„Mehrsprachig aufzuwachsen, kann ein Manko sein“

ein Gespräch mit Ulrich Köhler

What? Wie wir fremde Sprachen übersetzen (Ausgabe II+III/2011)


Herr Köhler, in Ihrem Film „Schlafkrankheit“ geht ein Entwicklungshelfer daran zugrunde, dass seine Familie nach Deutschland zurückkehrt, er selbst sich aber nicht von Kamerun lösen kann. Was genau ist sein Problem?

Mein Protagonist Ebbo Velten liebt seine Arbeit in Afrika, seinen Status und seine Unabhängigkeit. Ihm graut vor einem Leben als Angestellter in Europa. Es ist nicht so, dass er eine schlechte Beziehung zu seiner Frau Vera hätte, doch die beiden haben unterschiedliche Interessen. Vera möchte zurück, weil sie mit ihrer Tochter in Deutschland leben will. Mit der Familie verliert Ebbo Velten seine Wurzeln und kommt nicht mehr klar mit dem Leben in einem Land, in dem er immer ein Außenseiter sein wird, weil er weiß ist und reicher als alle anderen.

Ihre Eltern waren Entwicklungshelfer, Sie haben mehrere Jahre Ihrer Kindheit in Zaire, der heutigen Demokratischen Republik Kongo, gelebt. Ist es nicht auch eine schöne Vorstellung, sich in einem fremden Land neu zu erfinden?

Ich kenne Europäer, die in Afrika sehr glücklich sind. Aber ich habe als Austauschschüler in den USA und als Kunststudent in Frankreich die Erfahrung gemacht, dass ich auch in einer völlig neuen Umgebung ähnlich wahrgenommen werde und in dieselben Verhaltensmuster zurückfalle wie in der Heimat. Man kann seine soziale und kulturelle Prägung nicht einfach ablegen. Im Ausland habe ich begriffen, dass ich Deutscher bin. Wobei es für uns sicher einfacher ist, ein neues Leben in Frankreich oder den USA aufzubauen als in Kamerun oder im Kongo, wo die kulturellen und ökonomischen Unterschiede größer sind.

Haben Sie als Kind im Kongo diese Unterschiede schon mitbekommen?

Ja, man nutzt das aus. Ich hatte eine sehr glückliche Kindheit in Afrika. Natürlich habe ich Dinge gesehen, die ich in Deutschland nicht gesehen hätte, etwa die Patienten im Krankenhaus meines Vaters oder unterernährte Menschen. Aber Kinder können damit umgehen. Wir haben in einem kleinen Dorf in der Natur gewohnt. Mein Bruder und ich wurden von unserer Mutter unterrichtet, hatten viel Freizeit und viele Freunde. Wir haben die regionale Sprache Kituba perfekt gesprochen, auch untereinander. Unsere Eltern haben uns sogar verboten, zu Hause Kituba zu sprechen, aus Angst um unsere sprachliche Identität. Wir hatten das einzige Fahrrad im Ort, wir hatten Playmobil und Lego. Das hat uns eine Machtposition gegeben, die wir ohne moralische Bedenken genutzt haben. Meine Eltern waren geschockt, aber so ist das einfach. Mein Leben hat sich schlagartig geändert, als ich mit neun Jahren zurück nach Deutschland musste und dort in die Schule kam. Kituba habe ich in drei Monaten komplett verlernt und die Briefe meiner Freunde aus Afrika nicht beantwortet, weil ich mich schämte. Ich habe versucht, diesen Teil meiner Biografie zu verdrängen.

Wofür haben Sie sich geschämt?

Auf der einen Seite habe ich mich gegenüber meinen afrikanischen Freunden für unseren Wohlstand geschämt. Auf der anderen gegenüber meinen deutschen Mitschülern dafür, dass ich anders war als sie. Ich kannte das deutsche Fernsehprogramm nicht und hatte nicht dieselbe Musik gehört. Als ich in die Schule kam, war ich „der Afrikaner“. Der einzige Türke in der Klasse hat sich neben mich gesetzt. Wir Außenseiter haben uns gut verstanden, zumindest bis zum ersten Deutschaufsatz: „Mein schönstes Ferienerlebnis“. Ich habe die beste Note bekommen, vermutlich, weil meine Afrikaerlebnisse die spannendsten waren. Daraufhin hat sich mein türkischer Freund weggesetzt. Er wollte nicht neben einem Streber sitzen. Es hat noch lange gedauert, bis ich mich in Deutschland eingefunden hatte.

Spielt Sprache zwischen den Menschen im Kongo eine andere Rolle als in Deutschland? Reden die Menschen dort weniger als wir?

Im Gegenteil, ich glaube, es wird sehr viel mehr verbalisiert. Der Umgang ist auch sehr viel direkter, Interessen werden weniger verklausuliert. Konflikte werden sprachlich ausgetragen, sind dann aber aus der Welt. Ich habe in Kongo und auch bei den Dreharbeiten in Kamerun immer wieder erlebt, dass ich mich mit jemandem gestritten habe und am nächsten Tag war die Welt wieder in Ordnung. Sprache hat auch eine stärkere spielerische Funktion.

In Ihrem Film wird fast nur französisch gesprochen – unter den internationalen Entwicklungshelfern, aber auch auf den Dörfern. Ist das eine realistische Darstellung?

Im Fall von Kamerun und Kongo trifft das zu – gerade in ethnisch kleinteiligen Ländern ist die Sprache der Kolonialherren heute die verbindende Sprache. Eines der wenigen afrikanischen Länder, das es geschafft hat, eine eigene sprachliche Identität aufzubauen, ist Tansania. Dort gab es die politische Entscheidung, Suaheli zur Nationalsprache zu machen, was aber keine reine afrikanische Sprache ist, sondern eine durch den Sklavenhandel entstandene Mischung aus afrikanischen Dialekten, Arabisch und portugiesischen Brocken. In Kamerun gibt es zwar Menschen, die kein Französisch können, aber das sind nur wenige. In der Mittelschicht ist es dagegen teilweise so, dass die Leute gar keine regionale Sprache mehr sprechen. Der Sohn eines Freundes spricht etwa nur Französisch, weil seine Mutter und sein Vater verschiedensprachigen Bevölkerungsgruppen angehören.

Das heißt, es kommt zu Gesprächssituationen, in denen niemand mehr in seiner Muttersprache spricht.

Es kommt auch immer häufiger vor, dass Menschen aus nicht westlichen Ländern in den internationalen Organisationen Karriere machen. Ich habe in Tansania einen gebürtigen Afghanen kennengelernt, der als Arzt arbeitet. Französisch sprach er relativ gut, aber mit starkem Akzent, Englisch nur schlecht, ein paar Brocken Deutsch, weil er eine deutsche Frau hatte, und nach eigenem Bekunden nicht besonders gut Farsi, weil er bereits im Alter von zwölf Jahren Afghanistan verlassen hat. Er hatte also keine Muttersprache mehr, keine Sprache, in der er hundertprozentig zu Hause ist. Das bleibt nicht ohne Folge. Ich glaube schon, dass da ein Gefühl von Zugehörigkeit fehlt und dass das zu einer Verunsicherung führen kann.

Sie kennen dieses Gefühl?

Obwohl ich die meiste Zeit meines Lebens in Deutschland gewohnt und mit meinen Eltern immer Deutsch gesprochen habe, gibt es da etwas, das ich beim Sprechen und Schreiben als Behinderung empfinde. Ich habe ein kleines Manko, weil ich mit verschiedenen Sprachen aufgewachsen bin. Meine Eltern haben ihre Arbeit in Afrika sehr gerne gemacht, sind aber mir und meinem Bruder zuliebe nach Deutschland zurückgekehrt – um zu verhindern, dass es uns geht wie den Kindern amerikanischer Missionare, die seit mehreren Generationen in Afrika leben, nur zum Studieren in ihre „Heimat“ reisen und dort überhaupt nicht mehr klarkommen. Ich bin ihnen wirklich dankbar dafür.

Was ist schuld an der Fremdheit eines Deutschen in Afrika: die Sprach- und Kulturunterschiede oder das Gefälle zwischen Arm und Reich?

Beides geht Hand in Hand. Als Europäer in einem afrikanischen Land kann man vielen Menschen sehr viel bringen, zum Beispiel als Visums- oder als Joblieferant. Zudem bestehen kulturgeschichtliche Differenzen. Wir Europäer wünschen uns, dass die Demokratieentwicklung in Afrika sehr schnell vo-rankommt. Dabei haben wir selbst lange gebraucht: Zwischen der französischen Revolution und den ersten wirklich freien und demokratischen Wahlen in Frankreich sind über hundert Jahre vergangen. Diesen Entwicklungszeitraum gestehen wir Afrika nicht zu.

Tun Ihnen Entwicklungshelfer manchmal leid, die mit falschen Vorstellungen ins Ausland gehen?

Ich habe Freunde in der Entwicklungshilfe, die ich für ihr Leben beneide. Es gibt aber auch Europäer in Afrika, die mir leidtun. Die führen ein beengtes und langweiliges Leben, bewegen sich zwischen den zwei Clubs und den drei Restaurants, die es in afrikanischen Großstädten gibt, treffen immer nur andere Expats und vielleicht ein paar Angehörige der sozialen Eliten. Das ist kein Umfeld, das ich mir wünsche.

Das Interview führten Jenny Friedrich-Freksa und Oskar Piegsa



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