Ghaffar Hussain war fünfzehn Jahre alt, als er in London zum Extremisten wurde. Als Sohn pakistanischer Einwanderer und Moslem mit dunkler Hautfarbe erlebte er in der Schule, auf der Straße und bei Behörden immer wieder Rassismus. Die britische Außenpolitik gegenüber Israel und den palästinensischen Gebieten empfand er als doppelzüngig und erniedrigend und er begann sich Fragen zu stellen: Konnte er in einer westlichen Gesellschaft überhaupt ein guter Moslem sein? Stand hinter der Ungerechtigkeit des Nahostkonfliktes Absicht? Benachteiligten die internationalen Beziehungen die muslimische Welt?
„Ich war mit drastischen Bildern in den Nachrichten konfrontiert“, erinnert sich Hussain. „Im Bosnienkrieg 1992 brachten Serben und Kroaten vor laufenden Kameras Muslime um und der Westen schritt nicht ein.“ Hussain wollte etwas unternehmen, doch sein Vater meinte nur, das sei eben so, und der Imam empfahl ihm zu beten. In der Moschee traf Hussain auf Mitglieder der Hizb ut-Tahrir.
Diese „Partei der Befreiung“ strebt danach, Säkularismus, Nationalstaaten und Demokratie durch ein weltweites muslimisches Kalifat auf der Grundlage der Scharia zu ersetzen. 1954 war die extremistische Organisation mit dem Ziel gegründet worden, Palästina zu befreien. Heute geht es ihr vor allem darum, die muslimische Welt von westlichen Einflüssen abzuschirmen. Hizb ut-Tahrir gilt als das erste weltweite islamistische Netzwerk. Die Zentrale wird im Libanon vermutet, die Mitglieder verteilen sich jedoch auf alle Kontinente. Der Aufbau der Organisation ist hierarchisch und zentralistisch, ihr wichtigstes Kommunikationsmittel ist das Internet.
Die Hizb ut-Tahrir-Mitglieder, die Hussain in der Moschee traf, waren in seinem Alter und hatten auf die Fragen, die ihn beschäftigten, bereits klare Antworten gefunden. Die Welt befände sich in einem Kampf der Kulturen, erklärte man ihm, alles liefe auf die entscheidende Schlacht zwischen Islam und Westen hinaus. „Das schien auf den ersten Blick sehr schlüssig“, sagt Hussain, „der Westen ist der Feind, der die Muslime weltweit unterdrücken will und dem die Stirn geboten werden muss.“
Drei Jahre studierte Hussain in einer Gruppe aus sechs Mitgliedern diese Verschwörungstheorie. Die Männer beteten, diskutierten, fabulierten. „Der Extremismus war sinnstiftend, elitär und konfrontativ, das beeindruckte mich“, bekennt Hussain. „Es ging zwar um Politik, aber alles wurde in das Gewand der islamischen Tradition gehüllt. Mit dem Koran auf unserer Seite waren unsere politischen Forderungen islamisch und damit automatisch richtig.“
Auch wenn sich das Netzwerk offiziell gegen Terrorismus ausspricht, ist die Grenze zu Dschihadismus und Gewalt fließend. „Die Organisation hat zwei Gesichter“, erklärt Hussain. „Nach außen – auf öffentlichen Veranstaltungen und in Prospekten – zeigt sie sich gemäßigt: Da geht es um Ungerechtigkeiten und politische Missstände.“ Erst hinter verschlossenen Türen würden extreme Positionen artikuliert. „Da fordert man die Übernahme der Macht, einen totalitären Staat und den heiligen Krieg gegen die westliche Welt.“
Im Zuge seines Studiums der Sozial- und Religionswissenschaften hatte Hussain jedoch bald genug von der Hizb ut-Tahrir. So schnell ihn deren Ideen in die Organisation gezogen hatten, so schnell langweilten sie ihn auch wieder. „Die Schwarz-Weiß-Malerei war mir zu einfach, die Geschichte wurde entlang der Ideologie umgedeutet“, sagt er heute. Hussain hielt zudem stets den Kontakt zur Außenwelt aufrecht und entzog sich schließlich dem Kontrollwahn der Organisation.
„Irgendwann konnte ich ihre radikalen Ansichten widerlegen“, sagt er. „Ich knackte ihr einseitiges Weltbild, durchschaute ihre Verschwörungsphantasien und war in den Diskussionen schnell überlegen.“ Seine Kollegen aus der Gruppe ließen ihn gehen. Hussain passte nicht zu ihnen, ging ihnen auf die Nerven, durchkreuzte ihre Pläne.
In Deutschland ist die Hizb ut-Tahrir seit 2003 verboten. Ihr wird vorgeworfen, gegen die Völkerverständigung zu arbeiten und Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele zu befürworten. Mitglieder der Bewegung verteilten etwa antijüdische, antiisraelische und antiwestliche Flugblätter an Universitäten und betrieben Hetze im Internet. In Großbritannien entschied sich der damalige Premierminister Tony Blair allerdings gegen ein Verbot. Stattdessen setzte er auf die Idee, Aussteiger aus dem radikalen Milieu für den Kampf gegen den Extremismus zu gewinnen.
Genau dieser Gedanke steht im Zentrum der Quilliam-Stiftung, die zwei Aussteiger aus der Hizb ut-Tahrir im Oktober 2008 in London gründeten. Auch Hussain arbeitet heute hauptberuflich für die Quilliam-Stiftung. Die Mitglieder wollen den Islam als pluralistische, facettenreiche Tradition darstellen und Islamismus wie Dschihadismus als abweichende Lesarten entlarven. „Für uns gibt es einen westlichen Islam,“ sagt Ed Husain, der Direktor der Stiftung. „Dieser Islam orientiert sich an Toleranz, Rationalität und Gleichberechtigung.“ Basis und Gründungsmanifest der Stiftung, die etwa fünfzehn feste Mitarbeiter zählt, ist Husains Autobiographie „Der Islamist. Warum ich mich dem radikalen Islamismus in England anschloss, was ich dort sah und warum ich ausstieg“.
Die Geschichte des Stiftungs-Direktors ähnelt der seiner Kollegen. Auch Ed Husain stammt aus einer muslimischen Einwandererfamilie. Seine Eltern stammen aus Bangladesh, er wuchs in East London auf. Als Jugendlicher brach er mit seinem Elternhaus und engagierte sich für die Hizb ut-Tahrir. Doch irgendwann stach ein Freund einem christlichen Studenten ein Messer in den Rücken. Da wandte sich Husain von der Organisation ab. „Die Hizb ut-Tahrir hatte das Klima dafür geschaffen“, erklärt der Quilliam-Direktor heute. „Das war ein Schlüsselmoment, da wollte ich raus.“ Beim Ausstieg halfen ihm vor allem seine Frau und ein Imam.
Heute bietet Husain mit seiner Stiftung Aussteigern eine erste Anlaufstelle. Gemeinsam mit den anderen Mitgliedern arbeitet er gegen Islamismus. Zudem gibt es ein „Outreach-Programm“, das Ghaffar Hussain leitet. Mehrmals im Monat geht er an Schulen, Moscheen und Universitäten, sucht das Gespräch mit muslimischen Jugendlichen und wirbt für einen moderaten Islam. „Radikalisierung kann aufgehalten werden, wenn jungen Muslimen andere Antworten auf die sie umtreibenden Fragen nähergebracht werden“, ist Hussain überzeugt. „So kann ich viele erreichen und einige ermutigen, ihre Bindung an extremistische Organisationen aufzugeben.“
Bislang konnten die Quilliams, wie sich die Mitarbeiter der Stiftung nennen, über 50 Aussteigernhelfen. „Einmal selbst ein junger Radikaler gewesen zu sein, der mit der Welt unzufrieden war und den Islam politisch für den Kampf gegen den Westen heranzog, hilft mir heute, die Extremisten zu verstehen und ihre Logik zu widerlegen“, sagt Hussain. Der Zulauf zu radikalen Organisationen wie der Hizb ut-Tahrir sei mittlerweile rückläufig. Während diese bei seinem Eintritt noch einige Tausend Mitglieder hatte, schätzt Hussain ihre aktuelle Mitgliederzahl auf wenige Hundert.
Die Quilliam-Stiftung erhielt nach ihrer Gründung rasch prominente Unterstützung. Der britische Historiker Timothy Garton Ash und Paddy Ashdown, der einstige Chef der Liberaldemokraten, fanden sich als Förderer. Auch Großmufti Sheikh Ali Goma‘a, der Präsident der Al-Azhar Universität in Kairo und einer der renommiertesten Gelehrten des traditionellen Islams, lobte die Stiftungsarbeit. Fast eine Million Pfund im Jahr steuern zudem Innen- und Außenministerium Großbritanniens bei.
„Viele Briten waren offensichtlich auf der Suche nach neuen und originellen Stimmen zu diesem Thema“, glaubt Hussain. In ihren Veröffentlichungen gibt die Stiftung Empfehlungen für den Kampf gegen Extremismus, schlägt Rehabilitierungszentren vor, kritisiert in Großbritannien tätige Imame und verlangt die öffentliche Distanzierung von radikalen Predigern und Autoren. „Die Moscheen wären der beste Platz, um die muslimische Bevölkerung in Großbritannien aufzuklären und vor radikalen Ideen zu warnen“, sagt Maajid Nawaz, der zweite Direktor der Stiftung, „doch diese versagen komplett.“ Studien der Stiftung führen dies vor allem auf die schlechte Ausbildung der Imame zurück.
Etwa 97 Prozent stammen demnach aus dem Ausland, nur die wenigsten sprechen gut Englisch, ihre Bezahlung ist gering. „Die Imame lehren zwar in Großbritannien, fühlen sich aber noch immer in Pakistan, Bangladesh oder anderswo zu Hause und sind nicht in der Lage, die britischen Muslime mit britischen Werten zu erreichen, um so die Integration zu verbessern“, kritisiert Nawaz. In der muslimischen Gemeinde Großbritanniens stoßen die Quilliams auf geteiltes Echo. „Die Stiftung verfügt über wenig Anbindung und nur eine geringe Glaubwürdigkeit bei den britischen Muslimen“, bemängelt etwa Inayat Bunglawala vom Muslimischen Rat. Die Stiftung bestärke negative Vorurteile, heize die Islamophobie an und spalte die Gemeinde, lauten weitere Vorwürfe. „Wir glauben, dass die Stiftung nur ein weiterer Versuch des Establishments ist, von den wesentlichen Gründen für die Radikalisierung junger Muslime abzulenken – der desaströsen Außenpolitik der Regierung“, meint Anas al-Tikriti, der ehemalige Präsident der Muslimischen Gesellschaft. Er wirft den Quilliams vor, alle Formen des politischen Islams mit Extremismus und Terrorismus gleichzusetzen.
Bis heute ist der Standort der Stiftung geheim, auch Fotos gibt es nicht. Denn immer wieder erhalten Mitarbeiter Todesdrohungen, insbesondere die Aussteiger. Über Medienarbeit versuchen die Quilliams der britischen Öffentlichkeit Informationen über das Leben der Muslime in ihrer Heimat zu geben und den muslimischen Gemeinden eine europäische Lesart des Islams aufzuzeigen. „Wir sehen uns in erster Linie als ein wissenschaftliches Institut und Anlaufstelle für Aussteiger“, betont Hussain, „wir wollen Denkanstöße geben, die allmählich in die muslimischen Gemeinden durchsickern.“