1998 veröffentlichte der belarussische Philosoph Valentin Akudowitsch seinen programmatischen Text Mich gibt es nicht. Gedanken an den Ruinen eines Menschen, in dem er die intellektuelle, kulturelle und existenzielle Situation in Belarus beschrieb. Mit seiner Abwesenheitsmetapher versuchte Akudowitsch, binäre Konstruktionen einer nationalen Identität zu überwinden, die auf der Gegenüberstellung von Ost (Russland) und West (Europa) beruhen. Zwei Jahre später schuf der Installationskünstler Alexej Lunev die mittlerweile berühmte und viel zitierte Arbeit Nichts gibt es, mit der er sein eigenes Urteil über das Belarus der 2000er-Jahre fällte. Die totale Leere des belarussischen Kulturraums, in dem nicht nur freie Meinungsäußerungen unmöglich sind, sondern buchstäblich sogar der Raum dafür fehlt, war für Lunev die Inschrift auf dem Grabstein der einheimischen Kunstszene.
Die zeitgenössische belarussische Kunstproduktion blieb einer größeren Öffentlichkeit vor allem deshalb unbekannt, weil die Künstler keine Möglichkeiten hatten, auszustellen. Alle Museen und sonstigen Ausstellungsorte waren staatlich. Mit zeitgenössischer Kunst befasste sich überhaupt nur das Nationale Zentrum für zeitgenössische Kunst – eine ebenfalls staatliche Einrichtung, die dem Kulturministerium unterstellt war und aktiv Zensur ausübte. So wurde beispielsweise 2006 bei der Ausstellung „Alles war anders” (kuratiert von Michail Gulin und Tatiana Kondratenko) die Arbeit der Künstlerin Marina Sobovskaja zensiert und konnte nicht gezeigt werden. 2016 besichtigte der Künstler Aliaxey Talstou die Bestände des Nationalen Zentrums für zeitgenössische Kunst und machte sich mit dessen Sammlung vertraut. Er versuchte in Erfahrung zu bringen, wer die Ankäufe für das Zentrum tätigte und zu welchen Preisen, und ging damit bis vor Gericht. Doch er verlor den Prozess. Die Informationen über die Ankäufe seien vertraulich und könnten nicht öffentlich gemacht werden, obwohl das Nationale Zentrum für zeitgenössische Kunst durch Steuergelder finanziert würde, so die Richter.
2009 eröffnete in Minsk die Galerie für zeitgenössische Kunst Ў, hervorgegangen aus der kleinen, aber in der lokalen Kunstszene sehr einflussreichen Galerie Podzemka, die beide von Valentina Kiselyova und Anna Chistoserdova geleitet wurden. Über zwölf Jahre lang war die Galerie Ў eine der wichtigsten belarussischen Einrichtungen ihrer Art. Im Sommer 2020 wurde einer ihrer Gründer, der Geschäftsmann und Mäzen Alexander Vasilevich, festgenommen, als er und etwa zehn seiner Mitstreiter vor dem Gebäude des Geheimdienstes (Komitee für Staatssicherheit der Republik Belarus, KGB) Schlange standen, um für den Präsidentschaftskandidaten Viktor Babariko zu bürgen. Babariko war bereits zuvor verhaftet und zu 14 Jahren Straflager verurteilt worden. Anderthalb Monate später wurde Vasilevich abermals festgenommen und ins Untersuchungsgefängnis des KGB gebracht, wo er seither auf den Prozess wartet. Im November 2020 schloss die Galerie Ў in Minsk. Ihre Leiterinnen verließen Belarus, weil sie sich nicht mehr sicher fühlten.
Die zeitgenössische belarussische Kunstproduktion blieb weitgehend unbekannt, weil die Künstler keine Möglichkeiten hatten, auszustellen.
Am 30. Juni 2021 verlangte die belarussische Regierung die Schließung des Goethe-Instituts Minsk und des Büros des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) und forderte beide Institutionen dazu auf, ihre Tätigkeit in Belarus im Laufe von zwei Wochen vollständig einzustellen. Das Goethe-Institut in Minsk war seit 1993 eine der wenigen westeuropäischen Kultureinrichtungen, die eine offizielle Vertretung in Belarus hatten und aktiv an der Bildung und Entwicklung der einheimischen Kulturszene beteiligt waren.
Als die Sowjetunion zusammenbrach und im postsowjetischen Raum im Zuge der Perestroika erste westliche Kulturprojekte entstanden, eröffnete die Soros-Stiftung mehrere Zentren für zeitgenössische Kunst in der Region. In der Ukraine beispielsweise gibt es bis heute zwei dieser Zentren, eins in Kiew und eins in Odessa. Belarus dagegen war das einzige Land, in dem die Soros-Stiftung keine Niederlassung dieser Art schuf. Im Rückblick eine verpasste Chance für das Land, denn obwohl man die Kunstzentren durchaus als typisch koloniales Projekt betrachten kann, bei dem die Kunst als Vermittler für politische Ideen fungiert, erfüllten sie anderswo doch einen wichtigen Zweck: Sie waren in der Zeit des Wandels die einzigen Brücken zwischen der einheimischen postsowjetischen Kulturszene und der Weltöffentlichkeit. Dadurch unterstützten sie in vielen Staaten die Herausbildung einer institutionalisierten Kunstszene. In Belarus blieb dies aus.
Genauso blieben auch die Vertretungen großer internationaler Mittlerorganisationen wie dem British Council oder der Stiftung Pro Helvetia dem Land fern. Die wenigen Projekte, die diese Einrichtungen in Belarus unterstützten, waren Teilprojekte ihrer russischen Vertretungen. Damit wiederholte sich ein Narrativ, das Belarus für dreißig Jahre hatte abschütteln wollen: Das Land wurde weiterhin als Teil der russischen Kulturlandschaft betrachtet. Solange es existierte, war das Goethe-Institut in Minsk eine der wenigen Ausnahmen unter den westeuropäischen Einrichtungen in Belarus. Hier wurde das Land als eigenständiger Raum betrachtet. Das schuf die Möglichkeit, Leerstellen der späten 1990er- und frühen 2000er-Jahre zu füllen und sich von der lokalen Politik zu emanzipieren, deren Hauptkriterium für die Beurteilung eines Kulturträgers seine politische Nähe zu Belarus oder Russland darstellte.
Ein Teil der Kulturschaffenden hat seine Projekte an den neuen Wohnort mitgenommen.
Nach der brutalen Niederschlagung der enormen Massenproteste gegen eine wieder einmal gefälschte Präsidentschaftswahl blieb Alexander Lukaschenko 2020 zum sechsten Mal an der Macht. Die belarussische Kulturszene durchlebt nun abermals eine Existenzkrise, gewissermaßen eine weitere Schleife in der Dialektik der Leere. Jetzt fehlen in Belarus nicht nur die Einrichtungen der Kulturszene, sondern schlichtweg die Menschen, die diese Szene bewahren und weiterentwickeln könnten. Im letzten Jahr haben inoffiziellen Angaben zufolge etwa 40.000 Menschen das Land verlassen. Nicht alle sind Kulturschaffende, aber die meisten gehören zu dem aktiven, gut ausgebildeten Teil der Gesellschaft, der sich aus politischen und wirtschaftlichen Gründen zur Auswanderung in die Nachbarstaaten genötigt sah: in die Ukraine, nach Litauen, Polen oder Deutschland. Mehr als 4.000 Menschen befinden sich in belarussischen Gefängnissen und sind als politische Gefangene anerkannt. Unter ihnen sind Künstlerinnen, Musiker, Studierende der Kunstakademie und anderer Hochschulen, Schriftstellerinnen, Unternehmerinnen, Anwälte und Journalistinnen.
Ein Teil der Kulturschaffenden hat seine Projekte an den neuen Wohnort mitgenommen. Die Galerie Ў plant, ihre Tätigkeit in Polen und Deutschland fortzusetzen. Der in Belarus einzigartige „Monat der Fotografie“ in Minsk und sein Leiter Andrei Lankevich werden das Festival in Polen durchführen. Das aus seinen Räumlichkeiten vertriebene Janka-Kupala-Theater, das älteste belarussische Theater, ist teilweise nach Warschau umgezogen und hat zugleich in den virtuellen Raum gewechselt – heute ist es ein Youtube-Theater.
Belarus befindet sich in einer Art archaischem Kreislauf, aus dem das Land scheinbar unmöglich ausbrechen kann. Auch 2010 hatte es wieder einmal sogenannte Wahlen gegeben. Die „Plošča“, ein friedlicher Protest vor dem Regierungsgebäude, wurde von der Armee und Spezialeinheiten brutal niedergeschlagen. In der Folge gab es flächendeckende Festnahmen aller Präsidentschaftskandidaten, Strafverfahren gegen NGOs, Menschenrechtlerinnen, Aktivisten und unabhängige Kultureinrichtungen und Verhandlungen mit der EU über eine Lockerung der verhängten Sanktionen im Tausch für die Freilassung von politischen Gefangenen. 2020 wiederholte sich all das mit noch größerer Wucht.
2011 fand im Zentrum für zeitgenössische Kunst in Vilnius und anschließend in der Galerie Zachęta in Warschau die Ausstellung „Opening the Doors? Belarusian Art Today“ statt. Im Ausstellungstitel warfen der Kurator und die Kuratorinnen Kęstutis Kuizinas, Julija Fomina und Lena Prents die Frage auf, ob sich tatsächlich Türen in die zeitgenössische belarussische Kunstszene öffnen ließen – eine Kunstszene, die sogar in den Nachbarländern Polen und Litauen weitgehend unbekannt war. Ihre Aktualität hat diese Frage jedoch bis heute nicht eingebüßt. Die damalige Gruppenausstellung zeitgenössischer belarussischer Kunst in Vilnius, einer Stadt, die gerade einmal 170 Kilometer von Minsk entfernt liegt, war de facto die erste ihrer Art. Doch bis heute trennt Litauen und Belarus eine hohe soziopolitische Mauer: hier das westlich orientierte Vilnius, dort Minsk, das sich gegenüber dem Westen vollkommen abschottet.
Die meisten Arbeiten, die bei „Opening the Doors? Belarusian Art Today“ präsentiert wurden, konnten damals wie heute nicht in einer offiziellen Kunsteinrichtung in Belarus gezeigt werden. Zu politisch war der Kontext, zu allumfassend die Zensur. Über die Hälfte der Künstlerinnen und Künstler, die an der Ausstellung beteiligt waren, lebte schon damals nicht mehr in Belarus. Sie waren in andere europäische Länder emigriert, weil sie in ihrer Heimat nicht frei arbeiten konnten. Genau zehn Jahre später, im Frühjahr 2021, fand im Mystezkyj Arsenal in Kiew die umfangreiche Ausstellung „Jeden Tag“ statt, die – im Titel einen Protestslogan aufgreifend – der Kunst der belarussischen Proteste gewidmet war. Gezeigt wurden Arbeiten von 90 Künstlerinnen und Künstlern, die sich allesamt zu jenem Zeitpunkt ebenfalls nicht mehr in Belarus aufhielten, weil sie während der Repressionen 2020 und 2021 gezwungen waren, das Land zu verlassen.
Ein weit verbreiteter Slogan war „Das ist unsere Stadt!“. Es war ein Ausspruch der Selbstbehauptung.
Wenn wir über die belarussische Kunstszene und ihre Existenzform in den letzten zwei Jahren sprechen, drängt sich also immerzu die Frage auf: Gibt es uns noch oder gibt es uns nicht mehr? Und wenn es uns gibt, wo sind wir dann? Wo ist unser Platz? Ein beliebter und während der Proteste in Minsk weit verbreiteter Slogan war „Das ist unsere Stadt!“. Das war nicht nur der Versuch, den öffentlichen Raum zurückzuerobern, der den Belarussen seit 1994 nicht mehr gehörte. Es war ein Ausspruch der Selbstbehauptung, der die Regierung auf unsere Existenz in diesem Raum hinweisen sollte. Es gibt uns, wir sind hier, und das ist unsere Stadt. Mittlerweile wurden in Minsk jedoch fast alle unabhängigen Initiativen liquidiert. So zum Beispiel auch Radislava, eine Anlaufstelle für Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt geworden waren. Die ehemalige Leiterin des Zentrums, Olga Gorbunova, befindet sich derzeit in Untersuchungshaft. Mehr als zwanzig Journalistinnen sind im Gefängnis, unabhängige Medien und Kulturräume wurden aufgelöst. Manche Menschen sind in Haft, andere haben das Land verlassen, wieder andere sind noch da und versuchen, unter der ständigen Repression zu überleben.
Im November 2021 hatte ich das Glück, an einer der zurzeit seltenen Präsenz-Veranstaltungen teilzunehmen, der Jahreskonferenz des International Committee for Museums and Collections of Modern Art in Łódź und Danzig. Unter dem Titel „Under Pressure. Museums in Times of Xenophobia and Climate Emergency“ besprachen europäische und amerikanische Museumsleute und Kuratoren dort aktuelle Themen, wie das Erstarken des Populismus in Europa, das koloniale Erbe und die globale Klimagerechtigkeit. Währenddessen trug sich 300 Kilometer entfernt an der belarussisch-polnischen Grenze eine humanitäre Katastrophe mit Geflüchteten aus verschiedenen Ländern zu – und 600 Kilometer entfernt saßen in Minsk zwanzig Menschen in Zellen, die für acht Personen vorgesehen sind, ohne Toilettenpapier, ohne Matratzen, ohne die Möglichkeit, persönliche Gegenstände, Briefe oder medizinische Hilfe zu erhalten.
Meine institutionelle Wirklichkeit, mein persönliches „Museum under Pressure“ befindet sich in einem Raum, der vielen unbekannt ist und der international kaum wahrgenommen wird. Einem Raum, den es in vielen Publikationen über zeitgenössische Kunst in Mittel- und Osteuropa gar nicht gibt. Es gibt uns nicht. Aber wir sind noch da.
Aus dem Russischen von Maria Rajer
Anna Karpenko ist eine unabhängige Kuratorin und Kunstmanagerin. Sie studierte an der Philosophischen Fakultät der Belarussischen Staatlichen Universität und der Europäischen Humanistischen Universität in Vilnius, Litauen.