Mit zwölf machte ich eine, mein bisheriges Sprachverständnis erschütternde Entdeckung: Englisch, das es – glaubte ich nur meiner „King James Bible“ – noch vor der Schöpfung des Menschen gegeben haben muss (sagte Er doch nichts anderes als: „Let there be light“), war nachweislich nicht die Sprache Gottes. In jungen Jahren kommt man nicht auf die Idee, das Vorwort eines Buches zu lesen: Zu langweilig sind dort die vielen Absichtserklärungen, Belobigungen und Dankesworte.
Nun aber stand es da, schwarz auf weißem Dünndruckpapier, und zwar hoch offiziell im Geleitwort des Übersetzerkollektivs jenes Auftragswerkes, das 2011 sein 400-jähriges Jubiläum feiert: Die Heilige Schrift war – das war mir nun klar geworden – lediglich eine Übertragung unter anderen aus den sogenannten „Ursprachen“. Zunächst las ich die Lobeshymne auf den Auftraggeber, den damaligen König der Schotten, „the Most High and Mighty Prince James“, der „wie eine Sonne“ in der Fülle seiner neuen Macht erscheine, nämlich als Herrscher über Großbritannien, Irland und (wenn man dem Vorspann des Dokuments Glauben schenken mochte) auch Frankreich, dann jedoch diese ernüchternde Feststellung: „... das Werk, das wir nun in aller Bescheidenheit Eurer Majestät zu Füßen legen, [ist] eine genaue Übersetzung der Heiligen Schrift in die englische Sprache“.
Einerseits stellte die Tatsache, dass das Englische nicht zum Sprachrepertoire des Allmächtigen gehört haben konnte, eine verlockende Illusion in den Raum: Sogar ich könnte eines Tages meine nunmehr als profan enttarnte Muttersprache beherrschen (ödipale Projektionen sind im Alter von zwölf wohl verzeihlich). Wenig später jedoch folgten die erste Lektüre des großen mittelenglischen Dichters Geoffrey Chaucer wie auch die Erklärung des Englischlehrers, warum „the Queen’s English“ bei der Schöpfung unmöglich dienlich gewesen sein konnte: Es habe bis kurz vor der Lebenszeit Chaucers gar keine englische Sprache gegeben. Ja, wenn man es recht bedenke, sei Englisch niemals eine „richtige“ Sprache gewesen, sondern lediglich eine Art Berührungszone von ganz verschiedenen Sprachen und Dialekten. Die germanischen seien dabei nicht weniger prägend als die romanischen, der westsächsische Dialekt genauso einflussreich wie der normannische. Das Lateinische bilde zwar eine tragende Säule, doch ebenso wichtig sei die dänische Sprache auch das Irische sowie das Walisische, das Schottisch-Gälische und später auch die verschiedenen schottischen Dialekte, die man als Gruppe zunächst „Inglis“, später „Scots“ genannt habe, hätten bedeutende Beiträge geleistet. Und diese Entwicklung sei noch heute voll im Gange: Die Entstehung der Sprache sei keineswegs abgeschlossen, vielmehr sei das Englische von allen Seiten offen.
Diese Erkenntnis muss auch den Wahlengländer T. S. Eliot beflügelt haben, als er am 28. August 1948 bei einem Festessen zu Ehren des großen schottischen Dichters Hugh MacDiarmid dem Gefeierten diese zunächst wenig schmeichelhaft klingende Nachricht zukommen ließ: „Man wird eines Tages einsehen, dass [MacDiarmid] mehr für die englische Lyrik getan hat, indem er seine feinsten Verse in der schottischen Sprache schrieb, als wenn er sich entschieden hätte, ausschließlich im südlichen Dialekt zu schreiben.“ Für das Verständnis dieses Grußworts hilft es, ein Buch heranzuziehen, das Eliot im selben Jahr unter dem Titel „Notes towards the Defini-tion of Culture“ (deutsch: „Zum Begriff der Kultur“) veröffentlicht hatte. Im dritten Kapitel seines Essays entwirft Eliot eine „Ökologie der Kulturen“, deren Übersetzungskultur wir auch heute mit Gewinn unter die Lupe nehmen könnten.
Was Eliot unter „Ökologie der Kulturen“ versteht, ist ein vorteilhafter Austausch zwischen den „Randkulturen Englands“ (wie er Wales, Schottland und Irland nannte) und der „stärkeren“ englischen Kultur. Für die Schriftsteller einer „satellitischen Kultur“ sei es von großem Nutzen, dass ihre Werke über die Verstärkung des großen englischen Bruders in die weite Welt posaunt würden. Für die zentrale (in diesem Fall englische) Kultur sei es wiederum geradezu lebensnotwendig, dass sie von den andersartigen Satellitenkulturen frisches Blut erhalte. Dazu sei es unerlässlich, dass eine Literatur wie etwa die walisischsprachige, auch wenn sie „in der Welt draußen keine sichtbaren Spuren“ hinterlasse, auch weiterhin gepflegt werde, sonst könnte es sein, dass die Waliser „weniger walisisch“ würden und die walisischen Dichter „über ihr individuelles Dichtertum hinaus nichts mehr zur englischen Literatur beizusteuern“ hätten. Er sei, so Eliot, der Überzeugung, dass „das, was schottische, walisische und irische Schriftsteller der englischen Literatur geschenkt haben, bei Weitem mehr ist als das, was diese genialen Einzelnen für sie geleistet hätten, wenn sie etwa alle in früher Kindheit von englischen Pflegeeltern adoptiert worden wären“.
Tatsächlich verarmt jede Literatur ohne Impulse von außen, und jener Textkorpus, den man bis heute weltweit „englische Literatur“ nennt, wäre ohne den Beitrag von Joyce, Yeats, Dylan Thomas, Stevenson, Scott, Beckett und vielen anderen Autoren der „Satellitenkulturen“ eine schwächere Textsammlung geblieben. Dasselbe könnte man von der heutigen „britischen“ Lyrik behaupten (wobei man durch die Bezeichnung „britisch“ aus kaum nachvollziehbaren Gründen die englischsprachige Lyrik von so bedeutenden irischen Dichtern wie Paul Muldoon oder Seamus Heaney ausschließt): Kathleen Jamie, John Burnside, Don Paterson, Robert Crawford oder Robin Robertson, die heute zu den bekanntesten „britischen“ Lyrikern gehören, stammen alle aus Schottland. Somit möchte man Eliot recht geben: Das Überleben der englischsprachigen Literatur ist wirklich davon abhängig, dass sie wesentliche Impulse von außerhalb Englands annimmt.
In Zeiten der britischen Dezentralisierung steht der Austausch der Kulturen jenes nordwesteuropäischen Archipels, das sich von den Kanalinseln im Süden bis zu den Shetlandinseln im Norden erstreckt, jedoch unter anderen Vorzeichen als weiland bei Eliot: Im Ringen um die besten Beiträge zur englischsprachigen Literatur begegnen sich die verschiedenen Kulturen heute auf Augenhöhe, auch wenn die am weitesten entwickelten Verlags- und Medienstrukturen nach wie vor in England sitzen. Bei der Suche nach einer Bezeichnung, die politisch unverfänglich die ganze Bandbreite der englischsprachigen Literatur der gerade erwähnten Inselgruppe einschließt, könnte sich der vom Literaturwissenschaftler John Kerrigan geprägte Begriff des „archipelagic English“ durchsetzen: archipelagisches Englisch? Für alle Fälle habe ich soeben dieses sperrige, bedenkenswerte Wort dem Lexikon der automatischen Rechtschreibprüfung meines Textverarbeitungsprogramms hinzugefügt. Doch welche Rolle spielt die Übersetzungskultur in den „Randkulturen“ des Archipels?
Nur zwei Beispiele, beide aus einem schottischen Kontext: Schottische Lyrikanthologien weisen vor allem seit den 1990er-Jahren eine Besonderheit dieser Literaturlandschaft auf: die Mehrsprachigkeit. So enthält das „New Penguin Book of Scottish Verse“ (2000), das seine Reise durch die schottische Lyrik der letzten 1500 Jahre mit der Hymne „Altus Prosator“ des Columban von Iona beginnt, neben schottisch-englischen Werken auch Gedichte (jeweils mit englischer Übersetzung) in Latein, Scots, Altenglisch, Gälisch, Französisch, Walisisch und Altnordisch. In den letzten 20 bis 30 Jahren schien vor allem die gälische Lyrik durch die Tendenz, die multikulturelle und mehrsprachige Vielfalt der schottischen Literatur zu betonen, an Profil zu gewinnen. Es sprach sich beispielsweise herum, dass der gälische Lyriker Sorley MacLean (1911-1996) zu den größten europäischen Dichtern des 20. Jahrhunderts gehört.
Doch auf welcher Grundlage kam man zu diesem Entschluss? Schließlich sind die wenigsten Kritiker in der Lage, seine Werke im Original zu lesen. Neuere Studien der Literaturwissenschaftlerin Corinna Krause zeigen zwei beunruhigende Nebenwirkungen der vermeintlichen neuen Sichtbarkeit der gälischen Lyrik: Seit Jahrzehnten übersetzen gälische Lyriker – im verständlichen Versuch, den Bekanntheitsgrad ihrer Werke zu steigern – eigene Gedichte ins Englische. Laut Krause werden dadurch die Übersetzungen bekannt, nicht aber die Werke selbst, zumal die von den Autoren selbst verfassten Übersetzungen als „autorisiert“ gelten. Außerdem wächst auch in der gälischsprachigen Bevölkerung die Zahl derer, die gälische Lyrik lediglich durch Übersetzungen kennenlernt. Hier zeigt sich eine Gefahr, vor der auch Eliot warnte, als er den Verfall der tradierten Eigenschaften der „Ränder“ als Unheil für jenes ökologische Gleichgewicht diagnostizierte, aus dem alle Kulturen des Archipels ihre Vitalität schöpfen.