Warum wir uns hassen

von Marc Hauser

Toleranz und ihre Grenzen (Ausgabe III/2007)


Warum hassen wir einander? Wie bei jeder Krankheit brauchen wir zuerst eine Diagnose. Zwei Sachverhalte, die für soziale Wesen so definitionsbestimmend sind wie für ein Säugetier das Fell oder für einen Vogel die Federn, können uns dabei helfen: Die begrenzten natürlichen Ressourcen heizen Konkurrenz und Selektion an. Dies führt unweigerlich dazu, dass die Menschen und alle anderen sozialen Lebewesen Trennlinien zwischen sich und dem Anderen ziehen. Nach der Darwin`schen Logik sollten wir alles daransetzen, zu überleben und uns zu reproduzieren. Dazu gesellt sich Hamiltons Erkenntnis, dass Selbsterhaltung auch die Erhaltung unserer Gene und damit unserer Sippe mit einschließt. Damit ist eine weitere Trennlinie gezogen. Wir ziehen unsere Sippe den Sippenfremden vor. Da soziale Wesen aber in Gruppen leben, gibt es schlimme und weniger schlimme Sippenfremde und damit unweigerlich Mitglieder einer anderen sozialen Gruppe, die die Dummen sind.

Der erste Teil unserer Diagnose lautet also, dass die Einführung von Unterscheidungen zwischen der Ingroup und der Outgroup unvermeidlich ist. Wer in den beneidenswerten Kreis der Ingroup aufgenommen und wer in die Outgroup verbannt wird, ist zum Teil dehn- und wandelbar. Soweit die schlechten Nachrichten.

Es gibt aber auch Gutes zu verkünden. Die Wissenschaft deckt derzeit auf, auf welcher technischen Konstruktion unsere zerstörerische Fähigkeit beruht, uns von anderen zu distanzieren. Sie wurde vor langer Zeit herausgebildet und noch von jeder Menschengeneration genutzt, seit wir unsere schimpansenhaften Anfänge hinter uns gelassen haben.

Der zweite Teil der Diagnose lautet, dass Lebewesen – einschließlich unserer eigenen Spezies – psychologische Mechanismen entwickelt haben, wie sie die Ingroup bestimmen und bevorzugen und wie sie außerdem die Outgroup erkennen und sich vom Leib halten können. Mancher dieser Mechanismen ist bei Tieren wie bei Menschen gleichermaßen verbreitet, etwa die Fähigkeit, seriöse Partner zu finden, empathische Gefühle zu erzeugen, die einer beständigen Zusammenarbeit förderlich sind, und negative Emotionen entstehen zu lassen, die Gewalt gegen Schwindler oder mögliche Konkurrenten freisetzen.

Andere Seelenzustände hingegen scheinen allein menschlich zu sein, darunter zum Beispiel das chamäleonhafte Vermögen, sich den mit den Mitgliedern unserer Gruppe verbundenen Normen anzupassen, und die Fähigkeit, symbolische Etiketten zur Kenntlichmachung des „Anderen“ zu liefern. Diese Etiketten sind wie Andockstationen für unsere Gefühle und bilden sich in der frühen Kindheit heraus. Man achte einmal auf die Stimmen, die auf Spielplätzen oder in der Schule zu vernehmen sind: die miese Göre, die Sportskanone, die Schlampe, der Streber und der Langweiler. Durch Etikettierung schaffen wir sofort wirksame Markierungen, die in unseren mentalen Bibliotheken haften bleiben und an bestimmte Gefühle angeklebt werden. Unsere Gefühle erwecken diese Etiketten zum Leben und setzen unsere Handlungssysteme in Gang.

Das bösartigste Gefühl ist der Ekel. Er ist das Outgroup-Gefühl schlechthin. Er verdankt seine Entstehung einer Anpassungsreaktion auf mögliche Krankheitsträger und kommt bei allem und jedem auf, was außerhalb ist oder sein sollte und daher vermieden werden soll – angefangen mit Körperflüssigkeiten, die normalerweise innen, jetzt aber außen sind, wie Erbrochenes, Fäkalien oder Blut, bis hin zu Menschen, die wir aus einem bestimmten „Inner Circle“ ausschließen wollen.

Mithilfe dieser Feststellungen könnte es uns womöglich gelingen, für unseren unvermeidlichen Hass auf den Anderen eine Lösung zu finden. Die Lösung ist ein dreistufiger Ansatz, der auf jeder Stufe begreiflich macht, warum wir uns evolutionär und entwicklungspsychologisch in diese missliche Lage manövriert haben und manövrieren.

Zum einen treffen wir unsere Entscheidung, was gerecht ist, unter einem Schleier des Nichtwissens. Nach Meinung des vor einigen Jahren verstorbenen Philosophen John Rawls nimmt jeder Mensch von Haus aus zunächst eine eigennützige Haltung ein. Um solche Einseitigkeiten zu vermeiden und zu einer unparteiischen Einstellung zu kommen, müssen wir uns in Unkenntnis der politischen Neigungen, des Vermögens, Alters, Geschlechtes und religiösen Hintergrundes des Anderen eine Reihe von Grundsätzen denken, die gelten sollen. Der Schleier des Nichtwissens wirkt Wunder, weil er unserer Selbstsucht in die Hände arbeitet. Als Profisportler könnte ich durchaus in einer Welt zufrieden sein, in der ich weniger verdiene als ein Universitätsprofessor – wenn ich nicht wüsste, dass Sportler die höchsten Gehälter bekommen. Stattdessen bin ich in einer Welt zufrieden, in der ich als Universitätsprofessor ein geringeres Gehalt als ein Profisportler bekomme. Ich bin sozusagen parteiisch für den Profisportler und finde es gerecht, dass er mehr verdient als ich. Der Schleier des Nichtwissens dagegen bürgt für Unparteilichkeit. Vermitteln Sie das Ihren Kindern, Freunden, Kollegen und Feinden.

Zweitens gilt es anzuerkennen, dass unsere moralischen Intuitionen universelle Geltung haben. Wie ich in meinem Buch „Moral Minds“ erörtert habe und unsere Forschungsarbeit in Zusammenhang mit dem Moral Sense Test beweist, stößt man, wenn man von den konkreten Regeln des Handelns absieht, wie Religion, Regierungen und andere Institutionen sie tradieren, auf einen gemeinsamen Moralkodex, eine moralische Grammatik, die zur Biologie unserer Gattung gehört. Die Menschen, die durch eine Pressemitteilung, ein Blog oder beim Googlen auf unseren Moraltest im Internet stoßen, machen zunächst Angaben zu ihrem Alter, zu Bildung, Religion, Geschlecht und Staatsangehörigkeit und wenden sich dann einer Reihe von moralischen Zwickmühlen zu. Mit diesen Zwickmühlen sollen die entscheidenden Dimensionen ihrer moralischen Instinkte erfasst und vor allem ermittelt werden, welche psychologischen Prozesse darüber entscheiden, wann man Anderen helfen und wann man ihnen schaden darf, und wann dies verboten und wann zwingend geboten ist. Meistens sind die Antworten prompt und einheitlich, und häufig sind sie durch Prinzipien vermittelt, die der betreffenden Person nicht im Geringsten bewusst sind.

Wenn wir Testpersonen darum bitten, ihre Antworten zu begründen, bekommen wir in der Regel zu hören: „Ich habe keine Ahnung.“ In diesem Fall ist das moralische Urteil wie ein Reflex – unmittelbar, unbewusst und wiederholbar. Menschen mit religiösem Hintergrund sind meist der Überzeugung, dass Abtreibung wie auch Sterbehilfe unrecht sind. Atheisten betrachten das Leben durch eine andere Brille. Wenn man die Glaubenssätze abschafft, werden wir – das heißt unsere Spezies – von unserer intuitiven Moralpsychologie dazu angehalten, unsere Entscheidungen darüber, was moralisch richtig und falsch ist, auf der Basis allgemeiner Grundsätzen über das Wohl der Anderen und unsere eigenen Tugenden zu treffen. Wenn sogar die Protestanten und Katholiken in Irland über ihre religiösen Überzeugungen hinwegsehen, sich in einander einfühlen, ihr gemeinsames Menschsein anerkennen und sich auf eine friedliche Koexistenz verständigen können – warum sollte dies nicht auch anderen Kriegsparteien gelingen?

Drittens: Man hüte sich vor dem Ekel! Ekel ist von allen menschlichen Gefühlen das heftigste. Seit Anbeginn haben in der Geschichte der Kriegsführung die verfeindeten Parteien ihre Feinde immer mit Eigenschaften belegt, die an Krankheit, Unrat und Parasiten erinnern. Die Metaphorik ist erdrückend und wie gemacht für die Parolen, die sie auf den Plan ruft. Die Vernichtung von sechs Millionen Juden durch die Nazis wurde zwar durch eine außergewöhnliche Propaganda ermöglicht, aber zusätzlich erleichtert wurde sie durch die sorgsame Manipulation des Ekelempfindens: Unter den Nazis waren die Juden Ungeziefer, schmutzig, krank und damit ekelhaft. Würde es uns ohne Ekel nicht besser gehen? Wie wäre es, wenn niemand mehr auf diese emotionale Karte setzen würde? Würden wir damit unserem Bemühen, den Anderen zu verunglimpfen, den Wind aus den Segeln nehmen?

Faszinierenderweise gibt es Menschen, die niemals Ekel empfinden und Ekel bei Anderen nicht wahrnehmen, während sie alle anderen vertrauten Gefühle – Trauer, Freude, Angst, Verwunderung, Wut – sehr wohl erfahren und bei anderen Menschen erkennen. Diese Menschen tragen eine Erbkrankheit in sich, die als Chorea Huntington bezeichnet wird. Sie haben eine deutlich schlechtere Motorik, sind aber frei von Ekelgefühlen. Dies gilt auch für Träger dieser Krankheit, bei denen sich noch keine Symptome zeigen. Wir wissen zwar nicht, ob Huntingtonpatienten gegen die ruchlose Propaganda immun sind, die ihnen möglicherweise unterkommt, wenn ihnen jemand seine Vorurteile aufdrängen will, aber vermutlich wird die Wissenschaft diesen Zusammenhang eines Tages bestätigen. Und wenn das der Fall ist, wird es vielleicht durch moderne molekulare Techniken eines Tages möglich sein, die Huntington`sche Krankheit zu heilen, im gleichen Zug aber eine Methode zu entwickeln, wie unsere Ekelreaktion gedämpft oder abgestellt werden kann, ohne dass unsere Motorik darunter leidet.

Soweit das Drehbuch für die Gegenwart. Es stellt keine abschließende Lösung dar. Es vermittelt, so glaube ich, eine gewisse Hoffnung, dass wir eines Tages mehr Frieden in dieser Welt erleben werden, mehr Respekt für den Anderen, mehr Mitleid, mehr Menschenfreundlichkeit. 

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld



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