Wenn man auf Twitter fünf Millionen Follower hat, sind das nicht fünf Millionen Freunde und jeder, der auch nur ein bisschen Verstand hat, weiß das. Vielleicht glauben manche Menschen heute, dass es mehr auf die Anzahl als auf die Qualität ihrer Beziehungen ankommt. Diese Sicht teile ich ganz und gar nicht. Ab einer bestimmten Zahl von Kontakten wird das Ganze bedeutungslos. Menschen haben 2000 Freunde auf Facebook, aber nur wenige, mit denen sie wirklich teilen wollen, was ihnen wichtig ist. In Zukunft werden Wörter wie „Freund“ deshalb womöglich anders definiert. Schon jetzt unterscheidet man zwischen „Facebook-Freunden“ und „richtigen Freunden“.
Trotzdem herrscht heute ein großer Wettbewerb um Kontakte. Es gibt Leute, die ihren Wert an der Zahl ihrer Facebook-Freunde oder Twitter-Follower messen. Jeder dieser Faktoren sagt etwas über dich aus, beweist aber noch lange nicht, dass du ein guter Mensch bist. Soziale Netzwerke sind in erster Linie ein Werkzeug. Die einen sind gesellig und möchten über Facebook mit Menschen in Kontakt bleiben, die anderen fühlen sich alleine wohler und nutzen diese Plattform für das genaue Gegenteil: um sich Leute vom Leib zu halten. Man muss sie ja nicht mehr persönlich treffen, um zu kommunizieren.
Beziehungen werden immer von den Umständen geprägt. Im Netz stellt man vielleicht plötzlich fest: Menschen, die man ansonsten gemocht hätte, sind ganz schlecht in Rechtschreibung. Das ist wie mit krummen Zähnen. Manche Leute stören sich daran, andere nicht. Vielleicht ist das nicht grundlegend, aber solche Merkmale beeinflussen, wie Menschen einander in der virtuellen Welt wahrnehmen. Die Hemmschwelle, miteinander in Verbindung zu treten, ist niedriger, aber man sollte sich nicht täuschen. Über digitale Medien kann man zwar nahezu jeden Menschen kontaktieren. Dies bedeutet aber noch lange nicht, dass er dir auch antwortet. Wenn du über das Internet den Apple-Chef Steve Jobs erreichen kannst, heißt es eben auch, dass ihn Millionen anderer Menschen erreichen können. Die schwachen Bindungen, die das Internet ermöglicht, helfen vor allem dabei, sich beruflich zu vernetzen. Ich bin dafür ein Paradebeispiel, weil ich so meine Interessen für Raumfahrt, Informationstechnologie und das Gesundheitswesen verbinde.
Durch die digitalen Medien haben wir also mehr Macht und weniger Angst, mit Autoritäten zu sprechen. Wir können uns auch vielfältiger ausdrücken. Gleichzeitig geben uns die technischen Werkzeuge das Gefühl, unser Leben besser kontrollieren zu können. Wenn es aber zu viele Möglichkeiten gibt, kann dies verwirren. Plötzlich denkt man: „Ich bin nicht glücklich mit meinem Mann, es muss doch jemand Besseren geben“ oder „Ich bin nicht glücklich, wo ich wohne.“ Menschen sind nie zufrieden. Wenn sie ihre Freunde nicht mehr mögen, können sie im Internet neue finden. Also investieren sie vielleicht weniger in ihre aktuellen Beziehungen.
Digitale Medien verändern unsere Gene nicht, aber bringen unser Wesen deutlicher zum Ausdruck. Wie wir uns in der virtuellen Welt verhalten, hängt wesentlich davon ab, was uns als Menschen auszeichnet. Das wiederum hat viel damit zu tun, wie wir aufwachsen und was wir zu Hause lernen. Wurde man durch die Eltern zu einer starken Persönlichkeit gemacht? Oder haben sie einen kleingehalten und gar missbraucht? Individuen reagieren auch auf gesellschaftlichen Druck. Was Leute von sich mitteilen, hängt beispielsweise stark von sozialen Normen ab. Für ein Forschungsprojekt habe ich meine Erbanlagen analysieren lassen und diese Informationen online zur Verfügung gestellt. Ich wollte den Menschen zeigen, dass niemand meine Identität stehlen kann, nur weil mein Genom öffentlich ist.
Vielleicht bin ich aber in einer Hinsicht altmodisch: Ich denke, wir leben zu schnell. Auch in unseren Beziehungen. Wir erwarten unverzügliche Antworten. Wenn jemand nach zwei Stunden noch nicht auf unsere E-Mail geantwortet hat, denken wir: Warum schreiben sie nicht? Wir messen und zählen zu viel. Minuten, Freunde, den Blutdruck. Jede ungenutzte Minute erscheint uns wie eine verpasste Chance. Man könnte ja immer sein iPhone anstellen und nachschauen, was gerade irgendwo passiert.
Jeden Tag verbringe ich 50 Minuten im Wasser. Ich schwimme und denke nach. In dieser Zeit kommuniziere ich mit niemandem, notiere nichts, lese keine E-Mails. Das ist meine Art, mich gegen die Geschwindigkeit der Welt zu wehren. Dabei habe ich sogar dafür trainiert, mit wahnsinnigem Tempo in den Weltraum zu fliegen. Ich möchte die Schwerelosigkeit erleben. Werden wir uns in der Zukunft wieder entschleunigen oder unser kurzfristiges Denken zu unserer Natur werden lassen? Ich weiß es nicht, aber glaube, wir sind dafür gemacht, langsamer zu leben, als wir es tun.
Protokolliert von Carmen Eller
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