Auf seinen 650 Seiten enthält „Wer regiert die Welt“ eigentlich mehrere Bücher. Ian Morris gibt darin einen Abriss der Menschheitsgeschichte von den prähistorischen Anfängen bis in die Gegenwart. Er analysiert das Verhältnis von Ost und West, genauer das Kerngebiet Ostasien und die Kerngebiete Europa plus Naher Osten über diesen gesamten Zeitraum. Morris geht es darum zu analysieren, wer von beiden wann führend war und wann und wie die Führung wechselte. Es geht ihm schließlich um die Prognose, wie dieses Verhältnis sich in nächster Zeit entwickeln wird.
Seinem Anspruch nach gehört das Buch in das Genre der Geschichtsschreibung vom Aufstieg und Untergang der menschlichen Großkulturen. Bekannte Namen wie Jakob Burckhardt, Oswald Spengler, Arnold Toynbee fallen einem beim Lesen ein, aber auch neuere Autoren wie Jared Diamond oder Paul Kennedy. Allen gemeinsam ist der universalhistorische Anspruch. Die neueren Autoren versuchen die ältere politische Großgeschichte sowie ihren ideengeschichtlichen Ansatz mit einem breiteren Fundament aufzubauen, das auch die Anthropologie, die Soziologie und die Wirtschaftsgeografie mit einbezieht.
Als Leser stellt sich der Autor offensichtlich den gebildeten Laien vor, wenn er sich für die Menschheitsgeschichte interessiert und über die Zukunft der globalisierten Welt nachdenken möchte. Vielleicht auch den Hobbyhistoriker, wenn er über die Herkunft menschlicher Kulturen und ihr Entstehen und Vergehen spekulieren möchte. Den Fachhistoriker verweist Morris auf die Webseite www.ianmorris.org, von der man ein längeres Text- und Tabellen-Konvolut mit 33 Seiten Literaturnachweisen herunterladen kann, das auf die Begründung seiner Methoden und Theorien näher eingeht. Stilistisch ist das Buch eine erstaunliche Mischung. Der Autor ist klassischer Archäologe und hat unter anderem eine große Ausgrabung in Sizilien geleitet, bei der eine Siedlung eines indigenen Volkes in der Mitte des 1. Jahrtausends v. Chr. freigelegt hat und die phönizische und griechische Kolonisation aus dieser Zeit erforscht wurde. Er ist überdies universalhistorisch sehr belesen und kennt offensichtlich die Geschichte der chinesischen Zivilisation seit dem Ende der letzten Eiszeit sehr genau.
Er erzählt in lockerer Sprache und sehr anekdotenreich aus der Geschichte der chinesischen Dynastien und der europäisch-nahöstlichen Staaten und Imperien. Sehr interessant ist dabei, dass er stets Ost und West synchron nebeneinander im Blickfeld hat. Diese unterhaltende Geschichtserzählung ist eng verwoben mit einer Darstellung der geschichtsphilosophischen Position des Autors, die sehr klobig ist und deren Unterlegung mit Zahlen, Tabellen und Graphen wenig überzeugt. Von der ungeheuren Datenmenge, die der Autor durchforstet hat, erfährt man, wenn man die erwähnte Webseite studiert. Was jedoch als Zusammenfassung herauskommt, ist eine Sammlung von wenig anschaulichen geografischen Skizzen und über die Kapitel verteilten grafischen Darstellungen, die den Anspruch erheben, den Entwicklungsstand einer Großzivilisation für einen gegebenen Zeitabschnitt mit einem Index, also einer aus mehreren Größen errechneten Vergleichszahl, zu erfassen.
Morris zeigt diesen Index als logarithmisch-lineare Darstellung (linear: Zeit logarithmisch: Entwicklungskennziffer), was anschaulich und begründet wäre, wenn es überall um geometrisches Wachstum, gegebenenfalls mit Erreichen eines Gleichgewichts (logistisches Wachstum), ginge. Der tatsächliche Verlauf ist aber offensichtlich über viele Jahrtausende ein Auf und Ab, bei dem recht große Unterschiede der Kennziffern zwischen Ost und West in der logarithmisch-linearen Darstellung kaum sichtbar sind. In den letzten Jahrhunderten ist der Verlauf dann ein hyperexponentielles Wachstum (bei dem gleichsam auch die Zeit nicht mehr linear verläuft, sondern sich kontrahiert, „beschleunigt“), wobei wiederum die Unterschiede zwischen den Zivilisationen mehr behauptet werden als erkennbar sind. Die logarithmische Darstellung verwischt beides. Zusammen ergeben sich dann sehr unübersichtliche Kurvenpaare, auf die der Textfluss dann aber ständig Bezug nimmt.
Dieser Mangel hat jedoch den interessanten Effekt, dass er zu kritischen Überlegungen zur Beschreibung des globalen Geschichtsverlaufs durch eine komplexe Kennziffer anregt. Morris leitet vier Teilkennziffern ab: je eine für „Energieausbeute“ (Energieverbrauch pro Kopf), „gesellschaftliche Organisation“ (Größe städtischer Agglomerationen), „Kriegsführung“ (militärische Kapazität) und „Informationstechniken“ (Bildungsstand und Kapazität der Nachrichtenübermittlung). Diese Indizes werden für die historische Periode von 6.000 bis 8.000 Jahren abgeschätzt, mit gleichem Gewicht kombiniert und ergeben den Gesamtindex der gesellschaftlichen Entwicklung. Das Verfahren ähnelt dem Human Development Index der Vereinten Nationen, der für den Vergleich von Nationen sinnvoll ist, allerdings für ein sehr eingeengtes Datenfeld und fundamental kürzere Zeitabschnitte angewendet wird.
Eine Vergleichszahl des Energieaufkommens pro Kopf lässt sich einigermaßen überzeugend spezifisch für eine gesellschaftliche Einheit (Ethnie, Staat, Imperium) einer prähistorischen oder historischen Epoche abschätzen. Auch die Beschreibung des Organisationsvermögens einer Kultur durch die maximal mögliche Einwohnerzahl in städtischen Siedlungen ist sinnvoll: Die Schätzung, dass Rom zur Zeitenwende eine Million Einwohner beherbergen und ernähren konnte (und nicht nur 100.000, aber auch nicht zehn Millionen) sagt etwas aus über den Zivilisationsstand, selbst wenn man einwendet, dass eine wohlgeordnete Agglomeration wie Groß-Tokio dann doch einen anderen Organisationsgrad beinhaltet als eine ungefähr gleich große, aber chaotische Agglomeration wie Lagos (Nigeria).
Mit der Quantifizierung der militärischen Kapazität (die durchaus wichtig für die historische Analyse ist) ergeben sich jedoch Bedenken – sie über große Gebiete und Tausende von Jahren vergleichen zu wollen, erinnert mich an die nervenden Fragen meines kleines Enkelsohnes, ob ein Tiger (aus Asien) einen Löwen (aus Afrika) besiegen könnte. Die Zerstörungskapazität einer Steinschleuder mit der einer Wasserstoffbombe auf einer gleichen Dimensionsskala vergleichen zu wollen, sieht dann doch sehr nach einem unzulässigen Kategorienwechsel aus, zumal sich die Einsatzbedingungen kaum vergleichen lassen. Die römische Kriegsmaschinerie um die Zeitenwende sei an ihrem Zenit ein ernsthafter Konkurrent für die europäischen Heere des 15. Jahrhunderts gewesen (trotz ihrer Gewehre und Kanonen), so heißt es, und sie sei jener der chinesischen Tang-Dynastie (um 600 bis 900 n. Chr.) eindeutig überlegen gewesen. Dem Autor kommen bei dieser Art von völlig spekulativen militärischen Konfrontationen offensichtlich keine Bedenken.
Die Quantifizierung des Informations- und Bildungsstandes schließlich, die für das klassische Griechenland zum Beispiel die Kennzahl 0,02 und für den gegenwärtigen Westen 250 ergibt (12.500-mal mehr Information und Bildung!), erzeugt bei mir ironische Heiterkeit über die Absurdität quantitativer Vergleiche, wenn offensichtlich qualitative Sprünge vorliegen. So halte ich die Vermessung der Universalgeschichte durch eine Indexziffer für sehr fragwürdig, obwohl mir die Verwertung des enormen statistischen Faktenmaterials imponiert, das der Autor auf seiner Webseite referiert. Beeindruckend ist, welche interessanten Einsichten die Ergänzung der klassischen Historie (politische und Ideengeschichte) durch die modernen Methoden der Kulturanthropologie und der Wirtschaftsgeschichte erzeugt. Die entscheidende Bedeutung von geografischen, biologischen, epidemiologischen und klimatischen Bedingungen für die Entstehung der beiden Kerngebiete menschlicher Zivilisation kommt in der faktenreichen Darstellung sehr eindrucksvoll zur Geltung.
Der Westen (Europa plus Levante) war dem Osten über prä- und frühhistorische Epochen stets um 1.000 bis 2.000 Jahre voraus, so geht die Großerzählung, im Mittelalter wurde er überholt, und erst mit der Neuzeit setzte der Westen sich wieder an die Spitze. Von der These dass die Völker des Westens kulturell oder gar genetisch überlegen seien, hält der Autor überhaupt nichts. Es gibt für ihn auch keinen historischen Determinismus, keine prinzipielle Überlegenheit von europäischer gegenüber asiatischer Produktionsweise oder Erfindungsgabe. Und das Zeitalter der Hegemonie des Westens geht folgerichtig gerade jetzt zu Ende: Wieder einmal wird der Osten in Führung gehen. China wird die USA als Welthegemon ablösen. Mit seiner stürmischen Entwicklung drohen eine Krise der weltweiten Energieversorgung und eine globale Klimakrise.
Auch militärische Konflikte mit dem Westen sind nicht ausgeschlossen. Ob die Menschheit diese Herausforderungen meistert, lässt der Autor offen. Nur Historiker, so lauten die letzten Sätze, könnten die große Erzählung gesellschaftlicher Entwicklung im Zusammenhang darstellen nur sie könnten die Unterschiede erklären, die die Menschen trennen nur die Historiker könnten uns lehren, wie wir verhindern, dass diese Unterschiede uns zerstören. Diesen Anspruch hat das Buch nur unvollkommen erfüllt. Wer allerdings Interesse hat für eine lebendige Geschichtserzählung des Ostens wie des Westens, der sollte sich trotzdem Zeit nehmen für dieses Buch.
Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden. Von Ian Morris. Aus dem Englischen von Klaus Binder, Waltraud Götting und Andreas Simon dos Santos. Campus Verlag, Frankfurt/New York, 2011.