In einer patriarchalen Gesellschaftsordnung entstanden, finden sich in der Geschichte des Buddhismus nicht viele Frauen, die es zu Rang und Namen als Gelehrte oder Heilige gebracht haben. Eine dieser Ausnahmeerscheinungen aus den tibetischen Traditionen des Dharma ist Yeshe Tsogyal, die im 8. Jahrhundert in Zentraltibet lebte. Schon bei ihrer Geburt geschah Wundersames: Die Erde bebte und ein See in der Nähe schwoll an. Mehrere Male verweigerte sie sich einer arrangierten Ehe, um den Weg als buddhistische Nonne zu wählen. Als ein Heiratsanwärter sie entführte, konnte sie mithilfe spiritueller Kräfte fliehen. Schließlich wurde sie eine der Königinnen am Hof des Herrschers Trisong Detsen. Er erkannte ihr spirituelles Potenzial und gab sie zu Padmasambhava, einem heute noch in Tibet verehrten indischen Guru, der den Buddhismus in Tibet lehrte.
Tsogyal wurde seine Schülerin und Gefährtin und erhielt seine höchsten Unterweisungen. Der Guru und seine Gefährtin stehen für die Vereinigung des weiblichen und des männlichen Prinzips und damit für die Überwindung weltlicher Dualismen, die den Weg zur Erleuchtung behindern. Nachdem sie die höchste spirituelle Verwirklichung erlangt hatte, scharte Tsogyal unzählige Schüler um sich und etablierte Klöster und Meditationszentren. Als Padmasambhava ins Nirwana eingegangen war, gab sie seine Lehren weiter und festigte den Buddhismus in Tibet. Im ganzen Land versteckte sie Terma, geheime Schätze, welche die Lehren des Guru enthielten. Jeder von ihnen wird irgendwann wiederentdeckt und der Gemeinschaft der Buddhisten zugänglich gemacht. So kann die Lehre ständig erneuert werden. Damit spielte Tsogyal eine entscheidende Rolle in der Verbreitung des Dharma in Tibet.
Heute sind Frauen im tibetischen Buddhismus den Männern immer noch nicht gleichgestellt. Sie gelten als unrein und minderwertig, und es heißt, Frauen könnten keine Erleuchtung erlangen. Auch Tsogyal stieß als Frau auf Hindernisse und Argwohn: sie musste sich einer Heirat erwehren, wurde beschuldigt, den König zu verhexen, sie wurde vergewaltigt und ausgeraubt. Doch sie verwandelte das Unheil in etwas Positives. Indem sie diese Grundtugend des Buddhismus zur Perfektion brachte, erlangte sie selbst Erleuchtung und führte sogar ihre Feinde auf den Pfad dorthin.