Nachdem die Taliban meinen guten Freund und langjährigen Kollegen Ajmal Nakshbandi entführt und ermordet hatten, besuchte ich seinen Vater dreimal zu Hause, um ihm mein Beileid auszusprechen und die schönen Erinnerungen an Ajmal mit ihm zu teilen. Ajmals Vater Ghulam Haidar ist ein rauer alter Mudschahedin-Veteran. Wir saßen im Wohnzimmer im ersten Stock des Hauses der Familie Nakshbandi, einem kleinen, von einer Mauer umgebenen Gebäude auf den staubigen Ebenen im Südwesten von Kabul. Die hohen Fenster filterten das schwächer werdende gelbe Licht der Nachmittagssonne die Schatten der Tauben, die draußen ihre Bahnen zogen, huschten über die Wände.
Bei einem der Besuche begleitete mich mein Freund und Kollege Teru Kuwayama, ein Fotograf, der eine beachtliche Summe Dollar mitgebracht hatte, Spenden von New Yorker Journalisten für die Familie des Toten. Terus Mutter hatte ein Geschenk für Ajmals Mutter mitgeschickt. Doch lernten wir weder Ajmals Mutter noch seine junge Witwe kennen. Genaugenommen haben wir keine von beiden auch nur zu Gesicht bekommen. Immer wenn wir kamen, wurden die Frauen vor uns versteckt. Die Situation vermittelt einen Eindruck von der strengen Version von Purdah, dem muslimischen Prinzip des Absonderns und Beschützens von Frauen, wie man es in Afghanistan praktiziert.
Dabei handelt es sich um eine Art Apartheid der Geschlechter, eine der schlimmsten Konsequenzen aus einer dörflich geprägten Weltsicht, die sich heute sogar in urbanen Schichten breitmacht. Im ländlichen Afghanistan wird Purdah so streng angewendet, dass viele Männer bis zum Alter von Ende zwanzig keine Frau sehen oder berühren außer ihrer Mutter – oder ihren Schwestern oder Cousinen, sofern diese noch nicht das Pubertätsalter erreicht haben. Viele Frauen in Kabul, die einen Beruf ausüben, tragen keine Burka mehr, andere wiederum verhüllen sich schon deshalb weiterhin, weil ihnen die Belästigungen durch Männer unerträglich werden oder weil ihre Väter oder Brüder darauf bestehen.
Nachdem die afghanischen Frauen während der Taliban-Herrschaft brutal unterdrückt wurden, dient das Bestreben, sie zu befreien, nun auch als Rechtfertigung für den Krieg, den die Nato in Afghanistan führt. Präsident Bush verweist auf die Anzahl der Frauen im Parlament und hebt sie als Zeichen des Fortschritts hervor. Zu den ersten amerikanischen Entwicklungshilfeprojekten gehörte der Bau von 500 Mädchenschulen. Leider konnten sich viele dieser Schulen aufgrund fehlender Mittel keine Lehrer leisten oder wurden später von den Taliban niedergebrannt. 2005 reiste Laura Bush mit großem medialem Aufwand nach Kabul, um die von den USA angeführte Besetzung Afghanistans in ein besseres Licht zu rücken. In einer Rede an der Universität von Kabul sagte sie vor rund 400 Zuhörern: „Die Vereinigten Staaten legen besonderen Wert darauf, dass Frauen die Gesellschaft mitgestalten können, und zwar nicht nur in Kabul, sondern in jeder Provinz.“
Das Schicksal der afghanischen Frauen ist eng mit der Geschichte der Modernisierung des Landes verbunden. Seit etwa einem Jahrhundert bemühen sich Teile der städtischen Eliten und der Mittelklasse, den Einfluss traditionalistischer und religiöser Kräfte auf das gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Leben Afghanistans zu verringern.
Für eine Modernisierung engagierte sich auch der liberal eingestellte König Amanullah Khan, der Afghanistan von 1919 bis 1929 regierte. Erst vertrieb er die kriegsmüden Briten, dann reiste er durch Europa, wo ihn besonders die Reformprojekte von Atatürk beeindruckten. Nach seiner Heimkehr strebte er ähnliche Reformen für sein eigenes gebirgiges, ethnisch vielfältiges, in vielerlei Hinsicht unterentwickeltes Land an. Amanullah wollte eine moderne Armee schaffen, eine staatliche Verwaltung, ein Straßennetz er wollte moderne Industrien ansiedeln. Eine wichtige Rolle bei diesen Bemühungen spielte sein Außenminister, ein glühender Verfechter besserer Bildungschancen für Frauen. Amanullahs Verfassung machte die Grundschulausbildung zur Pflicht. Doch als die Monarchie 1927 die gemischten Schulen in den Dörfern einführte, stellten die Grundbesitzer und Stammesfürsten Lashkars, Verbände von Stammeskämpfern, auf und begannen einen Krieg gegen die schwache afghanische Armee. Als die Stammesrebellionen den König 1929 zum Rücktritt zwangen, wurden viele seiner Modernisierungs- und Reformprojekte gestoppt. Neun Monate später hieß der Herrscher in Kabul Bacha-i Saqao („Der Sohn eines Wasserträgers“), ein tadschikischer Krieger.
Die Zeit seiner Herrschaft ähnelt dem Chaos, in das die Hauptstadt stürzte, als die Mudschahedin 1992 die Macht übernahmen. Mit anderen Worten, ein in Kabul initiiertes Bemühen zur Emanzipation der afghanischen Frauen führte zu einem Krieg, der einen Rückschlag hinsichtlich der Modernisierungstendenzen insgesamt bedeutete.
Eine ähnlich wichtige Rollespielte der Streit um die Frauenrechte als Auslöser der antikommunistischen Rebellion in den 1980er Jahren. Nach dem kommunistischen Staatsstreich von 1978 hatten die afghanischen Kommunisten, die Demokratische Volkspartei Afghanistans, ein etwas zu beherztes Programm für soziale Reformen vorgelegt. Die Landreform war durchaus ambitioniert, aber zu schlecht geplant, und es mangelte an Institutionen, die man zur Unterstützung des Vorhabens benötigt hätte, örtliche Banken etwa, mit denen man die alten Systeme der Kreditvergabe und der Ertragsteilung hätte ersetzen können. Dass die Grundschulausbildung und Alphabetisierungskampagnen einen gemischten Unterricht von Mädchen und Jungen vorsahen, führte wie schon zu früheren Zeiten zu größeren Stammesrevolten, die bald auch noch durch die CIA, die Saudis und Pakistanis unterstützt wurden.
Und nun haben die Bemühungen um Frauenrechte, die von den berufstätigen Schichten in Kabul und wohlmeinenden Ausländern ausgehen, einmal mehr eine heftige Reaktion vonseiten des ländlich geprägten Afghanistans hervorgerufen. Der herausragende Gelehrte Louis Dupree spricht von einem „curtain of mud“ („Vorhang aus Schlamm“), womit er die offenbar unüberwindliche kulturelle Kluft zwischen dem städtischen und ländlichen Afghanistan meinte. Von der anderen Seite dieses Vorhangs aus betrachtet, also aus Sicht der paschtunischen Dörfer im Süden, ähnelt die Besetzung des Landes durch die Nato, mit der unter anderem die Ausbildung für Mädchen und eine Modernisierung der Straßen- und Kommunikationsnetze gefördert wird, entsprechenden Bestrebungen aus früheren Zeiten. Damals hieß es Sozialismus, heute Demokratie, aber in den Augen der Traditionalisten vom Land ist es ein und dasselbe: Städter und Ausländer versuchen ihre zentralgesteuerten Maßnahmen auf Gebiete und Lebensbereiche auszuweiten, die noch von alten Traditionen oder von Banden bewaffneter Kämpfer dominiert werden. Und wie bei früheren Modernisierungsbemühungen der Fall, stellen sich auch den aktuellen Projekten fundamentalistische, ländlich geprägte Kräfte entgegen. Man verweigert der Polizei die Macht der Exekutive, belegt den öffentlichen Straßenverkehr mit privaten Steuern und – was am schwersten wiegt – man unterdrückt Versuche, den Frauen mehr Gleichberechtigung zu verschaffen, mit brutaler Gewalt. In diesem Sinn sind die Gewalt und reaktionäre Frauenfeindlichkeit, ein Markenzeichen der Taliban, gar nicht so neu.
Wie andere Stammesrebellionen im 20. Jahrhundert ist auch jene der Taliban, die von den Paschtunenstämmen unterstützt wird, gegen jegliche Gleichberechtigung der Geschlechter gerichtet. In den letzten drei Jahren haben die Taliban über 300 Schulen, in denen ein gemischter Unterricht abgehalten wurde, niedergebrannt. Es gab Anschläge auf Politikerinnen. Letztes Jahr wurde Safia Ahmed-jan ermordet, die Leiterin des Ministeriums für Frauenfragen in der Provinz Kandahar.
Zwar gehen heute immerhin 27 Prozent der Sitze in der Nationalversammlung und ein Sechstel der Sitze im Oberhaus an Frauen. Nehmen sie ihre Macht allerdings tatsächlich in Anspruch, müssen sie mit dem Zorn ihrer Kollegen rechnen. Als Malalai Joya auf Korruption und Ineffizienz des Parlaments hinwies, wurde sie aus der Versammlung ausgeschlossen und mit Mord und Vergewaltigung bedroht. Nachdem seit 2003 vier Attentatsversuche auf sie verübt wurden, ist sie nun untergetaucht.
Auch einige Journalistinnen wurden in den vergangenen Monaten ermordet. Im Juni 2007 erschossen Unbekannte Zakia Zaki, die Leiterin eines lokalen Radio-senders. Seit dem Fall des Taliban-Regimes 2001 hatte die 35-jährige Zaki den von den USA finanzierten Sender „Peace Radio“ betrieben, 2005 kandidierte sie für einen Sitz im Parlament. Sie hatte Drohungen von mächtigen lokalen Führern erhalten, die wütend wegen ihrer kritischen Berichte waren. Ein paar Tage zuvor wurde Sanga Amach, die 22-jährige Nachrichtensprecherin eines privaten Fernsehsenders, in ihrer Wohnung in Kabul ermordet. In ihrem Fall scheint es ein „Ehrenmord“ ihrer männlichen Verwandten gewesen zu sein, die ihren Beruf und ihr Auftreten in der Öffentlichkeit als Erniedrigung empfanden.
Doch nicht nur die Taliban sind von einem Hass auf Frauen getrieben. Auch die afghanischen Verbündeten der Nato – die Kriegsherren der Nordallianz, die jetzt die Regierung Afghanistans stellt – sind für ihre Frauenfeindlichkeit bekannt. Man denke nur an Männer wie Marschall Mohamed Qasim Fahim, den ehemaligen Verteidigungsminister der Regierung Karzai oder Burhanuddin Rabbani, ein Abgeordneter und ehemaliger Führer der Mudschahedin Abdul Raab Rasul Sayaf, ein paschtunischer Krieger und Parlamentarier, Führer einer legendär brutalen Truppe. All diese Männer besuchten Versammlungen, auf denen der Tod und die Vergewaltigung von Malalai Joya gefordert wurden. Und alle glauben sie an eine Form der Scharia, die Frauen zu Bürgerinnen zweiter Klasse macht.
Die Situation der Frauen in Afghanistan ist bestenfalls als bedenklich zu bezeichnen. Die meisten afghanischen Frauen bleiben Analphabetinnen, sind arm und politischer oder krimineller Gewalt ausgesetzt. Nur 15 Prozent können lesen. In einem UN-Bericht von Ende 2005 wird die Situation der afghanischen Frauen als „eine der schlimmsten weltweit“ beschrieben. Afghanische Frauen haben eine um 20 Jahre niedrigere Lebenserwartung als der internationale Durchschnitt. Die meisten afghanischen Frauen aus ländlichen Gebieten erhalten keine medizinische Betreuung während ihrer Schwangerschaft. In einem Bericht des UN-Entwicklungsfonds für Frauen, der im August 2006 erschien, wird die Müttersterblichkeit auf 1.600 bis 1.900 pro 100.000 lebend geborenen Kindern geschätzt – eine der höchsten Raten weltweit. In allen Kategorien, in denen man Armut misst, befindet sich das Land im Jahr 2006 ganz unten auf dem Human Development Index der UN. Am schlimmsten betroffen sind immer die Frauen.
Zwar waren die Taliban repressive Moralisten, die im letzten Jahr ihrer Herrschaft sogar das Drachensteigenlassen, Musikhören und manchmal jegliche Schulbildung von Mädchen verboten. Doch zumindest hielten sie noch eine primitive Form von Gesetz und Ordnung aufrecht. Demgegenüber hat das neue Regime einen allgemeinen Zustand der Unsicherheit mit sich gebracht, und die Frauen sind hier die verletzlichste gesellschaftliche Gruppe.
Berichte über Frauen, die verschleppt, vergewaltigt und verkauft werden, sind inzwischen an der Tagesordnung. Es gibt keine funktionierende Gesetzesmacht in Afghanistan, der Aktionsradius der Nato-Truppen ist zu klein und die örtlichen Polizeibehörden sind meist uniformierte Kriminelle. So haben Frauen fast keinen Schutz außer ihre bewaffneten Väter, Brüder und Ehemänner. Für die meisten Frauen hat der Fall des Taliban-Regimes eine größere Unsicherheit mit sich gebracht. In Anbetracht dieser Situation müssen die Bürger der Nato-Staaten – wie Deutschland und die USA – eine kritische und realistische Haltung gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen in Afghanistan bewahren.
Aus dem Englischen von Loel Zwecker