Es sollte die Leser zeitgenössischer amerikanischer Literatur nicht überraschen – obwohl ich selbst zugegebenermaßen überrascht bin –, dass drei der letzten sieben Pulitzer-Preise für Romane an Werke gegangen sind, die dem Genre „Familienroman“ zuzuordnen sind. Mit jedem neuen familienhistorischen Roman entwickelt sich die Identität unseres Landes weiter. Offensichtlich bleibt die uralte Frage „Was ist ein Amerikaner?“ für die amerikanische Fantasie so spannend wie eh und je.
Für den Fall, dass es in Vergessenheit geraten ist, eine kleine Auffrischung: Jeffrey Eugenides’ „Middlesex“ erzählt 2003 die Geschichte eines Detroiter Zwitters griechischer Abstammung vor dem Hintergrund der Flucht seiner Großeltern aus dem Krieg 1922. Der Gewinner von 2005, „Gilead“ von Marilynne Robinson, schildert drei Generationen einer Priesterfamilie in einer Kleinstadt in Iowa während der Bürgerkriegszeit. Und letztes Jahr nahm der 40-jährige Junot Díaz für seinen Bestseller „Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“ den Preis entgegen – einen Roman über Leben und Träume eines jungen dominikanischen Amerikaners, dessen Familiengeschichte von Trujillo-Diktatur und Kolonialismus überschattet wird.
US-amerikanische Autoren finden in ihren bunten Familienvergangenheiten den Stoff für ihre Werke. Amerika ist mittlerweile, vielleicht jetzt mehr denn je, in seine Vielfalt verliebt man könnte sogar sagen, wir sind ihr verfallen. Die Anfänge dieser Sucht liegen in den 1960er-Jahren, als die dominierende amerikanische Kultur des weißen männlichen Protestanten – von der Wissenschaft bis zur Wirtschaft, vom Berufsleben bis hin zu den Filmen, die wir sahen und den Büchern, die wir lasen – Risse bekam. Die wachsenden Minderheiten forderten immer lautstarker, mit ihren Geschichten gesehen, gehört, verstanden zu werden. Seitdem hat die starke Verflechtung von ethnischen, geschlechterspezifischen und anderen Identitäten tatsächlich eine neue amerikanische Erzählform gewoben. Langsam und stetig – und am deutlichsten in der Wahl Barack Obamas zum Präsidenten im vergangenen Herbst – erfüllt sich Amerika seinen Traum, eine für jeden inklusive Gesellschaft zu werden, deren Identität und Stärke darauf beruhen, dass ihre Geschichte sich aus Millionen Geschichten zusammensetzt, die wir laufend neu entdecken.
Wahrscheinlich wird diese feierliche multiethnische Identität Amerikas nirgendwo sonst mehr erklärt als in der aktuellen Literatur – insbesondere im Familienroman. Eine Reihe der sogenannten Autoren aus Minderheiten (vereinfacht gesagt all jene, die weder weiß noch männlich sind) haben ihre Kultur, Region oder Identität durch Familienromane in die amerikanische Landkarte eingezeichnet. Jane Smileys zum Beispiel beschreibt in „Tausend Morgen“ Kämpfe und dunkle Vergangenheit einer Bauernfamilie aus Iowa auf Grundlage von Shakespeares Tragödie „König Lear“. Siri Hustvedt bedient sich in „Was ich liebte“ ihrer persönlichen Biografie in Verbindung mit dem Holocaust als Rahmen für eine Familiengeschichte im modernen New York. Und Dorothy Allisons „Kuckuckskinder” erzählt eine tragische Familiensaga über Gewalt und Missbrauch im ärmlichen Süden.
Und das sind nur einige wenige weiße Autorinnen. Amy Tans Bestseller „Töchter des Himmels” von 1989 beleuchtet das Leben von vier chinesischen Immigrantenfamilien, Nobelpreisträgerin Toni Morrison betrachtet in „Menschenkind“ die zerstörerischen Auswirkungen der Sklaverei anhand der Erfahrungen einer verfolgten Familie schwarzer Frauen und Sandra Cisneros „Caramelo” erzählt eine mexikanisch-amerikanische Familiengeschichte über den unaufhörlichen Versuch, die extremen Unterschiede von zwei Heimatländern in Einklang zu bringen.
Es ist ein Merkmal unserer Zeit – wiederzufinden in MySpace und Facebook, in Blogs und persönlichen Webseiten –, dass immer mehr Leute damit beschäftigt sind, ihre persönliche Geschichte zu verbreiten. Im Zeitalter digitaler Zerstreuung und dem zunehmenden Verlust direkter menschlicher Kontakte hat es den Anschein, als sehnten wir uns nach Aufmerksamkeit. Während wir eine dienstleistungsorientierte Kultur entwickeln und immer mehr von uns selbst und unseren Bedürfnissen als Individuum besessen sind, lässt sich bei den Amerikanern erstaunlicherweise gleichzeitig auch ein Verlangen erkennen, neue Formen unserer Kultur zu vereinen. Mit Google und Wikipedia ausgestattet war es niemals einfacher, historische Familienfiktion bunt und geschichtlich korrekt zu gestalten. Die heutige Vielfalt und Popularität des Familienromans geht noch weiter: Es ist der Versuch der Amerikaner, ihre eigene Geschichte richtig zu erfassen.
Wir erinnern uns an unsere Vergangenheit und schreiben über sie so, wie wir uns wünschen, dass sich auch die anderen daran erinnern – zum Teil wahr und zum Teil erfunden. Die heutige amerikanische Gesellschaft ist die größte, sonderbarste, chaotischste Gesellschaft der Welt. Sie bietet dem Schubladendenken die Stirn. Jedermann und keiner gehört dazu. Der Einheitsgedanke ist unabdingbar verknüpft mit dem Pluralitätsgedanken, aus vielen Kulturen zu bestehen. Dies ist hauptsächlich der Grund, warum der fiktive Familienroman heute Amerikas multikulturelle, multi-ethnische Antwort auf die überragende Frage ist: Wer bin ich und wie bin ich hierhergekommen? Man könnte meinen, dass in einer so komplexen und heterogenen Kultur wie unserer nichts den Amerikanern mehr geholfen hat, zu erkennen, was es bedeutet, Amerikaner zu sein, als der oftmals wehtuende und enthüllende Familienroman.
In William Faulkners Trilogie „Das Dorf“, „Die Stadt“ und „Das Haus“ kämpfen auf dem erfundenen Schauplatz Yoknapatawpha County der Snopes-Klan und andere zerrüttete Südstaatenfamilien gegen das Nachwirken von Missbrauch, Erniedrigung, Rivalitäten und Sisyphusarbeit an. In diesen Romanen erfasst Faulkner den amerikanischen Pathos in einer Tiefe wie kaum ein anderer Autor vor oder nach ihm.
Der Versuch zeitgenössischer Autoren, die Dunkelheit, welche die amerikanische Gesellschaft – insbesondere die amerikanische Familie – umgibt, in etwas anderes zu verwandeln, spiegelt die Veränderungen unserer Werte und Kultur im letzten halben Jahrhundert wider. Seit Vietnam hat Amerika internationales und moralisches Ansehen eingebüßt. Es ist eine von Begierden vereinnahmte, im Konsum verlorene Gesellschaft geworden, und viele der einst vorherrschenden sogenannten Familienwerte wurden aufgegeben oder verwandelt. Der wahrscheinlich erfolgreichste Familienroman jüngster Zeit, der diesen Verfall der modernen amerikanischen Familie und die Werteverschiebung darstellt, ist Jonathan Franzens „Die Korrekturen.”
Die Amerikaner haben jahrelang auf einen Roman wie diesen gewartet und kauften Millionen Exemplare. Was machte ihn so besonders? Es scheint, dass es Franzen gelungen ist, die Stimmung von gewalttätiger Unruhe und unterdrückter Sehnsüchte sowie die neurotische, aufgewühlte, ungesunde Chemie der amerikanischen „Durchschnittsfamilie“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einzufangen. Das literarische Kräftespiel, das das Buch zu einem Verkaufsschlager machte, ist leicht zu erkennen: „Die Korrekturen“ sind aktuell, paranoid, darauf aus, ein möglichst weites Feld der amerikanischen Kultur abzudecken. Die Charaktere sind gleichzeitig hip und schrecklich. Die Dialoge, das Tempo, die Tiefe, der Witz und die Dramatik sind auf eine Weise ausbalanciert, die sich frisch, authentisch und einzigartig amerikanisch anfühlt. Franzens neuem Bild der amerikanischen Familie würden die meisten Amerikaner wahrscheinlich zustimmen. Es spiegelt die Realität von heute wider: Weit weg vom traditionellen Einheits-, Loyalitäts- und Stärkegefühl, das die amerikanische Familie einst repräsentiert hat, ist die Familie eine entrückte und verschmähte Erscheinung in der modernen amerikanischen Gesellschaft geworden.
Barack Obamas aufrichtige Memoiren „Ein amerikanischer Traum“ waren lange vor seiner Präsidentschaftskandidatur erfolgreich. Obwohl das Buch kein Roman war, beinhaltete es viele der Gegensätze und Verflechtungen, die man im modernen amerikanischen Familienroman wiederfindet: das Aufeinanderprallen von zwei Familien radikal unterschiedlicher Kulturen – Kenia und Kansas –, das Versagen, als Familie zu bestehen oder als Sohn seinen Vater kennenzulernen, sich entwurzelt fühlen, rassische und religiöse Unklarheit, der Tod beider Eltern und das Heranreifen zu einem schwarzen amerikanischen Mann. Obamas Geschichte fasziniert und inspiriert Millionen – und beweist, dass eine vielfältige Herkunft nicht nur etwas ist, das man tolerieren sollte, sondern als entscheidenden modernen Vorzug sehen muss. Die Popularität des Familienromans bewirkt etwas Ähnliches: Sie zeigt uns, dass jeder ein weiteres bislang unbekanntes Kapitel der amerikanischen Geschichte zu erzählen hat, wenn man ihm nur die Möglichkeit dazu gibt.
Aus dem Englischen von Young-Sim Song