Frau Sarlo, Sie haben sich in Ihren Kolumnen viel mit den USA beschäftigt. Wie ist das aktuelle Verhältnis von Lateinamerika zu den USA?
In jedem Fall muss man unterscheiden zwischen dem Grad an Hegemonie, den die USA auf Mittelamerika, auf einige Zonen der Anden und auf das südliche Südamerika ausüben. Ihr Verhältnis zu Argentinien etwa kann man nicht vergleichen mit dem zu Mittelamerika, wo die USA in der Vergangenheit mehrfach militärisch interveniert haben. Oder mit Kuba, wo sie bis heute einen Militärstützpunkt unterhalten. Die USA wiederum blicken allein schon aus Gründen der Entfernung zu ihrem nächsten Nachbarn, Mexiko. Für Brasilien, die Nation mit dem größten Potenzial in Lateinamerika interessieren sie sich kaum. Für Argentinien, ein zweitrangiges Land, also noch viel weniger.
Wie erklären Sie sich die in Umfragen sehr starken antiamerikanischen Ressentiments in Argentinien?
Die USA werden in Argentinien nicht geliebt. Warum? Weil die Parteien – nicht nur die der Linken, sondern auch die demokratischen – die militärischen Abenteuer der USA im Rest Lateinamerikas immer verurteilt haben. Und aus dem umgekehrten Grund sind Hugo Chávez und Fidel Castro zwei äußerst beliebte Figuren: Weil sie die USA auf der internationalen Bühne angreifen. So ist Argentinien, das nie eine US-Intervention erlebt hat, paradoxerweise eines der Länder, in denen die USA in Meinungsumfragen bei der Bevölkerung auf die höchste Ablehnung stoßen.
Sie selbst sind in Argentinien eine Person, die öffentliche Debatten anstößt. Wie schätzen Sie die Situation der Intellektuellen in den USA ein?
Intellektuelle Debatten in den USA sind schwierig. Der Raum für Debatten in den Tageszeitungen ist beschränkt und Intellektuelle brauchen Medien, Tageszeitungen oder kleine Zeitschriften. Im Unterschied zu den Zeitungen in Argentinien, Brasilien und Uruguay fragen die wichtigen Tageszeitungen in den USA, die Washington Post und die New York Times, also die Medien, die eine öffentliche Sphäre erzeugen, selten bei Intellektuellen um Gastbeiträge an. Zum Glück existiert heute die Möglichkeit, dass Intellektuelle als angegliederte Blogger zumindest in den Online-Ausgaben dieser Zeitungen publizieren. Auch die Idee eines großen Austausches zwischen Politikern und Intellektuellen ist schwer aufrechtzuerhalten. Obama hat zwar Intellektuelle in sein Team geholt, aber er hat auch viele „Washingtoner“, ohne die er auch gar nicht regieren könnte. Alles in allem habe ich den Eindruck, dass die US-Amerikaner politische Fragen vor allem an den Universitäten debattieren. Allerdings werden auch da die Räume für solche Auseinandersetzungen immer weniger.
Was denken die Menschen in Argentinien von Barack Obama?
In Argentinien haben alle Politiker neuerdings einen Blackberry. Und sie sind jetzt auch auf „Facebook“. Das ist der erste „Obama-Effekt“. Aber es gibt auch andere: Die Menschen in Argentinien verspüren eine große Sympathie für Obama. Ich denke aber, aus den falschen Gründen. Viele Argentinier halten Obama für einen Underdog, der eine Wahl gewonnen hat. Aber Obama ist Anwalt, er hat eine Parteikarriere hinter sich und er hat sich gegen Hillary Clinton durchgesetzt. Doch das wird nicht gesehen.
Wie wird sich das Verhältnis von den USA und Lateinamerika künftig gestalten?
Die USA haben zurzeit sehr viele Probleme in anderen Weltregionen, Südamerika steht nicht auf ihrer Prioritätenliste. Obama hat seinen Fokus gesetzt: der Nahe Osten, Israel, die moderaten islamischen Länder, Afghanistan. Auch gibt es zurzeit in Lateinamerika kein Problem für die USA: Die Beziehung zu Mexiko ist so weit stabil, das Land ist durch das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA ein vitaler Teil der nordamerikanischen Wirtschaft. Hugo Chávez ist aufgrund des gesunkenen Ölpreises gezähmt. Ungelöst sind aber weiterhin die Probleme Afrikas. Ich hoffe, dass Obama dafür aufgrund seines eigenen Familienhintergrunds eine größere Sensibilität hat. Denn die weißen Westler haben den Kontinent dem Niedergang überlassen.
Das Interview führte Timo Berger