„Toleranz ist die schwächste Form von Liebe“

ein Interview mit Bernard-Henri Lévy

Toleranz und ihre Grenzen (Ausgabe III/2007)


Herr Lévy, sind Sie toleranter gegenüber Amerika geworden, nachdem Sie das Land im Jahr 2004 auf Einladung des amerikanischen Magazins „Atlantic Monthly“ neun Monate lang bereist haben?

Toleranter würde ich nicht sagen. Ich war immer ein Freund Amerikas. Seitdem ich es auf meiner Reise besser kennen gelernt habe, liebe ich es noch mehr. Toleranz würde beinhalten, dass es Dinge gegeben hätte, die ich intolerabel fand und die ich jetzt eher tolerieren kann. Das könnte bei einem Gegner Amerikas der Fall sein, der ich aber nicht bin. In meiner Beziehung zu Amerika geht es um Liebe. Schon immer habe ich dieses Land geliebt, wegen seiner Filme, Literatur und Musik, die mich geprägt und zu dem Menschen gemacht haben, der ich bin.

Was ist Toleranz?

Tolerant ist man gegenüber etwas, das anders ist als man selbst, eine Alternative. Man ist nicht einem Freund gegenüber tolerant, sondern gegenüber einem Gegner. Toleranz setzt eine Art von Feindseligkeit, eine gewisse Distanz, eine Andersartigkeit, voraus. Daher habe ich grundsätzliche Vorbehalte gegen den Begriff. Toleranz ist die schwächste Form von Liebe, von Zuneigung.

Also besser nicht: Mehr Toleranz!

Wenn in Demokratien wie unseren Toleranz gefordert wird, betrachte ich das mit gemischten Gefühlen. Ich wünsche mir keine Toleranz von Franzosen gegenüber Menschen aus dem Maghreb oder gegenüber Juden, sondern, dass sie sie integrieren. Toleranz heißt demgegenüber: Es gibt Ghettos. Das ist das Gegenteil von Integration.

Als Sie in den USA eine muslimische Gemeinde in der Nähe von Detroit besuchten, sprachen diese Menschen von einem amerikanischen Wir-Gefühl und nicht von einem arabischen. Wie kommt es dazu?

Der Grund dafür ist der Mechanismus, der Amerikaner zu Amerikanern macht. Nach all den Problemen, die es in den 1950er und 1960er Jahren und sogar noch früher mit dem Wir-Gefühl gab, läuft es heute ganz gut. Das Universelle und das Partikuläre, die Staatsangehörigkeit und die Identität, das Gefühl, Amerikaner zu sein und das, Araber oder Italiener zu sein, schließen sich nicht aus. Amerika hat die richtige Balance gefunden, die richtige chemische Formel. Das Erfolgsrezept Amerikas ist der lateinische Leitspruch „e pluribus unum“, „aus vielen eins“. Die Beziehung zwischen den Vielen und den Einzelnen, der Einzigartigkeit und einem Gemeinschaftsgefühl funktioniert gut.

In Europa ist sie problematisch. Timothy Garton Ash hat kürzlich vorgeschlagen, eine „Europeanness“ zu definieren. Dann könnten Menschen sagen:„Ich bin Deutsch-Europäer“ oder „Marokko-Europäer“. Denn Identitäten wie „türkisch-deutsch“ oder „marokkanisch-französisch“ scheinen nicht so gut zu funktionieren.

Er hat recht, das sollte das Ziel sein. Ich würde sogar noch weitergehen als Timothy Garton Ash. Mein Traum wäre ein Staat, in dem Sie Europäerin deutscher Abstammung sind, in dem ich Europäer französischer Abstammung bin. Das ist meine Vorstellung von einem echten Europäer, wie ich einer bin. Aber, wie Sie wissen, sind wir davon noch weit entfernt, vor allem in Frankreich. Wäre der Umgang mit den Gegensätzen, den jeweiligen Eigenheiten einfacher, wenn man sich an einem europäischen Muster statt an einem nationalstaatlichen orientieren würde? Ich glaube schon. Ich denke, es ist einfacher, eine partikulare Identität im Rahmen einer allgemeineren zum Ausdruck zu bringen, wenn es sich bei der allgemeinen nicht um eine nationale handelt.

Statt einer nationalen eine allgemeine Identität?

Der Nationalismus ist absoluter Mist, ein Virus, eine Epidemie. Europa hat zum Glück ein paar Tugenden. Was ist Europa? Es ist eine Maschine, die der Herstellung von Wohlstand dient. Zweitens: eine Maschine zur Herstellung von Frieden, in Deutschland und Frankreich. Drittens: eine Maschine zur Herstellung von Demokratie, etwa in Portugal, Spanien, Griechenland, Polen, der Tschechischen Republik und der Slowakei. Viertens: eine Maschine zur Verringerung von Nationalismus. Europa ist keine Ikone, vielleicht ist es eine Identität, aber nicht in der Art, wie wir den Begriff gemeinhin verstehen. Europa bietet keine organische Identität. Es ist sozusagen eine Fabrik. (Tee wird gebracht) Ich schenke Ihnen ein, das ist französische Galanterie.

Ist es nicht eher eine gemeinsame europäische Tradition, gegenüber einer Frau höflich zu sein?

In Amerika verbindet die Omnipräsenz der amerikanischen Fahne. Ich kann dort keine Verringerung des Nationalismus erkennen.
 Doch. Weil das kein Nationalismus ist. Was die Amerikaner Patriotismus nennen, gleicht nicht der europäischen Vorstellung von Nationalismus. In Amerika bedeutet Patriotismus, dass man die Verfassung ehrt, ein paar Prinzipien anerkennt, eine locker definierte Gemeinschaft und Zugehörigkeit, leicht und zerbrechlich. In Europa, in Deutschland, Frankreich, bedeutet Nationalismus Boden, Wurzeln, gemeinsame Erinnerungen, eine lange Geschichte, manchmal auch Rasse und so weiter. Ich denke, Amerikaner zu sein beinhaltet, dass man in seinem Verhältnis zu Amerika das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer solchen Gemeinschaft reduziert. Es bietet die Möglichkeit, die Gemüter gemeinschaftsversessener Patienten mit ihren Vorstellungen von gemeinsamen Wurzeln und so weiter etwas abzukühlen. Das ist ein Nationalismus ohne die Fixierung auf Wurzeln, ein Nationalismus amerikanischer Art. Ein Nationalismus beziehungsweise ein Patriotismus, der dem recht nahe kommt, was Habermas „Verfassungspatriotismus“ nennt.

Ist Barack Obama ein Vorbild für den neuen Amerikaner und für das Ende identitätsbezogener Ideologien? Sie nennen seine Art„die schöne Erscheinung des Kompromisses“.

Es gibt zwei Gründe für Obamas Beliebtheit: Er ist eine schwarze Führungsfigur, die nicht auf Schuld und schlechtes Gewissen baut, sondern auf Verführung. Die Schuld-Karte spielt er deshalb nicht, weil er nicht von ehemaligen Sklaven abstammt. Er ist der Sohn eines Afrikaners. Zweitens ist seine Sprache nicht die der Anklage, der Abgrenzung verschiedener Gemeinschaften, sondern die des Kompromisses, der ausgestreckten Hand.

In Europa sieht es derzeit anders aus: In den Pariser Vororten brannten Autos, in Amsterdam wurde Theo van Gogh ermordet.In seinem aktuellen Buch vermutete Ian Buruma schon „das Ende des süßen Traums der Toleranz“ in den Niederlanden.

Er meint auch, dass etwas vom System Toleranz zu retten ist. Aber er hat recht. Wir brauchen in Europa heute eher mehr Integration, mehr Brüderlichkeit, als mehr Toleranz. Wenn Toleranz bedeutet, dass jeder von uns das ist, was er ist, und die kleinste Gemeinsamkeit zwischen uns darin besteht, dass wir einander nur tolerieren – dann kann das zu Gewalt und Mord führen. Was wir heute brauchen, und vor allem für die muslimischen Gemeinschaften: echte Staatsbürgerschaft, echte Integration, echten Respekt vor republikanischen Grundsätzen. Wir müssen einen Mittelweg finden zwischen dem amerikanischen Modell und dem republikanischen in Frankreich.

Wie würde das in der Praxis aussehen?

Die Franzosen haben zum Beispiel recht, wenn sie den Schleier etwa in Schulen verbieten. Ein englischer Minister hatte recht, von Frauen zu verlangen, dass sie mit unverhülltem Gesicht zu ihm kommen. Ich finde, es gibt Regeln. Man kann eine Demokratie nicht auf einem totalen Relativismus bauen. Die Folge wäre eine Geschichte wie jene von Theo van Gogh.

Wenn man Umfragen mit Immigranten in Europa liest, beklagen sie sich nicht über den Mangel an Integration, sondern über Arbeitslosigkeit und schlechte Wohnverhältnisse.

Die Unruhen in Frankreich waren soziale Unruhen. Nur wenige Intellektuelle in Frankreich haben das verstanden. Es ging nicht um ethnische Konflikte oder den Islam, sondern um Arbeitslosigkeit und soziale Missstände. Natürlich gab es Gewalt, barbarische Aktionen. Wenn Sie einen Blick auf die Geschichte des 19. Jahrhunderts werfen, auf die Pariser Kommune etwa, dann wurden da nicht nur Gegenstände zerstört, sondern auch Menschen getötet. Soziale Bewegungen gehen immer mit Gewalt einher.

Ian Buruma nennt Immigranten in Holland „Schüssel-Menschen“, weil sie mit einer geteilten Identität leben – zwischen den Niederlanden und ihrer Satellitenschüssel, mit der sie Nachrichten aus ihren Heimatländern empfangen. Warum hat Amerika das Problem der geteilten Identität nicht?

Weil man den Einwanderern dort nicht ein Modell der Staatsbürgerschaft anträgt, das die Verneinung ihrer ursprünglichen Identität bedeutet. Amerika bietet ein Modell der Zugehörigkeit, die zur anderen Zugehörigkeit dazukommt. In Frankreich heißt es demgegenüber: entweder die eine oder die andere. Und genau das funktioniert eben nicht. Natürlich geht es in Amerika auch nur, wenn sich die eine Zugehörigkeit, die zur anderen dazukommt, als anpassungsfähig erweist. Es gibt drei grundlegende Modelle: Beim ersten sagt man Ihnen: „Um deutsch sein zu können, müssen Sie vergessen, dass Sie marokkanisch waren.

Sie müssen Ihre vorherige Identität vergessen, ausradieren.“ Dann gibt es ein Modell, auch ein schlechtes, nach dem Motto: „Sie können sein, was Sie sein wollen, Sie können den Schleier tragen, Sie müssen die Sprache des Einwanderungslandes nicht sprechen, wenn Sie nicht wollen kein Problem, Hauptsache, Sie bezahlen Ihre Steuern.“ Dann wäre da noch ein drittes, gutes Modell, das die Amerikaner mehr oder weniger erfolgreich entwickelt haben. In diesem Modell haben Sie zwei Identitäten, die sich gegenseitig ergänzen, unter der Bedingung, dass sie einander nicht widersprechen. Das ist das amerikanische Modell, der Grund dafür, dass es dort funktioniert.

Das Interview führte Nikola Richter



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