China befindet sich derzeit in einem kritischen Stadium, was seine politische Entwicklung angeht. Der rasante sozialökonomische Wandel hat unter anderem zu einer größer werdenden Mittelklasse geführt. Darunter gibt es die „roten Kapitalisten“, der Partei nahestehende Unternehmer, andere Privatunternehmer und Fachkräfte. Diese Gruppen spielen eine immer wichtigere Rolle für Chinas wirtschaftliche Entwicklung. Außerdem wollen diese Gruppen sich angesichts ihres rasant wachsenden Reichtums Gehör verschaffen und verlangen immer mehr nach politischer Beteiligung. Um ihren Forderungen nachzukommen, unternahm die Führung der Kommunistischen Partei Chinas unter Jiang Zemin große Anstrengungen, das Recht auf Privateigentum zu rechtfertigen.
Die Regierung änderte 1999 die Verfassung, um zum ersten Mal in der Geschichte der Volksrepublik die Privatwirtschaft unter verfassungsrechtlichen Schutz zu stellen. Trotz erheblicher Kontroversen verabschiedete die Regierung im März 2007 auch ein Eigentumsgesetz.Zudem muss die Parteiführung angesichts der wachsenden Mittelklasse ihre soziale Basis vergrößern. Sie erkennt, dass die Kommunistische Partei ohne die politische Unterstützung der neu aufstrebenden sozialen Klassen nicht in der Lage wäre, die neuen sozioökonomischen Bedingungen zu überleben. Obwohl die Führung unter Jiang Zemin den Kapitalismus rechtfertigte, entwickelte sie 2001 das neue Konzept der „drei Vertretungen“ und deutete damit an, dass die Partei verschiedene soziale und ökonomische Interessen vertreten müsse. Vertrat die Partei traditionell nur die Interessen von Arbeitern, Bauern, Soldaten und Regierungsbeamten, gilt dies nun auch für die Interessen der verschiedenen neu aufsteigenden sozialen Gruppen. Die Parteiführung erlaubt und bestärkt nun auch Privatunternehmer, der Partei beizutreten.
Die Kommunistische Partei durchläuft derzeit einen radikalen Wandel von einer Arbeiter- und Bauernpartei zu einer Volkspartei. Ihre Mitglieder kommen heute aus unterschiedlichen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen. In den letzten 30 Jahren ist der Anteil der Arbeiter, Bauern und Soldaten erheblich gesunken. Zwischen 1978 und 2006 nahm der Prozentsatz der Arbeiter von 18,7 Prozent auf 11,1 Prozent ab der der Bauern fiel von 46,9 Prozent auf 31,7 Prozent, und der der Soldaten sank von 6,9 Prozent auf 2,2 Prozent. Höhere Angestellte, Führungskräfte oder Ingenieure machen derzeit hingegen 21,4 Prozent aus, und der Prozentsatz von Parteimitgliedern mit privatunternehmerischem Hintergrund beläuft sich auf 5,1 Prozent.
Wann immer in der Vergangenheit neue soziale Gruppen politisch die Initiative ergriffen, reagierten die traditionellen äußerst scharf. Arbeiter, Bauern und andere Gruppen, die seit Langem von der Partei vertreten wurden, fühlen sich in der Parteipolitik zunehmend an den Rand gedrängt. Sie haben den Eindruck, ihre Interessen seien im Zuge all der durch die Parteiführung eingeführten Änderungen ausgehöhlt worden.Darüber hinaus ist Chinas Wirtschaft in den letzten 30 Jahren extrem gewachsen, und der damit verbundene sozioökonomische Wandel hat zu enormen Problemen geführt. Innerhalb der Partei und verschiedener sozialer Gruppen kommt es in den letzten Jahren zu hitzigen Debatten: Liberal gesinnte pensionierte Parteikader, Regierungsbeamte, Professoren und Privatunternehmer verlangen radikale politische Reformen. Sie sind der Ansicht, dass die Schwierigkeiten, auf die China im Zuge seiner Reformen stößt – die Auseinanderentwicklung zwischen Stadt und Land, zunehmende soziale Spannungen oder die eklatante Umweltverschmutzung – auf den Mangel an politischen Reformen zurückzuführen sind. Ihrer Meinung nach würden mehr Globalisierung, mehr Privatisierung und Demokratisierung Chinas gesellschaftliche Probleme lösen.
Radikale Befürworter wie der ehemalige Vizepräsident der Pekinger Volksuniversität, Xie Tao, haben die Parteiführung sogar gedrängt, die kommunistische Herrschaft aufzugeben und das europäische Modell des demokratischen Sozialismus nach dem Vorbild Schwedens zu übernehmen.Auf der anderen Seite ist ebenso ein Erstarken der Linken zu beobachten. Die alte Linke, bestehend aus pensionierten Revolutionären und Ideologen, appelliert zunehmend an die maoistische soziale Gerechtigkeit. Die neue Linke, die unter jungen Intellektuellen und Studenten besonders viele Anhänger hat, fordert soziale Gerechtigkeit durch eine Einkommensumverteilung seitens des Staats. Der Maoismus wird immer attraktiver für benachteiligte soziale Gruppen wie städtische Arbeiter, Wanderarbeiter und Bauern. China erlebt derzeit eine neue Welle von jährlich bis zu 100.000 sozialen Protesten. Wenn sich die neue Linke und verdrossene soziale Gruppen zusammentun, werden sie erhebliche politische Macht ausüben. Angesichts des zunehmenden sozialen Drucks durch die Forderung nach politischen Reformen hat die Parteiführung begonnen, einen gangbaren Weg zur Demokratisierung des Landes zu entwickeln. Der 17. Parteitag 2007 stellte eine „Road Map“ für politische Reformen und Demokratie vor. Dieser Plan enthält drei zentrale Komponenten. Die erste kann als Sozialdemokratie bezeichnet werden, in den Worten der Partei die „Volksdemokratie“ und „Basisdemokratie“.
Die Partei scheint bereit, diese Linie des Aufbaus von Demokratie zu verfolgen, indem sie die politische Beteiligung von Bürgern hauptsächlich durch das System der Volkskongresse erweitert. Die Abgeordneten der Volkskongresse der verschiedenen Administrativebenen stimmen über die Parteivorgaben ab. Darüber hinaus wird die politische Beteiligung der Bürger durch lokale Wahlen und die Kontrolle kommunaler Angelegenheiten ausgeweitet. Derzeit hat jeder Stadtbewohner das Recht auf viermal so viel Repräsentanz wie ein Landbewohner. Zum ersten Mal hat die Führung vorgeschlagen, städtischen und ländlichen Bezirken schrittweise das gleiche Verhältnis von Vertretern zu erlauben, indem sie Stellvertreter in die Volkskongresse wählen und damit den politischen Status der Bauern erhöhen. Dieser Vorschlag wird, sollte er umgesetzt werden, auf die chinesische Politik beträchtlichen Einfluss haben. Insbesondere wird er den bevölkerungsreichsten Provinzen wie Henan, Shandong und Sichuan ermöglichen, noch größere Delegationen als bislang in den Nationalen Volkskongress zu entsenden.
Man beachte, dass die Regierung während des Nationalen Volkskongresses im März 2008 vorgeschlagen hat, Wanderarbeitern zu erlauben, künftig Repräsentanten in den Nationalen Volkskongress zu wählen.Der zweite Bereich politischer Reform ist der der Regierungsreform. Hier geht es darum, eine transparente, effiziente, rechenschaftspflichtige, erreichbare, gesetzestreue und dienstleistungsorientierte Regierung zu bilden. Die Partei zeigt auch ein deutliches Interesse daran, ein kompetentes Justizwesen aufzubauen. Derartige Reformen sind jedoch komplex, und es wird Jahre dauern, sie vollständig umzusetzen.Der dritte Bereich politischer Reform liegt in der innerparteilichen Demokratie, die Mechanismen vorsehen würde, die es fähigen Mitgliedern ermöglichen, an den Schaltstellen zu sitzen und Machtmissbrauch durch Parteiführer zu verhindern. Die Partei hat Interesse daran, eine Art Wahlsystem in zwei Bereichen einzuführen. Zum einen soll dieses Wahlsystem für wichtige Posten, vor allem auf Lokalebene, gelten, für die mehrere Kandidaten aufgestellt werden könnten.
Das würde den Einfluss der Öffentlichkeit erhöhen, man könnte zumindest die wenig geeigneten Kandidaten ausschließen. Der zweite Bereich ist der der Grundlinien der Politik, über die ebenfalls durch ein Parteikomitee abgestimmt werden soll. Partei- und Staatschef Hu Jintao hat versprochen, die Einführung direkter Wahlen bei der Benennung von führenden Mitgliedern in Parteieinheiten auf lokaler Ebene schrittweise auszuweiten. Daneben will er prüfen, wie die innerparteiliche Demokratie auf lokaler Ebene erweitert werden kann. Allgemein sucht die Partei nach institutionellen Mechanismen, die Transparenz, internen Pluralismus und Rechenschaftspflicht fördern.Man muss natürlich abwarten, ob dieser Plan umgesetzt wird. China demokratisiert sich, wenn auch sehr langsam. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass sich in China eine Mehrparteiendemokratie entwickeln wird. Die herrschende Kommunistische Partei trägt den neu entstehenden sozialen und politischen Kräften in einem für sie vertretbaren Rahmen Rechnung.
In gewissem Maße wird das Regime transparenter und verantwortlicher. Die reifende soziale und wirtschaftliche Infrastruktur legt den Grundstein für Chinas Demokratisierung. Neue soziale Kräfte drängen auf politischen Wandel, und der wirtschaftliche Reichtum sowie eine dynamische Bürgergesellschaft sind eine solide sozioökonomische Infrastruktur, damit demokratische Politik entstehen kann. Da China eng mit der Weltwirtschaft verflochten ist, hat auch der Westen Einfluss auf die Entwicklung Chinas. Man sollte jedoch keine zu hohen Erwartungen haben. Obwohl Demokratie unvermeidbar wird, werden die derzeitigen autoritären politischen Strukturen in absehbarer Zukunft nicht einfach so verschwinden. China wird eine eigene Form der Demokratie entwickeln und damit dem Westen verdeutlichen, dass das Wesen der Demokratie nicht universell sein muss.
Aus dem Englischen von Claudia Kotte