„Wenn Sprachen sterben, geht Wissen über das Leben verloren“

ein Interview mit Suzanne Romaine

What? Wie wir fremde Sprachen übersetzen (Ausgabe II+III/2011)


Wie entstand Ihr Interesse an den kleinen Sprachen dieser Welt?

Als ich in den 1980er-Jahren zum ersten Mal nach Papua-Neuguinea reiste, wollte ich Tok Pisin, die dort gesprochene Pidgin-Sprache, untersuchen und herausfinden, wie weit sie verbreitet war. Tok Pisin ist die Verkehrssprache in Papua-Neuguinea, eine Weiterentwicklung des melanesischen Pidgin-Englisch mit auch ein paar deutschen Einflüssen. Sie wird von zwei bis drei Millionen Menschen gesprochen – das ist in diesem Teil der Welt eine riesige Sprache, denn die meisten lokalen Sprachen sind sehr klein und haben manchmal weniger als tausend Sprecher. Ich stellte fest, dass die Jugend in vielen Dörfern bereits mit der Pidgin-Sprache als Muttersprache aufwuchs. Manche Kinder konnten die indigene Sprache ihrer Eltern noch verstehen, aber sie sprachen sie nicht mehr. Tok Pisin verbreitete sich rasant und ließ die kleinen Sprachen sterben. So entstand mein Interesse an ihnen.

Weshalb hat sich Tok Pisin so verbreitet?

Es ist eine eingewanderte Sprache, die durch Handelsschifffahrt ins Land kam. Ich sah in Papua-Neuguinea auch eingewanderte Tierarten, die sich stark verbreiteten, oder andere eingeführte Dinge wie zum Beispiel europäische Häuser. In den Dörfern gab es Lokales und Importiertes nebeneinander, alles stand im Wettbewerb miteinander. Meist haben sich die eingewanderten Dinge auf Kosten der heimischen durchgesetzt. So war es auch bei den Sprachen.

Haben Sie auch selbst indigene Sprachen entschlüsselt?

Nein, denn in den Gebieten, in denen ich arbeitete, waren vor mir schon deutsch- und englischsprachige Missionare gewesen. Manche davon hatten bereits Wörterlisten niedergeschrieben, deshalb kann ich nicht behaupten, dass ich die Erste gewesen wäre, die diese Sprachen erforscht hätte. Leider haben die Missionare wie überall auf der Welt nicht nur Gutes bewirkt. Sie haben den Menschen oft eingeredet, dass ihre Art zu leben und ihre Sprache böse seien, und haben so ihren Anteil daran, dass Sprachen und Kulturen untergegangen sind.

Wo würde ein Linguist heute hingehen, wenn er eine unbekannte Sprache entdecken wollte?

Papua-Neuguinea wäre immer noch ein sehr guter Ort dafür. Oder er ginge nach Amazonien, wo es noch Menschengruppen gibt, die bis heute keinen Kontakt zur Außenwelt haben. Es sind die Regionen mit großer Biodiversität, die auch eine immense Sprachenvielfalt aufweisen. Biodiversität und Sprachenvielfalt sind eng miteinander verknüpft. Erst 10 bis 15 Prozent der biologischen Arten sind dokumentiert und das Gleiche gilt für die Sprachen. Vom Standpunkt der westlichen Wissenschaft aus wissen wir also noch sehr wenig.

Wie viele Sprachen gibt es auf der Welt?

Man schätzt etwa 6.900. Davon werden 5.100 in Regionen gesprochen, die besonders reich an Arten sind. Dieser Sprachenreichtum ist sogar noch stärker gefährdet als die biologischen Arten. 50 bis 90 Prozent aller Sprachen könnten innerhalb der nächsten 50 Jahre aussterben. Offizielle Amtssprachen gibt es weltweit nur etwa 100.

Und wie viele Sprachen gibt es in Papua-Neuguinea?

Um die 830, doch das sind Schätzungen. Viele Sprachen sind noch nicht entdeckt und untersucht. Es gibt zwei große Sprachfamilien, die keinerlei Verbindung haben. Daneben gibt es viele Sprachen, von denen wir nicht wissen, ob sie zu der einen oder der anderen Familie gehören oder ob sie völlig unabhängig sind. Es gibt auch Gegenden, in denen die Sprachunterschiede mit denen an der niederländisch-deutschen Grenze vergleichbar sind: Die Dialekte der Nachbarn ähneln sich und ergeben zusammen eine Dialektkette von der einen in die andere Sprache.

Und wie viele Sprachen beherrscht ein durchschnittlicher Bewohner von Papua-Neuguinea?

Auch das ist sehr von der Region abhängig. Früher war es üblich, dass die Männer vier oder fünf Sprachen konnten. Das waren die Sprachen der Umgebung und der Menschen, mit denen sie Handel trieben. Die Frauen blieben in den Dörfern und sprachen meist keine anderen Sprachen. Selbst heute noch können viele Frauen in den abgelegeneren Gegenden oft nicht einmal Tok Pisin und sprechen nur ihre lokale Sprache. Insgesamt ist die Jugend zwar nicht mehr so multilingual wie ihre Vorväter, aber viele sind doch wenigstens zweisprachig und natürlich lernen sie in zunehmendem Maße auch Englisch.

Was verlieren die Menschen mit ihren lokalen Sprachen?

Sie verlieren ihre Art zu leben und die Welt zu sehen. Jeder Aspekt menschlicher Kultur von den Verwandtschaftsbeziehungen bis zur Religion spiegelt sich in der Sprache. Deshalb ist der Verlust von Sprachen immer auch ein Verlust an kultureller Vielfalt.

Können Sie mir ein Beispiel geben?

Nehmen Sie zum Beispiel die Rentierzüchter in Sibirien – es gibt leider nicht mehr viele von ihnen. Sie haben ein sehr kompliziertes System, ihre Tiere zu klassifizieren, und davon zeugt auch ihre Sprache. Da gibt es zum Beispiel ein Wort, das bedeutet „junges weibliches Rentier mit braunen Flecken an den Beinen“. Für die Rentierhirten ist es sehr nützlich, das alles mit nur einem Wort sagen zu können, denn für sie dreht sich alles um ihre Tiere. Dieses System und seine Manifestation in der Sprache wird aussterben wie die Kultur der Rentierzüchter auch. Das geht Hand in Hand.

Stirbt auch Wissen mit den Sprachen?

Selbstverständlich. Mit den Sprachen stirbt Wissen über das Leben in bestimmten Ökosystemen. Papua-Neuguinea ist bekannt für seinen Vogelreichtum. In einem Dorf sah ich besonders schöne Exem-plare mit wundervollen Schwänzen und bunten Federn und ich fragte einen Einwohner auf Tok Pisin, wie diese Vögel alle heißen. Er antwortete: „Nun, es gibt die Vögel des Tages und die Vögel der Nacht.“ Das war alles, mehr konnte er in der Pidgin-Sprache dazu nicht sagen, denn Tok Pisin kennt diese unglaubliche Varietät an Vögeln nicht. Es unterscheidet nur diese beiden Kategorien. Stellen Sie sich nun die junge Generation vor, die nur noch Tok Pisin spricht und vielleicht noch Englisch. Sie haben keine Namen mehr für ihre Vogelwelt. Verloren geht auch das Wissen über Pflanzen, wie man sie sammelt und was man mit ihnen macht. Fragt man junge Menschen in Indonesien, wofür eine bestimmte Baumsorte gut ist, würden sie vielleicht sagen: für einen Spaziergang? Sie wissen nicht mehr, dass dieser Baum früher in Hochzeitszeremonien eine Rolle spielte oder dass aus seinem Holz Räucherstäbchen gemacht wurden.

Kann dieses Wissen nicht in andere Sprachen übersetzt und so gerettet werden?

In seltenen Fällen passiert es, dass traditionelles Wissen in dominante Sprachen übersetzt wird. Von einigen Stämmen amerikanischer Ureinwohner kennen wir das. Sie halten ihre Zeremonien noch genauso ab wie vor Hunderten von Jahren – aber auf Englisch.

Woran kann man die Gefährdung einer Sprache erkennen?

Man braucht nur zu untersuchen, wer sie spricht. Das klassische Profil einer sterbenden Sprache ist, dass ihre Sprecher alle über 40 Jahre alt sind. Wenn die Kinder sie nicht mehr lernen, ist ihr Schicksal besiegelt.

Welches wären die richtigen Maßnahmen, um dem Verlust an Sprachen entgegenzuwirken?

Diejenigen, die ihre Sprache bewahren wollen, darin zu stärken, sie zu benutzen. Das bedeutet nicht, sie zu isolieren. Es bedeutet nur, ihnen klarzumachen, dass ihre Sprache verschwinden wird, wenn sie sie nicht verwenden.

Wird das in der modernen Gesellschaft funktionieren?

Wenn man eine kleine Sprache spricht, muss man geradezu andere Sprachen lernen, um mit der Umgebung interagieren zu können. In Papua-Neuguinea tun die Menschen das schon seit Jahrhunderten. Erst in der jüngsten Zeit bedrohen Sprachen wie Tok Pisin und Englisch die lokalen Sprachen. Ein stabiler Multilingualismus wäre wünschenswert.

Das Interview führte Karola Klatt



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