Goldene Regel

von Otfried Höffe

Toleranz und ihre Grenzen (Ausgabe III/2007)


Die Frage ist aktuell, ihre Aktualität aber erstaunlich: „Wie können Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen in einem Gemeinwesen zusammenleben?“ Aktuell ist die Frage wegen der Phänomene von Fremdenfeindlichkeit und religiös motivierter Intoleranz. Erstaunlich ist die Aktualität, weil die Antwort längst bekannt und im Wesentlichen anerkannt ist.

Die Antwort besteht nicht in der Demokratie, zumindest nicht in deren verfassungsrechtlichem Begriff: dass alle Gewalt vom Volk ausgeht. Diese auf den ersten Blick provokative Einsicht bringt eine Entlastung. Das Zusammenleben, es versteht sich: immer das gelungene Zusammenleben, verschiedener Kulturen ist nicht an die Verfassungsform der Demokratie gebunden. Entscheidend sind drei andere Faktoren zweifellos werden sie in liberalen Demokratien anerkannt, sie vertragen sich aber auch mit nicht-demokratischen Staatsformen. Es gibt eine weitere Entlastung: Die drei Faktoren, jeder politischen Bildung wohlvertraut, sind mit Argumenten zu rechtfertigen, die an die europäisch-amerikanische Kultur nicht gebunden sind. Statt die westliche Rechtskultur, folglich das Abendland zu privilegieren, erörtern wir die Toleranz im Rahmen von multikulturellen, sogar inter- und transkulturellen Rechtsdiskursen. Alle drei erleichtern den interkulturellen Diskurs, da sie, wie gesagt, an die Demokratie im verfassungsrechtlichen Sinn nicht gebunden sind.

Der erste Faktor besteht im Rechtsstaat, in ihm ist jeder vor dem Gesetz gleich. Den zweiten Faktor bildet der Verfassungsstaat beziehungsweise liberale Rechtsstaat, er verpflichtet das Gesetz auf die Menschenrechte. Deretwegen darf niemand wegen seiner Rasse, seines Glaubens oder seiner Religion benachteiligt oder bevorzugt werden. Der dritte Faktor besteht in der Toleranz, er kann auch Liberalität heißen und spielt in drei Dimensionen eine Rolle.

Auf die erste und grundlegende Dimension weist der zweite Faktor: Die politische Toleranz, die Toleranz als Rechts- und Staatsprinzip, erhebt die Religions- und die Meinungsfreiheit in den Rang eines Menschen- und Grundrechts. Seinetwegen ist der Staat religiös und weltanschaulich neutral. Auf das tolerante Gemeinwesen folgt die tolerante Gesellschaft. Diese zweite Ebene erlaubt jedem Bürger, sich zu allem, aber auch zu nichts zu bekennen. Nach dieser zweiten Dimension, der sozialen Toleranz oder Toleranz als Lebensprinzip einer Gesellschaft, darf man sich in beliebigen Lebensformen entfalten. Ein toleranter Staatsbürger schließlich bringt auch den Menschen Achtung entgegen, die anderen Religionen, Konfessionen oder politischen Überzeugungen anhängen oder andere Lebenspläne verfolgen. Dies ist die dritte, personale Toleranz, die Toleranz als Bürgertugend.

Viele Grenzen der Toleranz sind fast trivial, denn sie verstehen sich so gut wie von selbst. Ich beginne mit einer Grenze, die selbstverständlich sein sollte und doch zwei Jahrzehnte lang verdrängt wurde: von Politikern, von Medien, von Sozialwissenschaftlern und politischen Intellektuellen. Weil mangelnde Kenntnisse in der entscheidenden Sprache, der Rechts-, der Medien- und der Umgangssprache die Berufs- und Sozialchancen beeinträchtigen, macht sich eine Öffentlichkeit, die spät und zögernd reagiert, hier mitschuldig. Mit mangelnden Sprachkenntnissen nachsichtig zu sein, halte ich jedenfalls für falsch verstandene Toleranz, angesichts der lange Zeit vorherrschenden politischen Einstellung zusätzlich für ein Zeichen mangelnder Zivilcourage.

Die Toleranz tritt in zwei Stufen auf. Die Elementar-, eigentlich nur Vorstufe, die passive Toleranz, begnügt sich mit einer Duldung, die sich nicht selten mit Verachtung paart. Deren Steigerung, die einzig wahre, die aktive und authentische Toleranz, lässt die Andersdenkenden und Anderslebenden nicht etwa unwillig gelten. Sie überwindet das bloße Gewährenlassen der Fremden und bejaht aus freien Stücken deren Lebensrecht, deren Freiheit, selbst deren Entfaltungswillen.

Gemeinwesen sind dort im schwächeren, passiven Verständnis tolerant, wenn sie Minderheiten ertragen, im stärkeren, aktiven Verständnis, wo sie, wie in liberalen Demokratien üblich, den Minderheiten öffentlich-rechtlichen Schutz gewähren und auch gewährleisten. Zur Toleranz einer Gesellschaft gehört freilich mehr. Eine über die politische Ebene hinausreichende soziale Toleranz verzichtet auf jeden Konformitätsdruck sie erlaubt selbst exzentrische Lebensweisen, vorausgesetzt, diese sind gewaltfrei, besser noch: friedfertig. Denn der wechselseitige Respekt der aktiven Toleranz gefällt sich nicht in einem zynischen Nihilismus, der schlechthin alles gelten lässt, sowohl Lebensweisen, mit denen man sich persönlich zugrunde richtet, als auch Handlungen oder Gesetze, die andere einem krassem Unrecht unterwerfen, oder Gesellschaftsverhältnisse, die großen Bevölkerungsteilen (den Frauen, den Farbigen, etc.) gleiche Chancen verwehren. Ebenso achtet sie Religionen, die keine anderen Religionen neben sich dulden.

Die höhere, authentische Toleranz ist kein Feigenblatt, hinter dem sich eine moralische Indifferenz verbirgt. Sie gründet im Bewusstsein des eigenen Wertes, in Selbstschätzung: im Selbstwertgefühl, sogar in Selbstachtung. Ob Individuen (personale Toleranz), Gemeinwesen (politische Toleranz) oder Kulturen beziehungsweise Gesellschaften (soziale Toleranz) – wer tolerant ist, sieht im Anderen keinen Gegner oder gar Feind. Statt ihn gewaltsam zu bekehren oder gar gewaltsam auszurotten, sucht er ein Miteinander auf der Grundlage von Ebenbürtigkeit und Verständigung.

Alle drei Dimensionen der Toleranz werden durch die Fähigkeit erleichtert, im Anderen nicht nur das Andere zu sehen. Sozialwissenschaftler setzen erstaunlicherweise die Toleranz oft mit Wertrelativismus gleich. Vor allem Völkerkundler beziehungsweise Kulturanthropologen fühlen sich gern als Aufklärer. Um den naiven Glauben an die „alleinseligmachende Wahrheit“ der eigenen Werte und Lebensweisen zu erschüttern, betonen sie die Fremdheit des Anderen. Aus philosophischer Sicht trägt dieser Aufklärungsgestus ein Moment von Naivität an sich. Die philosophische Fortsetzung, eine Aufklärung über Aufklärung, besteht in einer Aufklärung zweiter Stufe. Diese hebt zwei Elemente hervor, die die schlichten Aufklärer häufig übersehen:

Erstens ist die Aufklärung über Fremdartiges nicht neu. Schon ein großer Mathematiker und Philosoph, Blaise Pascal, stellt spöttisch fest, die Gerechtigkeit werde durch einen Fluss begrenzt und meint, diesseits und jenseits des Rheins herrschten unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen. Mehr als zwei Jahrtausende früher schreibt ein griechischer Historiker, Herodot, über die Unterschiede in den Bestattungsriten: Die Perser setzen ihre Toten wilden Tieren aus, die Griechen verbrennen und die Inder verspeisen sie. Zweitens droht eine perspektivische Täuschung. Denn das, was auf der Oberfläche als verschieden erscheint, muss es im normativen Kern nicht sein. Vielfach unterscheidet man nicht zwischen den normativ primären Elementen und den normativ sekundären Gerechtigkeitsvorstellungen beispielsweise im Erbrecht.

Ferner können die beobachtbaren Unterschiede aus geografisch, klimatisch oder ökonomisch unterschiedlichen Randbedingungen folgen. Achtet man auf die normativ primären Elemente, so entpuppt sich das Fremde oft als gar nicht so fremd. Den Unterschieden auf der Oberfläche liegen gemeinsame Prinzipien zugrunde, bei den Bestattungsriten etwa die hohe Achtung der Toten. Und sowohl diesseits als auch jenseits des Rheins erkennt man als Kern der Gerechtigkeit die Gleichheit und die Unparteilichkeit an. Ferner gibt es das Prinzip der Wechselseitigkeit, die Goldene Regel. Aus interkulturellem Interesse blättern wir beispielsweise im indischen Nationalepos Mahabharata und finden dort: „Was ein Mensch sich nicht von anderen angetan wünscht, das füge er auch nicht anderen zu.“ In einem ägyptischen Weisheitsbuch heißt es „Tue niemandem etwas Böses an, / um nicht heraufzubeschwören, dass ein anderer es dir antue.“ In China lehrt Konfuzius: „Was man mir nicht antun soll, will ich auch nicht anderen Menschen zufügen.“ Und das Neue Testament bestätigt: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.“ (Matthäus 7, 12.)

Kehren wir zur Toleranz zurück und überlegen uns die Rechtfertigung: Die Toleranz hängt auf eine qualifizierte Weise mit Pluralismus, auch Relativismus zusammen. Fehlt nämlich ein sozialer oder religiöser Pluralismus oder herrscht ein absoluter Relativismus, so ist die neue Toleranz gegenstandslos. Gehören alle Menschen derselben Religion an, so braucht es keine religiöse, pflegen alle denselben Lebensstil, so braucht es keine soziale Toleranz. Ebenso wenig ist sie dort gefragt, wo vollkommene Beliebigkeit und vollständige Gleich-Gültigkeit herrschen. Gelten alle Ansichten und Lebensformen als gleicherweise gültig, so verliert die Toleranz ihren Anwendungsbereich. Denn die Duldung des Anderen setzt nicht bloß ein Anderssein voraus, sondern auch, dass einem das eigene Anderssein wichtig, das fremde aber zunächst einmal anstößig ist.

Tolerant ist nicht, wer eine aufgeklärte oder abgeklärte Indifferenz pflegt. Den Ehrentitel verdient nur, wer jemanden in seinen Ansichten, Bekenntnissen, in seiner Weltanschauung oder Lebensweise erträgt, obwohl diese den eigenen widersprechen. Tolerant ist, wer im Gegensatz zur Gleichgültigkeit tatsächlich Zumutungen erfährt, sie im Gegensatz zur Intoleranz aber aushält.

Viele halten die Toleranz für eine Erfindung der Neuzeit. Tatsächlich wird ein wichtiges Prinzip schon eineinhalb Jahrtausende vorher aufgestellt. Im alten Orient waren Religion, Gesellschaft und Staat miteinander eng verquickt. Im Gegensatz dazu deutet die neutestamentliche Forderung „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist“ (Matthäus 22, 21) eine Ent-Quickung an. Das davon mitinspirierte Toleranzedikt von Mailand macht schon im Jahr 313 das entscheidende Element rechtsverbindlich: Wegen der klaren Unterscheidung von Staat und Religion steht es jedem frei zu glauben, was er will. Die Folge: für Religionsdelikte werden weltliche Strafen verboten. Ein Jahrhundert später jagt aber das rasche Aufkommen von Spaltungen und Abweichungen dem Kirchenlehrer Augustinus einen derartigen Schrecken ein, dass er in altorientalische Verhältnisse zurückfällt und die Religion wieder eng an die Politik bindet. Nicht selten lässt man den Übertritt zu einem fremden Kult sogar wie ein Kapitalverbrechen bestrafen.

Dass sich am Ende die Religionsfreiheit weithin durchsetzt, verdankt sich nicht schlicht Einsicht, sondern meist erst der blutigen Erfahrung religiöser Kriege und Bürgerkriege, darüber hinaus wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Gründen. Denn Intoleranz gefährdet die freie Entfaltung von Handel und Gewerbe, auch von Wissenschaft und Kunst. Tolerante Staaten wie Brandenburg-Preußen und die Niederlande blühen dagegen wirtschaftlich und kulturell auf. Schon das aufgeklärte Selbstinteresse spricht also zugunsten von Toleranz.

Normativ grundlegender ist die Rechtfertigung aus der unantastbaren Menschenwürde. Sie erklärt jeden Menschen zu einer freien und ebenbürtigen Person, ausgestattet mit dem Recht, eigene Überzeugungen zu bilden und ihnen gemäß zu leben. Zu diesem Prinzip gehört freilich, dass man dasselbe Recht aller Anderen anerkennt. Die Toleranz endet dort, wo Freiheit und Würde Anderer verletzt werden.

Die Rechtfertigung aus der Freiheit und Würde jedes Menschen enthält also beides: ein Maß für die Toleranz und ein Kriterium für ihre Grenzen. Mit der Forderung, niemandem eine Freiheit zu erlauben, die allen Anderen nicht ebenso erlaubt ist, lässt die Toleranz sich auf das Erdulden von Unrecht nicht ein. Wo der Schutz der Freiheit und der Menschenwürde es notwendig machen, geht sie in Kritik, Anklage und Protest über. Als ein rechtsmoralisches, in der Gerechtigkeit begründetes Prinzip begegnet sie, paradox gesagt, Intoleranz mit Intoleranz.

Weil die interkulturell anerkannte Goldene Regel auf dasselbe Ergebnis kommt, kann man ein weiteres Paradox formulieren. Multikulturell gültige Argumente erheben Einspruch gegen eine schrankenlose Multikulturalität. Das Kriterium für diesen Einspruch liegt auf der Hand: Ein Gemeinwesen und eine Kultur verdienen umso mehr Achtung, als sie die vom Gerechtigkeitsprinzip der gleichen Freiheit begründeten Menschenrechte achtet.

Der medizinische Psychologe Alexander Mitscherlich sieht in der Toleranz zu Recht ein Zeichen von Ich-Stärke, weshalb der Sozialwissenschaftler Karl-Otto Hondrich sekundieren kann: „Die aggressive Entladung gegen die schwächsten Minderheiten ist ein Indikator temporär überforderter Liberalität.“ Eine tolerante Gesellschaft reagiert mit einer Doppelstrategie. Sie verbindet den kompromisslosen Einspruch gegen die Aggression nicht mit einer selbstgefälligen Empörung, sondern mit dem Versuch, die Chancen der Aggressoren zu einer Selbst- und Weltachtung so weit zu stärken, dass ihre Liberalität nicht länger überfordert wird.

Rechtspolitisch betrachtet, müssen Religion und politisches Gemeinwesen nicht beziehungslos nebeneinander stehen. Denn selbst wenn das für die Religion entscheidende Reich Gottes nicht von dieser Welt ist, hegt eine Religionsgemeinschaft Erwartungen, sogar Zumutungen an den Staat. Zu Recht verlangt sie für sich als Institution, was sie als gerechte Religionsgemeinschaft für alle anderen Religionsgemeinschaften ebenso einfordert: die Religions-, Glaubens- und Gewissensfreiheit. Weiterhin verpflichtet sie das Gemeinwesen auf Gerechtigkeit und Frieden in Anerkennung der Würde jedes Menschen.

Aus diesem Grund haben Religionsgemeinschaften, wenn sie nur ein Minimum an Aufklärung anerkennen, eine besondere Affinität zum liberalen Gemeinwesen. Für das Christentum trifft dies seit Langem zu. Der Islam – das darf man nicht übersehen – tut sich in den von ihm beherrschten Staaten damit schwer. Glücklicherweise widersetzen sich dem manche muslimische Theologen. Nach Mehmet Aydin erklären schon im 19. Jahrhundert islamische Autoritäten, die Herrschaft des Rechts stehe dem Geist der (islamischen) Offenbarung näher als eine autoritäre Ordnung.

Auf der anderen Seite hat auch der Staat Zumutungen an die Religionsgemeinschaften. Sie beginnen damit, dass sich eine Religionsgemeinschaft, soweit sie Machtmittel einsetzt, sich auf die geistlichen Dinge zu beschränken hat. Insbesondere in einem Punkt darf der Staat nicht nachgeben: Die Freiheit, die die Religionsgemeinschaften vom Staat verlangen, die Freiheit des Ein- und Austritts, müssen sie auch ihren Mitgliedern gewähren. Weiterhin muss der Staat erwarten, dass in den Religionsgemeinschaften nicht Intoleranz, auf keinen Fall aber Gewaltbereitschaft und Hass „gepredigt“ werden. Von der unter Muslimen vorkommenden Gewalt, insbesondere den sogenannten Ehrenmorden, weiß ein liberales Gemeinwesen zwar, dass sie nicht aus dem Islam als Religion entspringt. Es darf aber auch erwarten, dass islamische Geistliche nicht etwa ein Auge zudrücken, sondern sich deutlich genug dagegen aussprechen: sowohl in den Moscheen als auch in den Koranschulen, nicht zuletzt in der großen Öffentlichkeit.

Gering sind die wechselseitigen Erwartungen also nicht. Entscheidend ist, dass ein liberaler Staat auf religiöse Wahrheitsansprüche, die Religionsgemeinschaft dagegen auf jede Befugnis zu weltlicher Herrschaft verzichtet. Kein religiöses Gesetz, weder ein christliches noch die Sharia des Islam, dürfen in weltlichen Angelegenheiten verbindlich sein. Sofern Religionsgemeinschaften abweichende Ansichten, Häresien, mit Ausschluss ahnden, darf die Exkommunikation keinerlei weltlich-staatliche Folgen haben. Vor allem dürfen die Religionsgemeinschaften kein Apostasie-Verbot, also ein Verbot, vom angestammten Glauben abzufallen, mit weltlichen Strafen erzwingen.

Hier tragen Gemeinwesen eine Verantwortung gegenüber ihren muslimischen Bürgern, die sie noch viel zu wenig ernst nehmen. Sie geben sich meist damit zufrieden, Gewalttaten, etwa Ehrenmorde, strafrechtlich zu verfolgen und nicht-muslimische Bürger vor gewaltbereiten Muslimen zu schützen. Dagegen besteht kaum ein Interesse für die Frage, wie man muslimische Frauen vor Zwangsheirat bewahrt oder wie Muslime beiderlei Geschlechts, wenn sie denn wollen, ihre Religion aufgeben dürfen, ohne sich in Gefahr, teilweise sogar Lebensgefahr zu begeben.

Zur Aufgabe, die eigenen, auch die muslimischen Bürger zu schützen, gehört die Verantwortung für den Koranunterricht: Für deren Lehrer ist die in Deutschland und anderswo übliche akademische Ausbildung zu fordern. Und sie sollte von Lehrstühlen für Islamstudien getragen werden, Studien, die durchaus in Zusammenarbeit mit „authentischen“ Muslimen stattfinden sollten, also mit Sunniten und Schiiten, mit Türken, aber auch Iranern, nicht zuletzt mit unverdächtigen Intellektuellen aus dem Vorderen Orient, zum Beispiel mit der Doyenne der türkischen Philosophie und Spezialistin für Menschenrechte im interkulturellen Dialog, mit Ionna Kuçuradi. Grundfalsch ist es jedenfalls, Lehrer zu importieren, die die hiesigen Rechts-, Sozial- und Kulturverhältnisse nicht kennen, dafür aber mit einem Rucksack voll Vorurteilen gegen „den Westen“ eintreffen.

Ich schließe mit einer weiteren rechtspolitischen Bemerkung: Wie in früherer Epoche auch das Christentum, so zeichnet sich der traditionelle Islam noch heute durch Verquickung der Religion mit Staat und Gesellschaft aus. Im Fall des Islam könnten dafür zwei Faktoren eine Rolle spielen: das Vorbild des christlichen Byzanz, dem der welterfahrene Großkaufmann Mohammed aufgeschlossen gegenüberstand (Sure 30, 1-5), und die von ihm vorgefundene altorientalische Gesellschaft, bei deren Polytheismus das staatliche Gewaltmonopol fast zwangsläufig in die Religion hereinreichte. Nach beiden Faktoren gründet die Verquickung mit Gesellschaft und Staat nicht in der religiösen Substanz des Islam. Nach seinem schlechthin ersten Prinzip „Es gibt keinen Gott außer Allah“ geht es ihm vor allem um einen reinen Monotheismus. Die nächstwichtigen Elemente werden durch eine bescheidene Säkularisierung ebenfalls nicht tangiert, weder das Bekenntnis zur Prophetenschaft Mohammeds oder das fünfmalige tägliche Gebet, noch das Geben von Almosen, das Fasten im Monat Ramadan oder die Wallfahrt nach Mekka. Infolgedessen vermag der Islam seine Verquickung mit Staat und Gesellschaft aufzugeben, ohne an religiöser Substanz zu verlieren. Und liberale Gemeinwesen müssen diese Leistung einfordern. Denn zu einem geringeren Preis, zu einem Discount, ist weder die interkulturelle noch die interreligiöse Koexistenz möglich.



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