In der letzten Woche sind wieder zwei gestorben. Die jüdische Gemeinde in Kalkutta zählt nur noch 30 bis 35 Mitglieder. Die meisten sind über 70, einige sind sogar 90 Jahre alt. Während die größte Stadt Asiens aus allen Nähten platzt, ist die jüdische Gemeinde vom Aussterben bedroht. Jüdische Emigranten kamen in mehreren Wellen nach Indien. Historisch belegt ist ihre Präsenz ab dem Jahr 1000. Die Juden, die den Weg nach Kalkutta fanden, wanderten seit Ende des 18. Jahrhunderts aus dem Irak – auch aus Syrien und dem Iran – ein und heißen darum Baghdadi-Juden. Sie handelten mit Edelsteinen, Baumwolle, Gewürzen, Seidenstoffen, Opium, Kaffee und Elfenbein.
Unter dem Einfluss der britischen Kolonialmacht nahmen Juden in Kalkutta, der Kolonialhauptstadt Indiens, schon früh westliche Kleidung und Gebräuche an und förderten durch ihre karitativen und pädagogischen Einrichtungen das Allgemeinwohl. Viele der Juden waren ausdrückliche Sympathisanten der Engländer und hatten zu ihnen mehr Vertrauen als zur herrschenden indischen Klasse, die nach der Unabhängigkeit im Jahr 1947 die Regierung übernahm. Nach dem Zweiten Weltkrieg zählte die Gemeinde kurze Zeit rund 5.000 Mitglieder. Doch bald darauf entstand der Staat Israel und zog vor allem die weniger begüterten Juden Kalkuttas an. Besser gestellte Juden verkauften ihre Geschäfte und emigrierten nach Großbritannien und in die USA, oder sie schickten ihre Kinder dorthin an die Universitäten.
In Kalkutta schlich sich vor einer Generation das Gefühl ein, dass die jüdische Gemeinde unaufhaltsam ausstirbt. Fatalismus breitete sich aus. Ein blühendes Gemeindeleben verblasste zu einem Schatten seiner selbst. Die beiden jüdischen Schulen, einst Mittelpunkte gesellschaftlicher Verantwortung, haben schon lange keine jüdischen Schülerinnen und Schüler mehr, auch die letzte jüdische Direktorin hat sich verabschiedet. Nur noch ein Lehrer bleibt, der die Verbindung der Schulen zur Gemeinde herstellt. Wohl aber verwaltet die Gemeinde die Schulen weiterhin, die zu den besten Kalkuttas zählen. Während der letzten drei Jahrzehnte hat keine jüdische Hochzeit stattgefunden, so tief sitzt die kollektive Depression.
Inzwischen fänden jüngere Menschen auch gar keine Partner in den eigenen Reihen mehr. Darum haben jüdische Männer oft christliche Frauen geheiratet. Wenn diese nicht den jüdischen Glauben annehmen und ihre Kinder nicht jüdisch erziehen, geht die Familie für die Gemeinde verloren, da Jüdischsein über die Mutter vererbt wird. Die dezimierte Gemeinde kämpft darum, noch zu „funktionieren“. Seit Langem hat sie keinen Rabbiner mehr und bekommt nicht einmal die notwendigen zehn Männer zusammen, um nach jüdischem Gebot den Sabbat zu feiern. Kalkutta besitzt drei Synagogen, von denen zwei – die Maghen-David-Synagoge und die Beth-El-Synagoge – unter Denkmalschutz stehen und von dem staatlichen Archeological Survey of India instand gehalten werden. In diesen zwei Synagogen finden noch Gottesdienste statt, an einem Samstag in der einen, am nächsten in der anderen.
Eine Handvoll Gläubige findet sich ein, von denen einige nicht mehr die Gebete auf Hebräisch sprechen können. David Nahoum, Inhaber einer Zuckerbäckerei, führt die Feiern an, eine Frau, Aline Cohen, antwortet ihm. Ursprünglich hatten die Frauen auf der Empore, den Blicken der Männer unerreichbar, sitzen müssen und am Gebet nicht aktiv teilnehmen dürfen. Die Not macht erfinderisch – und tolerant: Heute steht Aline drei Schritte hinter David, um symbolisch den Abstand zwischen Männern und Frauen zu wahren. Ab und zu gesellt sich ein israelischer Tourist dazu.Noch bemerkenswerter ist ein anderer Ausweg, den die Juden gefunden haben. In Kalkutta leben Hunderttausende von Muslimen, dennoch sind sie eine Minderheit unter den Hindus. Juden und Muslime entdecken in Kalkutta aus ihrem Minderheitsbewusstsein heraus ihre historischen Gemeinsamkeiten und spüren, dass sie als monotheistische Religionen einander näher sind als etwa den Hindus und Sikhs.
Die Hausmeister und Betreuer der Synagogen sind Muslime. Muslimische Frauen nehmen die rituellen Totenwaschungen vor, wenn eine Jüdin stirbt. Die Männer können noch selbst für ihre Toten sorgen. Käme dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit doch auch anderswo auf!Mittelpunkt der jüdischen Gemeinde ist David Nahoum. Vor drei Generationen kam die Familie aus dem Iran nach Kalkutta und gründete im altehrwürdigen New Market im Stadtzentrum eine feine Zuckerbäckerei. Sie ist berühmt für ihre jüdisch inspirierten Delikatessen und europäischen Süßigkeiten mit garantiert reinen Zutaten, die oft von weit her kommen. Der etwas trist ausgestattete Laden innerhalb des Wirrwarrs von Markthallen und Buden ist Anziehungspunkt aller Kalkuttaer, die auf die Esskultur der guten alten Zeit wertlegen, und Treffpunkt der jüdischen Gemeindemitglieder.
Alle wissen: Nach dem Mittagessen und seinen Gebeten sitzt David ab zwei Uhr im Geschäft! Er ist der Letzte von vier Brüdern, die nacheinander das Geschäft geleitet haben. Flora, seine Schwester, schon uralt, ist kürzlich von Kalkutta nach Israel ausgewandert weitere Brüder wohnen schon lange in London und Israel. Keiner der Brüder in Kalkutta hat geheiratet. Am Nachmittag residiert David hinter seinem kleinen, antik-schwarzen Kassentisch. Die Füße auf ein Bänkchen gestellt, sitzt er wie angewachsen und verbindet charmant Business mit Gastfreundlichkeit. Während er Geld annimmt und herausgibt, bespricht er vollGutmütigkeit die Entwicklungen und Problemein der jüdischen Gemeinde oder erzählt Besuchern aus der weiten Welt aus seinem Leben. David ist über achtzig.Wer die älteste Synagoge Kalkuttas, Beth-El („Haus Gottes“), betreten will, muss erst eine Weile nach dem Eingang suchen. Die Türme ragen hinter einem Kuddelmuddel niedriger Shops und Büdchen hervor, deren bunte Waren das Tor verstellen. Lebhafte junge Männer mit schwarzen Kinnbärten räumen es frei, und als wir in den Hallenraum mit Flachdecke eintreten, empfängt uns eine befreiende Leere. An den Seiten und hinten die Emporen.
Farbige Glasfenster streuen ein irreales Licht über die schönen, alten Holzstühle und den kühlen Steinplattenboden. In keinem anderen Gotteshaus Kalkuttas erhält man ein solch wohltuendes Raumgefühl wie in den beiden Synagogen Beth-El und Maghen David („Stern Davids“), die nur einen Steinwurf voneinander entfernt liegen. Ist es ein historischer Zufall, dass dieSaifi-Moschee, die portugiesische Kirche und die armenische Kirche in unmittelbarerNachbarschaft zu den Synagogen angesiedelt sind?Diese majestätische Leere umfängt uns auch auf dem jüdischen Friedhof im östlichen Kalkutta er besteht seit 1812. Ian Zachariah, ein Journalist, hatte uns die Synagogen gezeigt, und fährt uns nun zum einzigen Friedhof der Gemeinde. Ungezählte fußhohe Grabmäler in Menschengröße liegen dicht neben- und hintereinander, alle gleich niedrig, gleich breit, gleich lang.
Alles ohne Anstrich, melancholisch von Regen und Wetter geschwärzt und bemoost, ohne Verzierung, ohne Schönheit, ohne die Feierlichkeit der Trauer. Irgendwo in den hinteren Reihen liegt das Grab des Begründers der Gemeinde, Shalom Cohen, der Aleppo 1792 verließ und über mehrere Stationen an der indischen Westküste Kalkutta erreichte. Als reicher Kaufmann bewegte er sich in den höchsten Kreisen des Mogul-Hofes und der britischen Kolonialregierung.
Im äußeren Ende des jüdischen Friedhofs wohnt eine muslimische Familie in einer Baracke und hält Wache, damit niemand das Land über Nacht gewaltsam besetzt. In seinem traurigen, brüchigen Frieden gefangen, scheint heute die jüdische Gemeinde an diesem Ort mehr zu „leben“ als anderswo. Auf dem Rückweg erzählt Ian Zachariah, dass die karitativen Einrichtungen der Gemeinde, die auch von den USA unterstützt werden, sich inzwischen fast nur um die Kranken und Alten kümmern, die nicht mehr auswandern können, deren Wurzeln vielleicht auch zu tief in Kalkuttas Boden eingegraben sind. „Die Juden sind Indien dankbar“, sagt er. „Immerhin ist es das einzige Land, das wir bewohnt haben, in dem nie Antisemitismus geherrscht hat.“