Die Masse im Visier

von Matteo Pasquinelli

e-volution. Wie uns die digitale Welt verändert (Ausgabe III/2010)


Der Mythos, dass Maschinen eines Tages die Kontrolle über die Menschheit, der sie ihre Existenz verdanken, übernehmen werden, ist nach einem Jahrhundert Science-Fiction, von Samuel Butlers Roman „Erewhon“ aus dem Jahr 1872 bis zum Film „Matrix“ von 1999, zum Volks-Aberglauben geworden. Derartige negative und eindeutig reaktionäre Visionen bilden den gegenwärtigen Konflikt. um die Ausbeutung der Menschen durch Maschinen ab. Sie stützen sich auch unverkennbar auf die technodeterministische Annahme, dass die Entwicklung der Maschinen völlig unabhängig von der politischen Macht des Sozialen verlaufe.

Die Geschichte der Medien ist eine Geschichte der kontinuierlichen Akkumulation von Energie, eine Geschichte von Paradigmen-Brüchen und von Übergängen aufgrund eines einzigartigen Moments – einer Singularität. Dabei reproduziert sich ein und dieselbe Ökonomie über alle Abfolgen von Krisen und Brüchen hinweg, von einer Produktionsform zur anderen, sodass man beinahe den Moment der Singularität selbst als das bestimmende Wirtschaftsmodell betrachten könnte, die sich ja aus den Effekten der Akkumulation und der Verwandlung von einfachem Geld in Finanzkapital speist.

Im Gegensatz dazu wird derzeit häufig versucht, digitale Medien, besonders das Internet, wenn es zum Vorbild einer neuen politischen und sozialen Ordnung erklärt wird, als eine demokratische und horizontale Form zu begreifen, die eine neue ökonomische Gleichheit und neue Formen einer Ökonomie der Gabe hervorbringen soll. Die aktuelle Debatte ums Netz geht oft von eindimensionalen Annahmen aus, ohne auch nur eine einzige Paradigmen-Krise tatsächlich zu berücksichtigen, wie man beispielhaft an den ideologischen Vorstellungen über Creative Commons (des schöpferischen Gemeingut), die freie Netzkultur oder eine gleichberechtigte Kommunikation zwischen Rechnern sehen kann.

Es ist nicht nötig, an dieser Stelle die Thesen derer zu wiederholen, die im Netz ein Universum kontinuierlicher, progressiver und vorhersehbarer Expansion sehen. Viel aufschlussreicher dagegen erscheint die Frage, wem überhaupt die Assymetrie zwischen ausufernder Datenproduktion und Netzleistung aufgefallen sein könnte.

Eine Sonderausgabe des Economist vom 25. Februar 2010 bleuchtet ein weitgehend unbeachtet gebliebenes Ereignis von gleichwohl „geologischer” Tragweite für die Welt der Information. Die kollektive Datenproduktion, online wie offline, ist dabei, sich unvorstellbar auszudehnen und dabei die Erweiterung der Speicher und das Leistungsvermögen des Netzes weit hinter sich zu lassen. Der Economist veranschaulicht das Verhältnis anhand des folgenden Beispiels: „Wal-Mart, eine riesige Einzelhandelskette, wickelt mehr als eine Million Verkäufe pro Stunde ab und füttert damit Datenbanken mit einer geschätzten Größe von mehr als 2,5 Petabytes – das entspricht dem 167-Fachen der Information sämtlicher Bücher in der größten Bibliothek der Vereinigten Staaten, der Library of Congress.“

Der Fluss von Daten erreicht also eine solche Dichte, dass damit so etwas wie ein neuer Kontinent im Netz entsteht. Es ist bekannt, dass sich an diesem alltäglichen und kontinuierlichen Fluss von „living data“, von sich verändernden Daten, vor allem große Monopol-Firmen wie Google bereichern, da deren Server den Datenstrom ohne Unterlass aufsaugen und zu wertvollen Metadaten verrechnen, also zu Daten, die Informationen über andere Daten enthalten und so Tendenzen für Datenströme erkennen lassen.

In dem erwähnten Artikel entwirft der Economist ein Szenario, das diesem Überschuss von Daten auf einer höheren strategischen Stufe begegnet, nämlich auf der Ebene der Ökonomie mit einer Politik der Metadaten. Denn eine Gesellschaft der Metadaten verwirklicht sich auf einer anderen politischen Ebene als all jene längst bekannten Utopien der Netzgesellschaft. Allerdings scheint ihre Wende ins Totalitäre bislang unbemerkt geblieben zu sein: „Es gibt weltweit eine riesengroße Menge an digitaler Information, die ständig schneller anwächst. Dadurch werden Dinge möglich, die zuvor nicht machbar waren: Trends frühzeitig erkennen, Krankheiten verhüten, Verbrechen bekämpfen usw. Richtig angewandt, können diese Daten neue Quellen von ökonomischem Nutzen erschließen, zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen führen, und dazu beitragen, Regierungen zur Verantwortung zu ziehen.“

Der Economist beschränkt sich darauf, hervorzuheben, wie diese Anhäufung von Daten den nächsten wirtschaftlichen Evolutionssprung im Netz vorbereitet, der als industrielle Datenrevolution bezeichnet wird. Doch es sieht so aus, als hätte das globale Hirn seine liebe Mühe, mit der Informations-Überfülle seines Körpers mitzuhalten. Aber tatsächlich gibt es, aller Finanz- und Energiekrisen zum Trotz, ein Gesetz, an dem in den letzten Jahrzehnten nie Zweifel laut wurden, nämlich Moore’s Law vom exponentiellen Fortschritt der Informationstechnik. Es besagt, dass die Rechenleistung von Mikrochips sich alle 18 Monate verdoppelt.

Diese optimistische Vorhersage trifft gegenwärtig auf eine weitere grundsätzliche Grenze, nämlich auf den ebenfalls exponentiellen Anstieg von„living data“, sich ständig verändernder Informationen. Die exponentielle Kurve der Datenproduktion scheint immer steiler anzusteigen und überholt dabei die Zunahme an verfügbarem Speicher, und zwar mit einigem Abstand. Die Menge der von den Nutzern generierten Informationen, persönliche Daten ebenso wie Datenströme rund um materielle und immaterielle Güter und Dienstleistungen, ist bereits außer Kontrolle geraten. In der Welt der Information greift eine Art Krise immaterieller Überproduktion um sich. Und sie scheint, wenig überraschend, nicht den herkömmlichen Mustern materieller Überproduktions-krisen zu folgen.

Die meisten der zeitgenössischen Theorien zur digitalen Kultur und zur Wissensökonomie ziehen nicht in Betracht, dass es eine Grenze des Wachstums oder eine kritische Masse geben könnte. Fast alle Denkschulen der sozialen Netzwerke, wie etwa die der freien Netzkultur oder „Kreativ-Wirtschaft”, ignorieren derartige Asymmetrien, Spannungen und Widersprüche innerhalb der digitalen Sphäre. Deshalb scheint es heute viel dringender, eine politische Ökonomie des Mehrwerts im Netz neu zu bedenken, als weitere Wirtschaftsformen netzbasierter Kooperation zu beschreiben.

Wer profitiert von der gigantischen Überproduktion an Daten? Während die alternative Netzkultur sich verpflichtet fühlt, weiterhin die freie Kultur zu verteidigen, zeigen globale Produkte wie das iPad oder neue Konflikte wie die Auseinandersetzung zwischen Google und der chinesischen Regierung, welche Positionen für die Kontrolle der globalen Datenströme tatsächlich entscheidend sind.

Der französische Philosoph Gilles Deleuze hat in seinem kurzen Essay „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften” versucht, sich die weitere Evolution der Diszi-plinargesellschaft vorzustellen, so wie sie Michel Foucault beschrieben hat (basierend auf homologen Institutionen wie der Familie, der Schule, der Fabrik, der Kaserne und dem Gefängnis). Deleuze schrieb: „Man braucht keine Science-Fiction, um sich einen Kontrollmechanismus vorzustellen, der in jedem Moment die Position eines Elements in einem offenen Milieu angibt, Tier in einem Reservat, Mensch in einem Unternehmen [...]. Was zählt, ist nicht die Barriere, sondern der Computer, der die – erlaubte oder unerlaubte – Position jedes Einzelnen erfasst und eine universelle Modulation durchführt.“

Die Gesellschaft der Metadaten kann man als letzte Ausweitung dieser Kontrollgesellschaft verstehen: Heute geht es nicht mehr darum, die Position eines Individuums zu bestimmen (die Daten), sondern die allgemeine Tendenz der Masse zu erkennen (die Metadaten). Schon Deleuze wies auf die kollektive Dimension der Daten hin: „Die Individuen sind ‚dividuell‘ geworden, und die Massen zu Stichproben, Daten, Märkten oder ‚Banken‘.“

Um ein konkretes Beispiel zu nennen: „Flu Trends“ ist ein Service von Google, der dazu eingesetzt werden kann, die Ausbreitung saisonaler Grippewellen vorherzusagen und sie auf detaillierten Karten global wie regional zu visualisieren. Dazu heißt es: „Google hat festgestellt, dass die Häufigkeit bestimmter Suchbegriffe, z.B. ‚Grippe‘, Anhaltspunkt für die Häufigkeit von Grippefällen sein kann. Für die Google-Grippe-Trends werden Daten der Google-Suche gesammelt und ausgewertet. Auf Grundlage der Ergebnisse wird anschließend die Häufigkeit von Grippefällen geschätzt.“

Bei dem scheinbar völlig harmlosen Verfahren, das Google einsetzt, um die Ausbreitung von Grippewellen zu verfolgen, handelt es sich um genau dasselbe System, mit dem tagtäglich Marktanalysen in einem gigantischen Datenpool durchgeführt werden (praktisch die gesamte Bevölkerung der westlichen Länder betreffend). Die Analysen der Metadaten können ebenso gut dazu verwendet werden, Krankheiten vorzubeugen wie die neuesten Tendenzen am Markt vorherzusagen – bergen aber auch die Möglichkeit, illegale Tendenzen aufzudecken oder neue politische Bewegungen zu bespitzeln. Wozu könnte es führen, wenn der Algorithmus von Google-Trends auf soziale Fragen, politische Kundgebungen, Streiks oder den Aufruhr in den Peripherien der europäischen Metropolen angewandt wird?

Zurzeit begründet sich die Kontrollmacht des Netzes in der spontanen Datenproduktion der Gesellschaft. Es bedarf weder einer Anordnung noch externer Disziplinierung, um die Informationen zu erhalten. Die entscheidende Aufgabe einer Netzpolitik liegt deshalb nicht darin, wieder und wieder das immaterielle Allgemeingut zu verteidigen, sondern zu verstehen, wann die Akkumulation sozialer Informationsproduktion zu neuen Eigentumsformen führt, die auf ökonomischer Ebene ausgebeutet und auf politischer kontrolliert werden.



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