Fünf und drei waren Marie und Julius, als wir im Sommer 2008 zu unserer Weltreise aufbrachen. Auf uns warteten Länder wie Usbekistan, Vietnam, Australien und Iran. Wir starteten ohne große Sorgen, aber mit „Hundemarken“ für die Kinder, auf denen Telefonnummern und Adressen verzeichnet waren – falls sie uns irgendwo verloren gingen. Benutzt haben wir sie nie. Eine von Tropenmedizinern bestückte Reiseapotheke war auch im Gepäck.
Unsere Kinder sortierten Länder nach Tieren: Kängurus gab es in Australien, Löwen und Elefanten in Namibia, Esel in Syrien und Jordanien und Moskitos fast überall. Oder sie maßen Länder daran, ob es in ihnen ein Meer gab oder eine Wüste. Darum gruppierten sie dann ihre Eindrücke: Marie interessierte sich für traditionelle Kleider, Julius begeisterte sich für Autos oder Spielzeug.
Ich fragte mich oft, wie unsere Kinder das Unterwegssein erlebten und ob sie mit jedem neuen Land das Geschehene vergaßen. Vieles verschwindet, wo immer Neues sich vordrängt. Mehr als wir knüpften Marie und Julius Erinnerungen an Personen. Ein Land war ihnen auf dieser Reise umso präsenter, je näher wir einzelnen Menschen kamen. Unsere anfängliche Angst, die Kinder nicht ein Jahr lang beschäftigen und bei Laune halten zu können, erwies sich als unbegründet. Überall spielten sie mit dem, was sie fanden.
Wenn ich in Damaskus, Teheran oder Vientiane auf einem Spielplatz saß und den Kindern beim Schaukeln zusah, dachte ich manchmal: Zeige mir die Spielplätze eines Landes und ich sage dir, was ihm seine Kinder bedeuten.
Fast überall – ob in Usbekistan, Namibia, Iran, Syrien, Jordanien, Oman, Laos oder Vietnam – gaben diese Gerüstansammlungen ein armseliges Bild ab. Selten gab es mehr als drei Spielgeräte, dazu oft defekt, verdreckt und selbst in den Hauptstädten so dünn gesät, dass man für jede Schaukel dankbar sein musste.
Nirgends ging man herzlicher mit den Kindern um als im arabischen Raum. Vor allem die Männer. In Shiraz, Salalah oder Aqaba genauso wie in Ramsar, Muskat oder in Amman. Zum Beispiel die arabischen Taxifahrer: Regelmäßig erzählten sie während der Fahrt Marie und Julius mit Händen und Füßen Geschichten, versuchten sich in kleinen Zauberkunststücken, schenkten ihnen Süßigkeiten oder hielten eigens irgendwo an, um ihnen eine Kleinigkeit zu kaufen. In Amman lag ein aus Bagdad geflohener Architekt, der aus Angst vor Verfolgung nachts nur mit der Pistole unterm Kopfkissen schlief, stundenlang auf dem Sofa in der Hotellobby und schaute sich Comicfilme mit ihnen an.
In Aqaba spielten die Bediensteten in unserem kleinen Strandhotel mit den Kindern Fußball und im südomanischen Fischerdorf Sadah brachten Fischer ihnen das Meer und seine Lebewesen nahe. In Omans Weihrauchstadt Salalah kaufte ihnen ein bettelarmer Inder, den wir ein Stück im Auto mitgenommen hatten, eine Tüte Popcorn. Und eines Abends saß dort ein Muscheltaucher neben uns am Strand und wich tagelang nicht mehr von uns – wegen Marie und Julius. In der iranischen Wüstenstadt Yazd spielte ein im Hotel jobbender Student tagelang fast ohne Worte mit ihnen.
Wo auch immer man sich den Kindern widmete, tat man es nie aus Gefälligkeit, war es nie Mittel zum Zweck. Wenn Marie oder Julius Fremden ihre Fundsachen zeigen wollten – Strandgut wie Muscheln, Plastikärmchen von Puppen, Blätter, Stöcke und Sandrationen, die sie auf Spaziergängen gesammelt hatten, taten sie es in einem arabischen Land. In Südostasien versuchten sie es gar nicht erst.
Die Aufmerksamkeit konnte aber auch lästig sein, wenn die Menschen die Kinder nur als Mini-Exoten aus Europa im Visier hatten. Vor allem in Iran, wo uns in einem Monat deutlich weniger Touristen als anderswo begegneten und schon gar keine mit kleinen Kindern, waren Marie und Julius häufig nur Attraktionen.
Ihr blondes Haar wurde ihnen zum Verhängnis: Unentwegt wollte man sie anschauen, ablichten, anfassen. Manchmal fühlten wir uns in solchen schaulustigen Szenen wie ihre Bodyguards. Während Julius den Rummel um ihn halbwegs genoss und für jedes Foto ein routiniertes Lächeln auflegte, reagierte Marie allergisch und ging bald nur noch mit Kopftuch auf die Straße. Vergeblich hielt sie Ausschau nach dunklen Kinderperücken.
In Syrien und Jordanien, wo man es schneller respektierte, wenn sie sich gegen ein Foto oder eine Berührung wehrte, schrie dieses schüchterne Mädchen auf einmal Leute an, die ihr zu nahe kamen. Mit der Zeit tat sie es schon vorsorglich und lernte schnell, was „Ich will das nicht“ auf Farsi und Arabisch heißt. Erst als wir in Südostasien eintrafen, fühlten sich die Kinder wieder unbehelligt. Von jenem in Laos typischen Übergriff abgesehen, wo man sich im Zweifelsfall durch einen Griff zwischen die Beine zu versichern suchte, ob ein Kind Junge oder Mädchen war – wie auch bei Julius mit seinen langen Haaren. War man darüber empört, wurde man nur voller Unverständnis angelächelt.
Konnte im Jordantal unser Auftauchen ein Dorf kurzzeitig in Ausnahmezustand versetzen und ließ sich in Aleppo oder Damaskus kein Souk durchqueren, ohne dass unsere Kinder umgarnt und beschenkt wurden, so begegnete man ihnen in Südostasien verhalten, ja gleichmütig. In Hanoi nahm man kaum Notiz von ihnen, genauso wenig wie im Norden Vietnams oder in Laos. Mit einem Lächeln wurden die Kinder dort wohl hin und wieder bedacht. Man kümmerte sich aber nicht weiter um sie. Bis auf einen Mönch in Laos, der in einem Tempel lange mit Marie über seinen Glauben sprach. Der Mönch behandelte sie als Person. Was nachhaltigen Eindruck auf sie machte.
Zu einer eindrücklichen Begegnung kam es in Vietnam. In Hanois „Morning Star Kindergarten“ trafen unsere Kinder auf Sky, eine Waise, die aus einem der Bergvölker im Nordwesten Vietnams stammte. Hätte sie nicht Pflegeeltern, die von den USA aus ihre von immer neuen bürokratischen Hürden verhinderte Adoption vorantrieben und sowohl Kindergartenplatz als auch eine Betreuerin bezahlten, wäre Sky in ein Kinderheim gesteckt worden.
In Südostasien wirkt es häufig so, als würden die Kinder einfach mitlaufen als Schatten der Eltern. In Laos sitzen sie über Stunden hinweg stumpfsinnig neben ihren Vätern oder Müttern. Kollektive Regungslosigkeit: Niemand spielt mit den Kindern, niemand erzählt ihnen etwas oder liest ihnen vor. Die Menschen in Überlandbussen wirken zu erschöpft von der Mühsal ihrer arbeitsreichen Tage, um diese Ruhepause anders zu nutzen, als zu schlafen oder ihren Gedanken nachzuhängen.
Ganz anders in Afrika. In Namibia bastelte ein Hotelangestellter unseren Kindern eine Blechblume und führte sie in die Kunst des Besenkehrens ein. Es war dasselbe Hotel, in dem Marie und Julius eines Abends einen Verkaufsladen aufbauten – bestückt mit Zeichnungen, Fundstücken und Basteleien. Niemand aus den Reihen einer soeben eingetroffenen Studiosus-Reisegruppe kaufte ihnen etwas ab. Man schien eher pikiert. Das afrikanische Hotelpersonal hingegen fand Vergnügen an ihrem Bauchladen, bewunderte die Auslagen ausgiebig und kaufte reihum.
In Otjikondo, im tiefsten Namibia, wurden wir dank der Engländerin Gillian drei Tage auf dem Gelände einer Missionsschule aufgenommen. Mit ihrem Mann Rainer Stommel, der in den 1950er-Jahren als Missionar aus Deutschland nach Namibia kam, sich in Gillian verliebte und sie heiratete, leitet die Engländerin seit gut 15 Jahren die Einrichtung.
Als wir ankamen, drang aus den kreisförmig angelegten Klassensälen kaum ein Laut nach außen. Auch im Speisesaal, wo die Kinder jeden Abend einen Plastikteller voll Maisbrei leerten, taten sie dies wortlos. Erst nach dem Dankgebet ließen sie draußen ihrem Temperament freien Lauf.
Es sind Kinder aus allen Schichten und Ethnien, die in Otjikondo sieben gemeinsame Jahre verbringen und dadurch gute Aussichten haben, in diesem Land nicht unterzugehen. Unsere Kinder halfen im Schulgarten mit, gruben Erde um und sahen, wie die Kinder hier unter der gnadenlosen namibischen Sonne ihr Gemüse anbauten. Das beeindruckte sie tief. Genauso wie ein 80 Kilometer südlich von Otjikondo von den Stommels mitten in einen Slum hineingebauter Kindergarten in Khorixas. Dort gibt man 25 Kindern eine Perspektive. An einem Ort, an dem schon morgens selbst gebrautes Maisbier die Runde macht und viele Menschen fast nichts zu essen haben. Wo es unendlich viel Zeit gibt, aber keine Hoffnung. Nachdem wir durch diesen Wellblechhüttenslum, in dem kein Baum wuchs, gefahren waren, spielten unsere Kinder ein paar Tage lang, sie seien arme Waisenkinder und müssten ihr Geld selbst verdienen.
In Sydney sagte unsere Tochter zum ersten Mal seit acht Monaten: „Hier ist es wie zu Hause.“ Die Menschen hatten auf einmal wieder dieselbe Hautfarbe, die Bürgersteige waren blitzblank und die mit Rasen bestandenen Vorgärten akkurat geschnitten. Zugleich war all das verschwunden, was unser Leben in der Fremde bisher geprägt hatte: das Gewusel, Gehupe, Geschiebe, die Straßen mit ihren überquellenden Läden, das synästhetische Aroma der Fremde: Geruchsmischungen aus Parfum, Gewürzen, Blüten, Müll und Zweitaktergemischen sich permanent überlagernde Geräuschkulissen aus Karaokeklängen, Motorengeheul und Stimmengewirr. Weg war das pulsierende Leben Arabiens und Asiens, das kein Klischee, sondern eine Grundkonstante in der Wahrnehmung dieser Kulturräume ist – auch unsere Kinder erlebten dies so.
Eines aber war überall gleich: Ganz selbstverständlich gehörten Kinder dazu, überall waren Marie und Julius willkommen. Wenn man aus Deutschland kommt, wo Kinder oft genug Störfaktoren sind, lernt man das zu schätzen. Den tiefsten Nachhall aber hatte bis heute ein Abend ganz zu Anfang unserer Reise. In der usbekischen Stadt Samarkand wohnten wir in einer kleinen Pension mit Innenhof, bewachsen wie ein kleiner Garten Eden. Zwei Pakistani, die mit uns dort logierten, sangen und trommelten dort abends für die Kinder. Mit solcher Hingabe, dass es einen schauerte. Den Refrain, in dem ihre Namen vorkamen, singen die Kinder noch heute.