Was wären Mensch und Menschheit ohne die Schrift und all das, was sie hervorgebracht, mitgestaltet und mitbewegt hat? Die Schrift begleitet den Menschen ein Leben lang – von der Geburtsurkunde bis zur Todesanzeige.
Das Schreiben entstand nach 150.000 Jahren sprachlicher, aber schriftloser Zeit neuesten Forschungserkenntnissen zufolge vor etwa 8.000 Jahren. Es waren die Bewohner der Ebenen und Berge auf beiden Seiten der unteren Donau, die im ausgehenden 6. Jahrtausend v. Chr. als Erste anfingen, schriftähnliche Striche und Zeichen in Kultobjekte aus Ton einzuritzen. Diese Symbole werden heute als alteuropäisch, paläobalkanisch und als Donauschrift bezeichnet – in Anlehnung an die sogenannte Donauzivilisation. Die Erforschung dieser Zivilisation und ihrer Schrift führte vor allem seit den 1990er-Jahren zu einem Paradigmenwechsel in den Vorstellungen über die Ursprünge und die Frühgeschichte der Schrift: Deren Anfänge wurden etwa 2.000 Jahre vorverlegt.
Auch der Ort, der Kulturkreis und damit das gesellschaftliche Erklärungsmodell für Schriftentstehung und -entwicklung veränderte sich: Die frühen Hochkulturen des Nahen Ostens, die sumerische Piktografie und Keilschrift und die Hieroglyphen im prädynastischen Ägypten – beide aus dem 4. Jahrtausend v. Chr. –, sind nun nicht mehr das erste, sondern nach der Donauschrift das zweite Glied in der Chronologie der Weltschriftentwicklung. Aber viel wichtiger ist, dass die Vorstellung, Schrift brauche für ihre Entstehung ein Staatswesen mit einer Bürokratie, die für ihre Amtsführung schriftliche Zeugnisse benötige, überwunden wurde. Denn die Schrifterfinder der Donauzivilisation lebten als Jäger, Sammler und Bauern anscheinend ohne eine staatliche Organisation in kleinen Gemeinwesen mit wenigen Tausend Einwohnern. Es war eine eher egalitär organisierte Urgesellschaft, die trotzdem kulturelle Höchstleistungen vollbrachte.
Aber auch die Schriftentwicklung in den Zivilisationen, die chronologisch folgten – in Alt-Indien (etwa 2.600 v. Chr.) und in Alt-China (etwa 1.200 v. Chr.) –, geschah ohne Staatswesen und Imperien. Die Olmeken, die Pioniere der Schrift in Amerika (zwei Jahrtausende v. Chr.) waren wiederum wie die Ägypter und Mesopotamier in einer hierarchisierteren staatsähnlichen Ordnung mit urbanen Zentren organisiert. Schrift entwickelte sich in der Welt also sowohl parallel in verschiedenen Zivilisationen (Polygenese) als auch in einer Polyphonie gesellschaftlicher Modelle und Strukturen. Es handelte sich überall aber ursprünglich um Symbole, um eine Begriffsschrift. Also muss auch die Vorstellung, dass Schrift sich in einem direkten Bezug zur Sprache entwickelte, korrigiert werden.
Das phonetische Prinzip, dass ein Schriftzeichen einem oder mehreren Lauten entspricht, wurde durch die Phönizier und andere Stämme im Vorderen Orient erst Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. eingeführt. Schrift entstand aber, ähnlich wie die Sprache, in direktem Bezug zum menschlichen Denken. Sie manifestierte neben der späteren Sprache-Denken-Schrift-Relation auch die Entwicklung eines anderen menschlichen Denkmusters: das des visuellen Denkens und der visuellen Gestaltung durch die menschliche Hand sowie der Wahrnehmung durch das menschliche Auge. Die Einbeziehung des Hauptinstruments der Arbeit – der Hand – in die schriftlichen Aktivitäten des Menschen dürfte ihre Bedeutung für die Entwicklung des menschlichen Denkens und der Sprache gehabt haben.
Ein Forschungsteam von Genetikern und Psychologen an der Universität Michigan hat bereits 2003 wissenschaftliche Untersuchungen veröffentlicht, die beweisen, dass die Evolution des Menschen von seinen Schrift-Aktivitäten zumindest mit beeinflusst wurde und dass spezifische menschliche Gene sich erst mit der Schrift entwickelten.
Eine weitere interessanten These vertritt Bruce T. Lahn von der Universität Chicago. Er nimmt an, dass die Variationen des menschlichen ASPM-Gens (Abnormal spindle-like microcephaly-associated-gene) ihren Ursprung in den Bevölkerungsgruppen der ersten Zivilisationen in Mesopotamien vor etwa 7.000 Jahren haben, ungefähr zu der Zeit, als dort der bereits „zivilisierte“ Mensch die Schrift erfand und anzuwenden begann. Die Untersuchungsbasis dieser Studie war ethnokulturell sehr breit angelegt: Es wurden 1.200 Personen aus 59 Ethnien einbezogen, deren genetisches Material mit dem der Vorfahren aus verschiedenen Epochen verglichen wurde. Eine der wichtigsten Schlussfolgerungen aus dieser Forschung ist, dass die Entwicklung des menschlichen Gehirns weitergeht und auch über die geschichtlichen Epochen weitergegangen ist –und nicht, wie lange Zeit angenommen wurde, vor 50.000 Jahren stoppte.
Welche Rolle dabei das Lesen und Schreiben und die Entwicklung der schriftkulturellen Fähigkeiten des Menschen konkret gehabt haben, kann aufgrund der heute zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Instrumentarien der Genetik und anderer Hilfswissenschaften immer noch nicht analysiert werden. Aber es ist, wie auch bei anderen Themenkomplexen der menschlichen Evolution, eine Frage der Zeit. Auch heute lässt sich aber feststellen, dass die Variationen des Gens ASPM viel häufiger bei den Völkern anzutreffen sind, die ein phonetisches Alphabet, also ein Laut-Zeichen-System der Verschriftlichung, benutzen – in Europa, dem Nahen Osten oder Indien –, als bei den Völkern, die eine Symbolschrift verwenden – wie Chinesen und Japaner – oder zumindest lange verwendet haben, wie die Maya und andere Indianerstämme in Mittel- und Südamerika. Vielleicht ließe sich über die Schrift mancher Unterschied, manche Besonderheit in Mentalität und sozialem Verhalten der verschiedenen Völker und Zivilisationen, die Vielfalt menschlichen Denkens und Fühlens besser erklären. Das Lesen chinesischer Schriftzeichen beansprucht zum Beispiel viel intensiver das analytische Vermögen des Menschen, weil die Schrift im Grunde interpretiert werden muss und nicht einfach gelesen werden kann.
Während die Entwicklung der Schrift bei verschiedenen Völkern, die in demselben oder in benachbarten Kulturkreisen leben, normalerweise trotz kultureller und religiöser Unterschiede ineinander verwoben ist, lassen sich durch geografische Entfernungen und die dadurch fehlenden Kontakte drei voneinander unabhängige große Entwicklungslinien verfolgen: erstens die Entwicklung der Begriffszeichen in China und anderen ostasiatischen Kulturen zweitens die Schriftentwicklung der indoeuropäischen und semitischen Völker, von Europa und dem Nahen Osten bis nach Indien, im Zuge derer verschiedene phonetische Schrift-Alphabete, die heute weltweit üblichen Zahlzeichen (Ziffern) und später auch das heute verwendete System der musikalischen Notation entstanden und drittens die Entwicklung des gemischten Schriftsystems aus Begriffszeichen und Phonetik der Olmeken sowie später der Maya und Azteken in Mittelamerika (bis zu deren Vernichtung durch die Konquistadoren im 16. Jahrhundert).
Bei dieser globalen Übersicht fällt Folgendes auf: Die Kontinuität der Entwicklung bei den chinesischen Hieroglyphen ist auffallend und beeindruckend. Das Chinesische ist eine der ältesten bis heute verwendeten Schriftsprachen der Welt, auch wenn die Zeichen Metamorphosen erlebt haben, von der altchinesischen Orakelschrift Jaguwen auf Knochen und Schildkrötenpanzern etwa 1.200 v. Chr. bis zur heutigen Zeit. Die letzte groß-e Veränderung brachte die Revolu-tion und die neue kommunistische Ideologie in den 1950er-Jahren. Um die Massen zu alphabetisieren und um international besser kommunizieren zu können, wurde die Schreibweise folgendermaßen geändert: Von der jahrtausendelang üblichen Von-oben-nach-unten- und Von-rechts-nach-links-Schreibweise in die für die europäischen Alphabete übliche Schreibweise mit einander waagerecht folgenden Zeilen mit Links-rechts-Anordnung der Zeichen. Doch gebildete Chinesen können auch die traditionelle Satzanordnung der Zeichen ohne Mühe lesen. Sie ist auch in einem der verbreiteten japanischen Schriftsysteme, das die chinesischen Zeichen mit einigen wenigen japanischen Sonderzeichen verbindet, erhalten geblieben.
Die großen Weltschriften früher und heute waren die Keilschrift, chinesische Zeichen und das lateinische Alphabet. So können sich bis heute Chinesen und Japaner (und auch viele Koreaner, die teilweise bis heute das chinesische System neben dem koreanischen verwenden) über die gemeinsame Schrift verständigen.