künstlerischen Positionen in einer leuchtenden Vielfalt regelrecht unter. So luden zum Beispiel unbekannte Demonstrant:innen während einer Protestaktion anlässlich Lukaschenkos Geburtstag einen Pappsarg vor den anwesenden Sicherheitskräften ab.

Zunächst einmal widmeten sich Tausende Künstler:innen verstärkt diesem Kampf um politischen Wandel, und zwar auf den Straßen des Landes. Ein schönes Beispiel etwa war die Aktion der Künstlerin Ulyana Nevzorova mit dem Titel „Für dieses Poster könnte ich im Gefängnis landen” (2020). In einer Performance entrollte Künstlerin dieses Plakat während einer Fahrt mit der U-Bahn. Die Arbeit wurde im Rahmen mehrerer Ausstellungen gezeigt und in mehreren theoretischen Texten erwähnt, obwohl sich das Plakat selbst im Grunde kaum von den Tausenden Plakaten unterschied, die in diesen Tagen auf Demonstrationen zu sehen waren.


Die Künstler:innen, deren Werke bislang vor allem in Ausstellungen existierten, standen plötzlich Auge in Auge der Bereitschaftspolizei gegenüber.


Demonstrierende mit einem Plakat agieren unmittelbar politisch. Der politische Akt geschieht im Hier und Jetzt. Die Sprache des Plakates, des Bildes, der beweglichen Skulptur oder des Sprechgesangs konzentriert sich ganz auf die politische Forderung, auf den Akt der politischen Stellungnahme. Wenn jedoch später ein Video von einer Person mit demselben Plakat im Rahmen einer Ausstellung präsentiert wird, wird die Aktion zum Kunstwerk. Sie bekommt einen besonderen Wert und eine Bedeutung zugeschrieben, und ist damit gleichzeitig kaum noch als politischer Aktivismus zu bezeichnen, sondern als dessen Repräsentation in einem anderen Kontext. Die Fragen, die sich hier aufdrängen, lauten: Wann wurden aus Protestierenden Künstler:innen? War die Teilnahme an einer Demonstration von Anfang an ein Kunstwerk? Können Nicht-Künstler:innen auf diese Art und Weise ebenfalls Kunst präsentieren?

Das interessanteste an der Protestkunst besteht in ebendieser Lücke zwischen der Sprache des politischen Aktionismus und der Sprache der Repräsentation. Und hier scheint auch der Ursprung der Verwirrung zu liegen, die damals viele Künstler:innen umtrieb. Die Plakate der Demonstrierenden entsprachen genau ihren eigenen Positionen (und deren kreativen Umsetzungen). Ihre Entstehungsgeschichte unterschied sich nicht wesentlich von jener der früheren künstlerischen Projekte. Und doch gab es jetzt einen fundamentalen Unterschied – die Künstler:innen, deren Werke bislang vor allen Dingen in Ausstellungen existierten, standen plötzlich Auge in Auge der Bereitschaftspolizei gegenüber. Sie erläuterten nicht etwa einen Standpunkt, sie verkörperten ihn durch ihre eigene Gegenwart. Und so unterschieden sich ihre Aktionen in ihrem Bedeutungsgehalt kaum von denen der Nicht-Künstler:innen.

Ein tragisches Beispiel dafür ist etwa der Tod von Raman Bandarenka. Der Künstler starb nach einem Überfall von Regierungsanhängern am Abend des 11. November 2020. Er war gemeinsam mit einigen Nachbarn hinaus auf den sogenannten „Platz des Wandels” gegangen, um gegen Randalierende zu protestieren, die die Protest-Dekorationen der Anwohner:innen zerstörten. Die Angreifer:innen schlugen ihn, schubsten ihn in einen Kleinbus und brachten ihn zur örtlichen Polizeiwache. Von dort holte ihn kurz darauf ein Krankenwagen ab. Er befand sich in kritischem Zustand und verstarb einen Tag später im Krankenhaus an seinen Hirnverletzungen. Er wurde aufgrund seiner direkten politischen Beteiligung umgebracht, sein Beruf als Künstler spielte für seine Angreifer keine Rolle.

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In den Jahren 2020 und 2021 wurden in ganz Europa zahlreiche Ausstellungen organisiert, bei denen aus Solidarität mit der belarussischen Demokratiebewegung ein Porträt von Raman Bandarenka gezeigt wurde. Diese Form der Unterstützung war und ist sehr wichtig und das nicht nur als symbolische Geste. Viele Künstler:innen, Autor:innen und Kulturschaffende mussten aus Angst vor Verhaftung und Verurteilung das Land verlassen. Künstlerresidenzen, Ausstellungen und andere Veranstaltungen gaben ihnen Gelegenheit, sich der Regierung zu entziehen und ein wenig finanzielle Unterstützung zu erhalten. Der Grund für diese Hilfestellung lag in der politischen Situation in Belarus, und selbstverständlich wurde von den entsprechenden Künstler:innen auch eine ganz bestimmte politische Positionierung erwartet.


Während die Demonstrierenden mit ihren Plakaten nur Teil der Masse sind, kommt Künstler:innen, die über dieselben Ereignisse berichten, ein Platz im Rampenlicht zu.


In vielen Fällen versorgten solche Ausstellungen und Veranstaltungen das ausländische Publikum mit Informationen über die Bürgerbewegung in Belarus, wobei sie gleichzeitig die Rolle prägten, die die Künstler:innen in diesem Kontext zu spielen hatten. Außerdem gab es insbesondere in den Monaten unmittelbar nach der Wahl wenige andere Themen, über die die Menschen so leidenschaftlich diskutieren konnten. Nun, da direkter politischer Aktivismus auf der Straße wieder gewaltsam unterdrückt wurde, lichtete sich plötzlich die Verwirrung in der Kunstwelt. Der Modus der Repräsentation wurde wieder wichtiger – nicht nur, weil die Nachfrage groß war, sondern auch, weil sie die Möglichkeit bot, sich der Repression zu entziehen.

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Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass sich die Ereignisse im Sommer und Herbst 2020 unmittelbar kaum akkurat beschreiben ließen. Wie jede Form der Reflexion braucht Kunst Zeit und Abstand, und beides stand vielen Künstler:innen, die selbst an den Protesten teilnahmen, nicht zur Verfügung. Direkte und dringliche Reaktionen waren daher unumgänglich. Wie alle anderen brachten auch die Künstler:innen ihre Positionen unmittelbar und direkt zum Ausdruck, und so war das Plakat oder ein schnelles Statement jeder ausgeklügelten Arbeit vorzuziehen.

Kunst hat denen, die sie praktizierten, schon immer mehr Sicherheit geboten als die direkte politische Beteiligung. Wir konnten beobachten, wie die repräsentative Sprache in den Hintergrund rückte, während das massenhafte politische Engagement zunahm. Eine solche Situation illustriert den Unterschied zwischen „dem Reden über Politik“ und „politischer Rede“, die mit Repräsentation und direkter Aktion ins Verhältnis gesetzt werden können. Es scheint, als würde von beiden stets die künstlerische Repräsentation überdauern. Sie bestimmt das Narrativ, sie beschreibt das Geschehen auf eine bestimmte Art und Weise. Das Gleiche gilt für die Protestausstellungen, in denen Künstler:innen ihre Reflexionen zu den Ereignissen vorstellen und gleichzeitig die Erfolge der gesamten Bewegung symbolisch für sich vereinnahmen. Während die unbekannten Demonstrierenden mit ihren selbstgemachten Plakaten nur ein Teil der Masse sind, kommt Künstler:innen, die über dieselben Ereignisse berichten und sie interpretieren, ein Platz im Rampenlicht zu.

Die Rolle der Kunst während der Proteste des Jahres 2020 interessiert Kolleg:innen und Öffentlichkeit in vielen Ländern. Dennoch möchte ich mit einer alten Frage enden: Was ist ein Kunstwerk? Um die Bedeutung zeitgenössischer Kunst für die Ereignisse in Belarus zu verstehen, müssen wir uns darüber klar werden, was wir unter solchen Umständen als „Kunst” bezeichnen möchten – und was wir von ihr erwarten.


Aliaxey Talstou, geboren 1984 in Minsk, ist Künstler und Schriftsteller, Kurator und Kulturarbeiter. Er beschäftigt sich mit sozialen und politischen Spannungen, mit Technologie und ihrem Einfluss auf den menschlichen Geist, sowie mit ökologischen und gesellschaftlichen Krisen. In seiner künstlerischen Praxis verwendet er Malerei, Zeichnung, Video und Performance.

 

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