Das Verhältnis der Islamischen Republik Iran zum Internet ist voller Widersprüche. Während die Polizei Fotos von Regierungsgegnern ins Internet stellte und die Bevölkerung dazu aufrief, die Unruhestifter zu identifizieren, ging der erste Online-Supermarkt eines Technologieunternehmens an den Start, das mit der Regierung in Verbindung steht. Solche Widersprüche bekommen westliche Beobachter des Internets und seiner Rolle in der iranischen Politik oder in anderen autoritären Staaten meist gar nicht mit.
Seit dem Erscheinen von John Perry Barlows „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“ 1996 nehmen sie an, der Cyberspace begünstige Demokratie und keine Regierung könne diesen freiheitlichen Geist unterdrücken. Die Überzeugung, dass uneingeschränkter Zugang zu Informationen und Mobilisierungswerkzeugen wie Blogs und sozialen Netzwerken autoritäre Gesellschaften öffnet und schließlich demokratisiert, ist heute ein wesentliches Merkmal des Technik-Utopismus.
Die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton gelobt, Netzfreiheit zu einem Eckpfeiler der amerikanischen Außenpolitik zu machen, und ein Senator nach dem anderen ruft dazu auf, die „Cybermauer niederzureißen“ und Gruppen mehr zu fördern, die sich gegen Online-Zensur zur Wehr setzen. Der Geist des Technik-Utopismus weht derart stark in Washington, dass es scheint, die Freiheits-Agenda erlebe eine Neuauflage als Twitter-Agenda. Selbst der republikanische Senator Richard Lugar aus Indiana konnte der Versuchung nicht widerstehen, der Twitter-Gemeinde beizutreten: In einem Kommentar zur Außenpolitik rief er amerikanische Diplomaten dazu auf, sich mit social media, sozialen Netzwerken im Internet, ausei-nanderzusetzen. Was er und andere übersehen: Autoritäre Regierungen dürften das Zeitalter des Internets nicht nur relativ unbeschadet überstehen – sie nutzen es bereits, um die Herausforderungen der Moderne zu bekämpfen.
Ist die wachsende Faszination für social media ein Zeichen unserer Verzweiflung gegenüber konventionelleren Instrumenten diplomatischen Drucks? Sanktionen und Verhandlungen – die bewährten Methoden amerikanischer Machtausübung – bringen uns im Falle von China und Iran nicht wirklich weiter. Social Media als Instrumente der Außenpolitik haben den entscheidenden Vorteil, unerprobt zu sein. Noch ist nichts schiefgegangen – daher muss es funktionieren.
Werden also die unterdrückten Massen in autoritären Staaten auf die Barrikaden gehen, wenn sie erst einmal Wikipedia und Twitter frei nutzen können? Das scheint eher unwahrscheinlich. Die zunehmend vom Technik-Utopismus beherrschte Debatte über die Rolle des Internets bei der Demokratisierung bedarf dringend der Mäßigung. Revolutionärer Wandel, der starke autoritäre Regime zu Fall bringen kann, erfordert einen hohen Grad an Zentralisierung unter den Gegnern. Das Internet hilft hier nicht immer weiter. Man kann vielleicht „ohne Organisationen organisieren“ – so der Untertitel von „Here Comes Everybody“, Clay Shirkys Bestseller aus dem Jahr 2008 –, der die Macht der social media untersucht. doch es gibt keine Revolution ohne Revolutionäre.
Entgegen der utopischen Rhetorik, die Anhänger von social media gebrauchen, erschwert das Internet den Sprung vom Wort zur Tat oft nur und verhindert kollektives Handeln unter dem Druck endloser interner Debatten. Das erklärt vielleicht die Hilflosigkeit der Proteste im Iran: Dank des geselligen und dezentralistischen Charakters des Internets ist die grüne Bewegung des Iran in so viele konkurrierende Debattierclubs gespalten – von denen manche vor allem aus Iranern in der Diaspora bestehen –, dass sie sich am Vorabend des 31. Jahrestages der islamischen Revolution nicht versammeln konnten. Womöglich ist die grüne Bewegung somit an ihren eigenen Tweets zugrunde gegangen.
Zudem tut die Regierung das ihrige, Oppositionelle zu behindern. Sie schränkte nicht nur die Kommunikation via Internet ein, sondern ihre Mitglieder beziehungsweise die Regierungstreuen überschwemmten iranische Webseiten mit Videos von fragwürdiger Echtheit, um die Opposition zu provozieren und zu zersplittern. In einem dieser Filme verbrannte eine Gruppe von Demonstranten zum Beispiel das Porträt von Ali Khamenei. Unter solchen Bedingungen ist unklar, ob die Online-Gesprächspartner, die sich als Mitglied der grünen Bewegung ausgeben, nun die Leute von nebenan, hyperaktive Iraner in der Diaspora oder Agenten der Regierung sind. Wer kann es Iranern daher verdenken, wenn sie nicht das Risiko eingehen, auf die Straße zu gehen, wo sie ohnehin nur festgenommen würden? Im Zeitalter des Spinternet, in dem billige Online Propaganda mit Hilfe von regierungsnahen Bloggern günstig zu haben ist, herauszufinden, was Mitbürger über das Regime denken, fällt schwerer, als man vermuten würde. Bedenkt man außerdem die Überwachungsmöglichkeiten in modernen autoritären Staaten – die über social media gesammelten Informationen können heute mit Hilfe des Data Mining analysiert werden –, dann begreift man allmählich, warum die grüne Bewegung im Iran ins Stocken geriet.
Wir denken so viel über die Dissidenten nach und wie das Internet ihr Leben verändert hat, dass wir fast vollständig ignorieren, wie das Internet das Leben des nicht-politisierten Durchschnittsnutzers beeinflusst, der für jede demokratische Revolution von entscheidender Bedeutung wäre.
Während die amerikanische Öffentlichkeit eine kontroverse Diskussion über die Auswirkungen des Internets auf unsere Gesellschaft führt und fragt, wie sich neue Technologien auf die Privatsphäre oder unsere Art zu denken auswirken, kehren wir in Diskussionen über die Rolle des Internets in autoritären Ländern solche Feinheiten unter den Teppich. Das hat fast schon den Beigeschmack eines umgekehrten Orientalismus: Einerseits sorgen wir uns, ob das Internet nicht das gesellschaftliche Engagement amerikanischer Teenager vermindert, andererseits gehen wir davon aus, dass ihre Altersgenossen in China beziehungsweise im Iran engagierte Weltbürger sind, die sich im Web mit den Menschenrechtsverletzungen ihrer Regierungen vertraut machen. Das soll nicht heißen, dass es dort keine jungen Menschen gäbe, die das Internet zum Protest genutzt hätten es gibt sie, und ihr Mut verdient unseren Beifall. Wir sollten jedoch nicht aus den Augen verlieren, dass sie eine winzige Minderheit darstellen.
Wir betrachten moderne autoritäre Systeme als endlosen Kampf zwischen Staat und Anti-Staat in Form von pro-westlichen und pro-demokratischen Oppositionellen, und übersehen so, dass das öffentliche Leben in diesen Gesellschaften anders strukturiert ist. Nicht alle Gegner des russischen, chinesischen oder auch ägyptischen Staates lassen sich in das neoliberale Schema pressen. Nationalismus, Extremismus und religiöser Fanatismus haben Hochkonjunktur Hisbollah und die Moslembruderschaft sind auch online aktiv. Facebook und Twitter stärken alle – nicht nur die uns sympathischen pro-westlichen Gruppen.
Die Frauenbewegung nutzt Facebook, um ihre Anliegen in Saudi-Arabien voranzutreiben religiös Konservative stellen eine Version des „Komitees zur Förderung der Tugend und Bekämpfung des Lasters“ online. Ähnlich freuen sich nationalistische russische Gruppen, Cyber-Attacken auf ausländische Regierungen zu organisieren sie verwenden sogar Online-Landkarten, um ethnische Minderheiten in Russland zu orten. Wir begreifen nicht, dass manche Organisationen der Zivilgesellschaft mit Hilfe des Internets möglicherweise auf unzivile Ziele hinarbeiten. Stattdessen klammern wir uns an die antiquierte Überzeugung, dass in autoritären Regierungen nicht-staatliche Macht per se gut ist und zu Demokratie führt, während staatliche Macht in Unterdrückung resultiert.
Trotz dieser Vorbehalte wäre es unvernünftig, würde die amerikanische Regierung ihre Bemühungen einstellen, Demokratie über das Internet zu fördern. Sie sollte jedoch damit aufhören, amerikanischen Technologiefirmen eine Unzahl von Verzichtserklärungen aufzuerlegen, wenn diese Internetdienste in autoritäre Länder exportieren. Dass Messenger von Microsoft im Iran nicht verfügbar ist, liegt nicht etwa daran, dass es ein Hassobjekt der iranischen Regierung wäre, sondern daran, dass Microsoft in Washington mühsam darum kämpfen müsste, die zahllosen Auflagen der US-amerikanischen OFAC (Office of Foreign Assets Control) zu umgehen.
Zudem gibt das zunehmende Kuscheln von Diplomaten mit Top-Managern der führenden Technologieunternehmen etwa in Form von Reisen in Länder wie Russland und den Irak Anlass zur Sorge. Es ist zu begrüßen, dass Obamas jugendliche Bürokraten sich mit den gescheitesten Köpfen des Silicon Valley zusammentun. Doch die Botschaft, die so an den Rest der Welt geht, Google, Facebook und Twitter seien der verlängerte Arm des amerikanischen Außenministeriums, könnte das Leben derjenigen gefährden, die diese Dienste in autoritären Ländern nutzen. Die Diplomatie der US-amerikanischen Regierung sollte womöglich nicht den Anforderungen eines „Open Government“ unterliegen. Wenn Diplomatie funktioniert, liegt das gewöhnlich daran, dass sie hinter verschlossenen Türen stattfindet. Dies mag im Zeitalter twitternder Bürokraten immer schwerer zu realisieren sein.
Aus dem Englischen von Claudia Kotte. Der Text ist die gekürzte Fassung eines Artikels, der am 20. Februar 2010 im Wall Street Journal erschien.
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