Eine Auferstehung aus dem Grabe ist im magischen Realismus der lateinamerikanischen Literatur jederzeit vorstellbar. In dem Buch „Die Harfe und der Schatten“ des Kubaners Alejo Carpentier zum Beispiel steigt der Entdecker Christopher Kolumbus aus seiner Gruft und nimmt im Vatikan an Beratungen über seine Seligsprechung teil. Verblüfft erfährt der Tote, wie ihn seine Fürsprecher moralisch verklären und dann doch Zweifel an seiner irdischen Vergangenheit hegen. Ein Ausflug dieser Art in die gegenwär-tige Welt der Lebenden wäre erst recht einem anderen Granden der Geschichte zu gönnen. Simón Bolívar, der Vater eines gewichtigen Teils der südamerikanischen Unabhängigkeit, würde mit vermutlich ähnlicher Überraschung erleben, wie er es bald 200 Jahre nach seinem Tod mancherorts zum Nationalheiligen geschafft hat. Vor allem daheim, im aktuellen Reich seines selbsternannten Wiedergänger Hugo Chávez.
Halb Venezuela trägt unterdessen seinen Namen, damit hätte Bolívar seinerzeit nicht rechnen können. Er starb verarmt in kolumbianischer Tristesse und war zu Lebzeiten mehrmals aus der Heimat geflüchtet, ehe sein Feldzug durch die heutigen Nationen Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivien gelang. Knapp zwei Jahrhunderte später machte Chávez Venezuela zur Bolivarischen Republik Venezuela. Schulen verwandelten sich in Bolivarische Schulen, Kindergärten in „Simoncitos“, die schwache Währung bekam den etwas irreführenden Titel „Bolívar Fuerte“, „Starker Bolívar“. Eine Hauptstraße von Caracas heißt schon länger Avenida Bolívar und der Hauptplatz im Zentrum Plaza Bolívar, in der Mitte steht natürlich eine Bolívar-Statue, alles Treffpunkte rotbekleideter Chavisten. Seine stundenlangen Reden hält der presidente bevorzugt vor einem Ölgemälde des libertadors. Und am Mausoleum mit den mutmaßlichen Resten wiederholte Chávez den römischen Schwur seines Idols: Er werde nicht ruhen, „bis wir die Oligarchie, die deinen Traum verriet und dein vor 200 Jahren begonnenes Werk zerstörte, restlos beseitigt haben“, was die venezolanische Oberschicht getrost als Drohung verstehen darf.
An diesen vorläufigen Gipfel der Bolívar-Manie knüpft der Kulturwissenschaftler Norbert Rehrmann zu Recht seine exzellente Biografie der Ikone. Das Phänomen haben Heerscharen von Historikern und Schriftstellern vor ihm untersucht – in Gabriel García Márquez’ Werk „Der General in seinem Labyrinth“ wurde die traurige Schluss-etappe des Anden-Napoleon auf literarisches Weltniveau gehoben. Aber angesichts der Politwende in Bolívars ehemaligem Revier gab es nun erst recht Anlass für eine zeitgenössische Betrachtung. Außer vielleicht dem ewigen Guerillero Che Guevara wird ja vor allem von den neuen Revolutionären um Chávez kein anderer Freiheitsheroe mit solch religiöser Inbrunst bewundert und benützt. Sogar Rehrmanns Buch „Die Lebensgeschichte des Mannes, der Lateinamerika befreite“ trägt eine kleine Überhöhung im Titel, denn Bolívar war trotz seiner Abstecher in den Norden vor allem in Südamerika erfolgreich. Doch der Autor beschreibt sehr schön und frisch, wie es dieser Stratege und Schwerenöter aus bestem Hause trotz aller Rückschläge zum Seriensieger über die spanische Kolonialmacht und Herrn über vier Staaten brachte, vom Vertriebenen zum Kultobjekt von links und rechts, von Künstlern und Literaten.
Was für eine Renaissance! Selbst Chávez’ rätselhaftem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ dient der vielseitige Eroberer als Modell, dabei hatte er mit dem Fußvolk eher wenig zu tun gehabt. Simón José Antonio de la Santísima Trinidad de Bolívar y Palacios wurde 1783 als Sohn eines eingewanderten Großgrundbesitzers geboren. Der nachmalige Feldherr war ein Spross jener verwöhnten Elite, die Chávez für die Ursache der kontinentalen Übel hält. Der Bolívar-Clan genoss Reichtum und Bildung, der clevere Simón bekam die besten Lehrer, darunter den prominenten Simón Rodríguez. Er reiste und vergnügte sich nach Belieben. Er erbte Ländereien, Residenzen, Minen, Plantagen, wobei ihm wegen Verschwendungssucht und Spendiergeist irgendwann das Geld ausging. Jedenfalls „war es dem Sprössling einer reichen Kreolenfamilie nicht in die Wiege gelegt, zum Amerika-Befreier zu werden“, wie Rehrmann vermerkt. Seine Sippe litt keineswegs unter dem kolonialen Joch und die elitäre Herkunft und Weltsicht begleitete den späteren Waisen auf seiner kurzen und intensiven Odyssee.
Dennoch wandte sich niemand so entschlossen gegen das Königreich „aus dem Land hinter den Pyrenäen“ wie dieser begüterte Bonvivant, der die Spanier fortwährend als „Henker“ und „Tiger“ bezeichnete. Das Urteil traf zu: 90 Prozent der südamerikanischen Ureinwohner wurden von den Konquistadoren massakriert, es war einer der schlimmsten Völkermorde der Weltgeschichte. Nur war und ist die kreolische Minderheit politisch oft nicht weniger ignorant, darunter leidet die Region bis heute. Bessergestellte Kreise von Caracas oder der bolivianischen Stadt Santa Cruz vermitteln zuweilen den Eindruck, als seien der ehemalige Fallschirmjäger Chávez oder der frühere Kokabauer Evo Morales vom Himmel gefallen – viele verstehen nicht, dass beide Aufsteiger Produkt der sozialen Verhältnisse sind, weil sie die Slums meistens nur vom Hörensagen kennen und sich in ihren Villen hinter Mauern vor der Realität verschanzen. Jedenfalls – Bolívar hasste die Iberer der Madre Patria, obwohl er außer Rom, London und dem revolutionären Paris auch gerne Madrid aufsuchte, am Hofe Federball spielte und sich später in eine verheiratete Spanierin verliebte.
Ein lebensfroher Heißsporn also ritt gegen das spanische Weltreich an und legte „den Grundstein für die Freiheit Südamerikas“. Er propagierte einerseits die Ideale Voltaires und Montesquieus und hielt andererseits an einer Zwei-Klassen-Gesellschaft und an einem autoritären Zentralismus fest. Die napoleonischen Krönungen im fernen Europa stießen ihn ab und zogen ihn an. Allerdings erlebte schon Bolívar in jenen Jahren, dass ohne weitläufige Basis kein Staat zu machen ist. Entscheidenden Beistand leisteten ihm zwischenzeitlich die wilden Reiter des venezolanischen Tieflands und einstigen Sklaven. Der „Krieg auf Leben und Tod“ war sein Elixier. Über die Schlachtfelder von Boyacá bis Carabobo gelangte er bis 1824 an die Spitze von Neu-Granada, Venezuela, Peru und Bolivien. Der cäsarische Taktiker begrub ein spanisches Imperium, in dem die Sonne nicht untergegangen war.
Vor allem für Neulinge schildert Rehrmann wunderbar die Chronologie der Niederlagen und Triumphe. Und widmet sich besonders Ehrgeiz und Machtinstinkt dieses Latin Lovers mit seinen ständigen Affären, die ihn ebenso auslaugten wie der ständige Einsatz an allen Fronten. „Soldat am Tag. Liebhaber in der Nacht“ – Bolívar war passionierter Schürzenjäger und ruhmverliebter Krieger, begabter Tänzer und getriebener Solist. Ehrgeizig, eitel, besessen. Ein Rhetoriker, der großartige Texte schrieb und flammende Reden hielt, dessen wohlfeile Inhalte aber nicht immer zu seinem Handeln passten. Ein egomanischer Aristokrat, der laut eigener Beschreibung selbst im Kugelhagel meditieren konnte. Ein frühreifer, machtgieriger und am Ende tragischer Supermacho mit eisernem Willen, der bald ahnte, dass er irgendwann stürzen würde. Eine Persönlichkeit, so gegensätzlich wie Lateinamerika.
Machiavelli Bolívar gab den liberalen Erneuerer „gegen die infame Sklaverei“. Und lebte Klassendünkel und absolutistische Repression. Er propagierte hier regelmäßige Wahlen und dort die starke Führerfigur, zu viel Demokratie waren ihm und seinem Gefolge stets suspekt. Er predigte, dass er „die totale Macht verabscheue“, und riss sie immer wieder an sich: „Solange ich das Schwert in der Hand halte, gibt es hier weder Tyrannen noch Anarchie.“ Er witterte, vielfach zu Recht, überall Feinde und verräterische Partner bis Rivalen wie Santander, San Martín, Sucre. „Ich fürchte den Frieden mehr als den Krieg“, gab Bolívar zu. Grundzüge eines klassischen Caudillo. Auch an diesen Gegensätzen orientiert sich Hugo Chávez, der alle möglichen Abstimmungen gegen die Opposition gewinnt und gleichzeitig den Rechtsstaat aushöhlt.
Rehrmann analysiert Erfolg und Versagen einer ebenso beeindruckenden wie kuriosen Gestalt. Es ist die Geschichte einer sagenhaften Reise mit tragischem Ende, weil Bolívar die Tagespolitik ungleich schwerer fiel als der permanente Kampf. „Südamerika ist von uns unregierbar“, klagte er, als die Selbstzweifel und Krankheiten überhandnahmen. Rehrmann schreibt vom „Niedergang eines politischen Projekts, das zu einer offenen Ein-Mann-Diktatur verkam“. Die glorreichen Siege mündeten in Bruderkämpfe und Separationen, in Bolívars Depressionen und den frühen und einsamen Tod 1830 in der kolumbianischen Karibik. Der idealistische bis größenwahnsinnige Traum vom vereinten Lateinamerika und künstlichen Megagebilde Großkolumbien zerfiel womöglich für immer. Unterdessen sind das rechts regierte Kolumbien und das links regierte Venezuela eher zerstritten und ein Regionalpakt unter dem Kürzel ALBA (Morgenröte) vereint im Namen des toten Visionärs hauptsächlich Caracas, Havanna, Managua und Quito. Trotz vieler Gemeinsamkeiten und Ansätzen weitreichender Unionen werden sich die lateinamerikanischen Länder anders als Europa nicht einig.
Dennoch verschaffte der umstrittene Erlöser von der spanischen Knute dem Subkontinent Selbstbewusstsein und schuf eine Führerfigur, die heute mehr gepriesen wird denn je. Die postume Verehrung fasziniert Rehrmann und mit ihm den Leser besonders. Dichter von José Martí bis zu Rubén Darío und Pablo Neruda erhoben Bolívar zum „nobelsten Sohn“, zum „genialen Alleskönner“, zur „göttlichen Stimme“. Gabriel García Márquez verlieh ihm in seinem feinsinnigen und kritischen Roman „das Maximum an Ruhm, das jemals einem Amerikaner, lebendig oder tot, zuteil wurde“. Konservative Politiker und Rebellen bedienen sich gleichermaßen. Für Spötter Karl Marx war Bolívar ein „despotischer Möchtegerndiktator“, doch selbst mit Marx wird die Allzweckwaffe am Vorabend des 200.
Unabhängigkeitsjubiläum kombiniert. Bolívars widersprüchliche Zitate finden in unterschiedlichen Lagern nach Belieben Verwendung. Selten war Simón Bolívar dermaßen populär wie unter Chávez, Morales und den anderen Reitern einer linken Welle, die traditionelle Parteien und Präsidenten hinwegspülte.
Rehrmann beschreibt sehr schön, wie der reiche Kreole Bolívar mit ideologischen Verrenkungen auf diese Weise auch zum Heroen der Entrechteten wurde. Seine Reste, oder das, was man dafür hält, ruhen in einem Mausoleum in seiner Geburtsstadt Caracas. Hugo Chávez steht gerne andächtig mit Staatsgästen dort, und er kam sogar auf die Idee, Bolívars wahre Todesursache von Wissenschaftlern untersuchen zu lassen. Es würde ihn nicht wundern, wenn sein Vorbild einst von finsteren Mächten der Bourgeoisie vergiftet worden wäre. Man darf gespannt sein, was ihm sonst noch alles einfällt. Ansonsten hält der comandante Chávez dem libertador stets einen Stuhl frei, heißt es. Falls es eines Tages klappt mit der Rückkehr.
Simón Bolívar. Die Lebensgeschichte des Mannes, der Lateinamerika befreite. Von Norbert Rehrman. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009.