Notizen von der Front

von Nicholas Kulish

Good Morning America. Ein Land wacht auf (Ausgabe III/2009)


In seinem Roman „Last One In“ erzählt er, wie der Lifestyle-Reporter Jimmy als Kriegskorrespondent in den Irak geschickt wird. Da Jimmy sich während eines Angriffs versteckt hat, wird er vorübergehend von der eigenen Armee festgenommen. Im folgenden Auszug wartet er auf seine Freilassung und spricht mit einem irakischen Gefangenen:

„Kann ich jetzt gehen?“, fragte Jimmy die Wache.
„Sir, wir sorgen dafür, dass Sie fortgebracht werden.“
„Ich bin bei den Marines. Kann ich nicht zurück zu meiner Einheit?“
„Sir, ich habe den Auftrag auf Sie aufzupassen, bis Sie fortgebracht werden.“
Zusammen mit vier Irakern saß Jimmy am Straßenrand. Sie trugen die letzte Heilsarmee-Mode, alte Jeans und Hemden, die direkt aus den Achtzigern stammten. Der Mann neben ihm hatte eine Weste von Christian Dior an, die der Designer wohl eher für Frauen entworfen hatte. Im Gegensatz zu Jimmy, der beobachten konnte, wie die Marines ausrückten, trugen die anderen Gefangenen leere Sandsäcke über den Köpfen. In der Mitte, wo die Augen sein mussten, hatte man die Säcke mit Isolierband abgeklebt. Auf Arabisch murmelte der Mann mit der Weste seinem Kameraden etwas ins Ohr, dann drehte er sich um und fing an, auf Jimmy einzuflüstern.
„Ich verstehe Sie nicht“, sagte Jimmy. Der Mann gab noch mehr unverständliches Gemurmel von sich. „Ich verstehe nichts, kein einziges Wort“, sagte Jimmy nun lauter.
„Englisch?“, fragte der Mann.
„Amerikaner.“ Der Sandsack drehte sich zu ihm um, aber er bezweifelte, dass der Mann durch das Leinen etwas erkennen konnte. „Reporter.“
Er wusste von keiner militärischen Anweisung, wie man mit gefesselten Angehörigen einer fremden Armee in Kapuzen redete.
Die Gefangenen sahen alle schrecklich heruntergekommen aus, dreckig, verlumpt und mager. Ihre Hosen waren zu kurz und ihre Knöchel so dürr, dass er froh war, dass die Männer noch Hemden trugen.
„Soldat?“, wurde er gefragt.
„Journalist“, antwortete Jimmy. „Zivilist.“
„Und warum gefangen?“
„Ich bin kein Soldat. Die wissen nichts, vermutlich haben sie einfach keine Ahnung.“ Er hörte auf. Genau genommen war der Mann ja nicht Jimmys Feind. Jimmy gehörte nicht zur kämpfenden Truppe. Und es schien ihm grob, seinem gefesselten Nachbarn die Konversation zu verweigern, selbst wenn es sich um einen irakischen Soldaten handelte.
„Sie schreiben Wahrheit. Das irakische Volk wurde angegriffen. Deshalb Sie gefangen.“
„Ich denke, die haben einfach keine Ahnung. Ich blick’ ja selbst nicht durch.“ Der Mann schwieg.
„Amis greifen Iraker an. Grundloser Überfall. Wir kämpfen für unser Land. Wir verteidigen uns.“
„Das scheint Ihnen ja gut zu gelingen, nicht wahr? Na ja, wie dem auch sei ...“, sagte Jimmy höflich.
„Wir werden kämpfen!“, wiederholte der Mann.
„Na, dann los.“ Jimmy starrte auf die Handschellen des Mannes. „Lassen Sie sich von mir nicht aufhalten.“
Der Kriegsgefangene drehte den Kopf, aber alles, was Jimmy erkennen konnte, war das stumpfe Grau des Sacks und das silbrige Isolierband. Mit einer Geste, die Jimmy als reuevoll-kläglichen Fatalismus deutete, bewegte der Kopf den Sack vor und zurück.
„Ami go home“, sagte er. „Wir brauchen euch nicht.“
„Würde ich ja gern, aber ich bin genauso gefesselt wie ihr“, sagte Jimmy. „Wie heißen Sie?“
„Mohammed.“
„Mohammed, ich rede nicht gern darüber.“
„Über ‚grundlose Aggression’ der Amis?“
„Ja, genau“, sagte Jimmy.
„Sie können doch nicht ...“
„Genug“, sagte er.
„Aber ...“
„Weshalb sprechen Sie überhaupt mit mir? Da sind doch noch drei richtig nette Kerle aus Ihrer eigenen Armee, die genauso gegen die ‚unprovozierte Aggression der Amis’ kämpfen. Reden Sie doch mit denen.“

Der irakische Soldat murmelte etwas Unverständliches – und zwar so leise, dass Jimmy nicht einmal ausmachen konnte, in welcher Sprache. Der Sack dämpfte seine Worte, weshalb es noch schwerer wurde, überhaupt etwas zu verstehen.
„Ich halte diese Kerle einfach nicht mehr aus“, sagte der Iraki. „Seit einem Monat wir sitzen in diesem Riesenloch. Keine Ahnung, was ich da noch sagen soll. Immer das Gleiche. ‚Meine Frau, meine Frau, ich will zu meiner Frau.’ ‚Für einen Bissen Hühnchen kämpfe ich gegen die Amis – auf Leben oder Tod.‘“
„Ich kann’s mir vorstellen“, sagte Jimmy.
„‚Meine Kinder, ich muss zu meinen Kindern.‘ Oder, oder: ‚Wir müssen nach Basra und uns betrinken.‘“
„Fluchen. Heulen. Schimpfen. Darin sind die Marines auch ganz groß“, erwiderte Jimmy.
„Mein Englisch ist katastrophal.“
„Nein“, sagte Jimmy. „Es ist doch wirklich sehr gut.“
„Dreizehn Jahre habe ich kein Englisch gesprochen“, sagte Mohammed. „Ich habe in den USA studiert.“
„Oh.“ Jimmy stellte sich vor, wie irgendwo in Idaho ein irakischer Erwachsener in Dior-Weste auf einem Highschoolgang den Spind schließt. Klar, als Austauschschüler wird er jünger gewesen sein, und vermutlich besser gekleidet. Es sei denn, seine Gastfamilie bestand aus lauter Sadisten.
„Ich haben Basketball für die Wichita State University gespielt. Das ist schon lange her. Als Iraker und Amerikaner noch Freunde waren. In Englisch bin ich eine Katastrophe jetzt. Beim Basketball auch. Ich hätte zur Olympiade gesollt. Gegen Michael Jordan spielen. Jetzt wir haben nicht einmal Mannschaft.“
„Tut mir leid.“ Jimmy war gar nicht aufgefallen, wie groß der Gefangene war. Seine langen Beine waren zu einem halbherzigen Schneidersitz verknotet. Er hatte es so noch weniger bequem als seine kleineren Kumpane, wenn man hier überhaupt von bequem reden konnte.
„Ich glaube, jetzt bin ich zu alt.“
„Na ja – das kann ich so nicht erkennen – Sie verstehen – wegen des Sacks. Wie alt ...“
„Fünfunddreißig. Zu alt, glaube ich. Aber dieser Michael Jordan, der spielt noch mit vierzig.“
„Wenn Sie so spielen, ist’s kein Problem.“ Der Himmel war fleckenlos rein und die Sonne schlug ungehindert auf sie nieder. Jimmy schwitzte wie verrückt, er spürte, wie er Sonnenbrand bekam, und fragte sich, wie heiß es wohl unter dem Sack war. Als ob er ohnmächtig werden würde, schwankte einer von Mohammeds Landsleuten hin und her, bis er sich schließlich an seinen Nachbarn lehnte.
„Ich fürchte, mit Jordan kann ich nicht mithalten. Aber okay.“ Mohammed drehte den Kopf wieder ein wenig, als wollte er sich orientieren. „Zehn Jahre ist her, seit ihr uns das letzte Mal angegriffen habt. Das waren meine besten Jahre.“ Der Sack schüttelte sich wieder vor und zurück. „Warum bloß dürfen die Amis so ahnungslos sein und trotzdem alles machen? Nicht Sie. Die Amis.“
„Ist schon gut. Ich nehm’s nicht persönlich.“
„Nein“, sagte Mohammed. „Sie sind ein kluger Kerl.“
„Da bin ich mir nicht so sicher. Ich sitze im Nirgendwo auf einer Piste mitten in der Wüste, gefesselt von meiner eigenen Armee.“
„Ihnen ist der Irak ganz einfach egal. Das ist etwas anderes als dumm“, beharrte Mohammed. „In den Achtzigern liebt Daddy Bush Saddam. Saddam kämpft gegen Iran, er ist Daddy Bushs Freund. Saddam krallt sich Kuwait, und alles geht den Bach runter.“
„Daran erinnere ich mich noch“, sagte Jimmy.
„Wenn ihr über uns regiert, baut Baby Bush vielleicht überall im Irak Basketballplätze. Das wäre doch gar nicht so schlecht.“
„Ich kann’s ja mal vorschlagen.“
„Sie sind kein Dummkopf. Ich mag Amerikaner.“
„Sie mögen Amerikaner? Ich dachte, Sie wollten uns umlegen.“
„Die Fedajin wollten die Attacke. Die sind wirklich verrückt. Sie schnappen sich unsere Uniformen. Sagen, sie wollen im Kampf gegen euch fallen. Sie erschießen Hauptmann, als der nicht angreifen will.“
„Ihr wolltet gar nicht kämpfen?“
„Ich schon“, antwortete Mohammed. „Sie marschieren in mein Land. Erobern es. Da ich muss kämpfen. Aber ich mag Amerikaner. Immer so freundlich.“
„Ach, wirklich?“
„Ich mag Diners“, erzählte Mohammed. „Direkt an der Straße, Tag und Nacht geöffnet. Die Kellnerin nennt einen ‚honey‘ und fragt, wo man herkommt. Und sie schenkt immer Kaffee nach, so viel man will, man bezahlt nur den ersten.“
„Herr Reporter“, schaltet sich die Wache ein. „Die wollen mit Ihnen reden.“
„Eine Minute noch“, erwiderte Jimmy.
„Sofort heißt sofort und nicht in einer Minute“, setzte es von der Wache.
„Ich versuche gerade mit ...“
„Sie wollen, dass die Marines warten, während Sie mit dem Hadschi da reden?“ Die Wache riss Jimmy am Arm hoch und führte ihn von den Gefangenen weg.
„Fünfunddreißig ist nicht zu alt“, rief Jimmy nach hinten.
„Seien Sie nett zu dem Kerl“, erklärte Jimmy der Wache. „Er spielt Basketball. Ging in den USA zur Schule.“
„Ist mir scheißegal.“
„Seien Sie einfach ein bisschen nett zu ihm.“
„Er würde Sie umlegen, wenn er nicht gefesselt wäre. Ohne Scheiß.“
„Gut“, sagte Jimmy. Wenn man das so sah, hatte man es als Marine wohl leichter. Und vermutlich stimmte es sogar.

Aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes



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