Schwäche zeigen

von SAID

Toleranz und ihre Grenzen (Ausgabe III/2007)


meine kindheit verbrachte ich in einem islamischen land, in einer liberalen familie. mein vater übte keine religion aus und zwang mich auch zu keiner aber meine großmutter war tief religiös, während meine cousine, die mit uns lebte, mit sehr kurzen röcken zur universität ging. einmal, ein einziges mal, hat die großmutter geklagt: „mädchen! denke an gott und auch an die jungen männer auf der straße!“ und wir lebten weiter. die großmutter saß mit der cousine am abendtisch. „convivencia“ nennt man das wohl. ein begriff aus der zeit der mauren in spanien, als mehrere religionen nebeneinander lebten. dann verschlug mich das leben hierher, im alter von 17. wie ein kind, das schlafend fortgetragen wurde.

nun lebt das kind seit 40 jahren in europa, auf dem kleinsten kontinent dieser erde. hier hat es zuflucht gefunden vor zwei diktaturen, vor der diktatur des schahs und vor der von chomeini. ohne seinen traum je zu vergessen: ein nebeneinander der menschen, die sich gegenseitig respektieren. daraus könnte unter günstigen historischen umständen dann ein miteinander erwachsen. und dieses kind übersieht nicht, wie reich es von diesem kontinent beschenkt worden ist: das kind kann hier frei denken, seine gedanken frei äußern und arbeiten. und, dieses europa erlaubt ihm sogar, nach eigener fasson unglücklich zu sein. aber schon der halbwüchsige in teheran wusste, europa bedeutet freiheit. und heute achtet der gealterte flüchtling darauf, freiheit nicht mit toleranz zu verwechseln. denn in europa spricht man gerne und oft von toleranz. „toleranz sollte nur eine vorübergehende gesinnung sein sie muß zur anerkennung führen.

dulden heißt beleidigen.“ der dies schrieb, goethe, schlug eine grandiose kulturelle brücke zwischen okzident und orient – ohne gönnerhaftigkeit und aufrechnerei. toleranz ist also kein zustand, sondern eine ausgangsposition vielmehr eine bewegung. wir müssen uns aufeinander zu bewegen der stillstand gebiert zuweilen nur indifferenz oder gar schlimmere fantasien. wenn jemand sagt, er sei tolerant, dann habe ich das gefühl, er demonstriere mir nur seine gleichgültigkeit, ohne in irgendeiner weise an mir teilzunehmen. eine situation, die oft in ghettoisierung mündet. ich spreche bewusst von individuen denn toleranz ist keine staatliche angelegenheit. ein staat kann nur demokratisch sein. toleranz ist das anliegen der gesellschaft und diese besteht bekanntlich auch aus individuen – der rest ist haltung oder meinung. so verwechseln wir zuweilen toleranz mit aufklärung. wie oft höre ich diese phrase – meist mit einem unerträglich gönnerhaften pathos: „im orient hat es keine aufklärung gegeben, darin liegt seine misere.“

deutschland hat sehr früh die aufklärung für sich entdeckt – und ermordete dennoch sechs millionen menschen. ein mord, der generalstabsmäßig geplant und industriell durchgeführt wurde. frankreich hat 1789 die aufklärung auf das banner der revolution geschrieben und dennoch im krieg gegen algerien eine brutale fratze gezeigt, die seine demokraten tief verletzte kannten sie doch nicht diese seite ihres vaterlands. wer also behauptet, aufklärung münde zwangsläufig in toleranz, der unterstreicht lediglich seine blauäugigkeit. wäre aber die aufklärung überhaupt denkbar ohne nächstenliebe? ohne eine religiosität? ohne jene demut, die alle religionen auszeichnet und den menschen bereichert? ich beeile mich, festzustellen, dass religionen intolerant sind, sobald sie sich durch ein geschlossenes system definieren, das sich dann nach außen wehren muss – eine religiöse haltung aber braucht kein gehäuse. im luftleeren raum kann man toleranz auch nicht begreifen auch sie ist dem diktat der zeit und ihren bisweilen bestialischen launen unterworfen.

wie tolerant wäre zum beispiel die französische bevölkerung gegenüber millionen von schwarzafrikanern, die in frankreich leben, wenn einmal in frankreich der hunger ausbräche? könnte dann die dünne membrane der zivilisation frankreich vor einem weißen kannibalismus schützen? und, da toleranz keine fertigware ist, die man auf dem regal eines supermarktes vorfindet, so müssen wir nach ihrer herkunft fragen. sie wird letztlich in einem aufrichtigen und ständigen dialog mit dem andersdenkenden geboren. ich meine einen dialog, der grundsätzliche differenzen nicht ausschließt und keinem konflikt aus dem wege geht – dabei aber stets den streitpartner respektiert, ohne dass eigene positionen aufgegeben werden. dieser dialog bedeutet teilnahme an dem anderen. voraussetzung für solch einen dialog aber ist, daß man schwäche zeigt. die eigene. aber zeigt denn das abendland – dieser kampfbegriff aus der zeit der kreuzzüge – je schwäche? der gegenwärtige dialog zwischen dem westen und dem islam erinnert mich an ein gespräch zwischen einem tauben und einem blinden. der eine ist taub, weil saturiert der andere blind, weil er nur auf sich schaut. der taube produziert, zuweilen auch waffen, der blinde setzt sie ein, zuweilen auch gegen den tauben. doch wir ringen um eine haltung, die niemand besser formuliert hat als der philosoph michel de montaigne:„man muß sich den anderen hingeben, um sich selbst treu zu bleiben.“



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