Der Übersetzer ist bei seiner Arbeit von Büchern und Nachschlagewerken umgeben: Enzyklopädien, zwei- und einsprachige Wörterbücher und Webseiten bilden einen Kreis um das Original und seinen falschen Zwilling – die Übersetzung. Die Dicke dieses Belagerungsrings wird durch das Original bestimmt. Es gibt Bücher, die sich mit einem Minimum an Werkzeugen übertragen lassen. Das ist meist der Fall, wenn Schriftsteller und Übersetzer aus Gesellschaften mit ähnlichen kulturellen Traditionen und Gewohnheiten stammen und das Original Erfahrungen beschreibt, die in alltäglichen Situationen wie der westlichen Familie oder bei globalisierten Ereignissen wie dem Fußball gemacht werden. Die Mauer der Bücher wird jedoch höher und mächtiger, wenn der zu übersetzende Text in die eigentümlichen Bereiche der Ursprungskultur vordringt.
In meinem Fall ist das die europäische, insbesondere die deutsche Kultur, die sich von meiner eigenen, der argentinischen oder lateinamerikanischen Kultur, in manchem unterscheidet. Zum Beispiel hinsichtlich des Essens: Ich weiß viel über die deutsche Küche – ein Thema, das mich begeistert –, aber wie kann man ohne Wörterbücher, ohne die wunderbare Seite www.chefkoch.de wissen was Küchle aus Franken, österreichische Germknödel oder Nürnberger Elisenlebkuchen sind?
Hat man erst Aussehen und Zutatenliste ergründet, steht man vor der Aufgabe, wie man die neu gewonnen Informationen weitergeben kann. Schreibe ich auf Spanisch „luftige Kekse aus Gewürzen, Trockenfrüchten, Orangen- und Zitronenschalen, getaucht in Schokolade“, „im Dampf gegarte, mit Pflaumenmus gefüllte Knödel“ oder „dreieckiger frittierter Teig, der sich aufgrund der Hitze des Öls aufbläht”? Gewiss nicht. Man muss eine Lösung finden, die dem spanischsprachigen Leser nichts vormacht, ihn aber „auf den Geschmack“ bringt.
Es gibt allerdings auch eine dritte Klasse von Büchern, die den Übersetzer zwingen, über den Ring von Enzyklopädien, Webseiten und Wörterbüchern zu springen. Es handelt sich dabei um Texte, die mehr als alle anderen den Übersetzer dazu führen, sich mit seiner eigenen Kultur und Geschichte auseinanderzusetzen: mit dem, was bewahrt, dem, was verloren wurde, und dem, was niemals existiert hat. Solch eine Erfahrung musste ich machen, als ich Katja Lange-Müllers Roman „Die Letzten. Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Druckerei“ übersetzte. Der Text kreist um eine der Ikonen der deutschen Kultur: die Druckerpresse.
Der Roman spielt in einem kleinen privaten Ostberliner Betrieb, in dem noch in den 1980er-Jahren auf althergebrachte Weise gearbeitet wurde – im Handsatz: Aus einzelnen Bleilettern fügt der Setzer die erste Zeile zusammen, dann die nächste, bis die Seite voll ist und als Druckform dient. Die Schwierigkeiten beim Übersetzen ließen nicht lange auf sich warten. Zu dem bekannten Problem, welches das sogenannte technische Vokabular darstellt (jedes Mal, wenn in einem Text eine Szene aus der Schifffahrt auftaucht, zittern wir Übersetzer), kam erschwerend hinzu, dass die in dem Roman verwendeten Fachbegriffe im Original schon am Aussterben waren. Die deutsche Leidenschaft für das Verfassen von Lexika und Verzeichnissen half mir, einige Begriffe, bei denen ich im Dunkeln tappte, aufzuklären. Doch bald hatte ich die bibliografischen und virtuellen Hilfsmittel erschöpft. Was tun?
Ein befreundeter Verleger vermittelte mir den Kontakt zu seiner Grafikerin, die auch als Professorin an der Universität arbeitete und mir schließlich einen weiteren Professor vorstellte, der mir weiterhelfen konnte. Doch dann fragte ich ihn, ob es im Spanischen ein Äquivalent für „Schweizerdegen“ gebe, also einen Arbeiter, der nicht nur den Satz beherrscht, sondern auch die Druckerpresse bedienen kann? Er wusste es nicht und riet mir, mich an eine der ältesten Druckereien von Buenos Aires zu wenden. Es war das Jahr 2006 und in Argentinien zog die Konjunktur nach dem politischen und wirtschaftlichen Kollaps von 2001 wieder an. Während der Krise hatten viele Unternehmer die Produktion einfach eingestellt und einige dieser Betriebe waren nun in Händen der ehemaligen Arbeiter, die die Produktion wieder in Gang gebracht hatten.
Dies war auch bei der empfohlenen Druckerei der Fall. Bevor ich dort anrief, kam ich nicht umhin, die argentinische Realität mit der in Katja Lange-Müllers Roman zu vergleichen. Am Ende des Buchs schließt die Druckerei und die Figuren verlieren ihre Arbeit. Arbeitslosigkeit war in einem sozialistischen Land ein ziemlich ungewöhnlicher Zustand, aber noch ungewöhnlicher erschien mir, dass in Argentinien, einem kapitalistischen Land, Arbeiter ihr eigener Boss wurden. Das Telefonat mit der Druckerei dauerte nicht lange. Mein Gegenüber war geschickter darin, meine Fragen zu beantworten, als ich darin, sie korrekt zu formulieren. Ich fragte zuerst die Dinge, die ich für einfach hielt, und endete mit der Frage nach dem Schweizerdegen. Die Antwort fiel lapidar aus: „Ich glaube nicht, dass es einen spanischen Ausdruck dafür gibt, und wenn es einen gab, dann sind alle, die ihn kannten, heute tot.“
Seltsamerweise entmutigte mich diese Aussage nicht, sondern im Gegenteil: Ich fühlte, dass ich die Spur verfolgte, die das deutsche Original gelegt hatte, bevor es in meine Sprache aufbrach. In diesem Augenblick erinnerte ich mich an ein anderes Telefonat, das ich führte, als ich eine Erzählung von Katja Lange-Müller übersetzte. Das fast schon skurile Gespräch mit einem Mitarbeiter des Naturkundemuseums verlief in etwa so:
„Guten Tag, ich heiße Nicolás Gelormini und bin literarischer Übersetzer. Ich übertrage gerade eine Erzählung und habe ein paar Fragen zu den spanischen Namen bestimmter Pilze.“ – „Aha.“ – „Ich wollte Sie fragen, ob es einen Pilzspezialisten bei Ihnen gibt oder eine Enzyklopädie, in der ich nachschlagen könnte“ – „Ist es eine Erzählung über Pilze?“ – „Was? Nein, es ist eine Erzählung über, über ... Was wäre denn eine Erzählung über Pilze?“ –„Eine Erzählung, in der die Pilze an zentraler Stelle vorkommen ... zum Beispiel bei einer Pilzvergiftung.“ – „Nein, es ist keine solche Erzählung. In der Geschichte geht die weibliche Hauptfigur Pilze sammeln und als sie im Zug nach Hause fährt, flirtet sie mit einem Mann, der auch Pilze gesammelt hat. In der Szene kommen sehr viele Pilze vor, und ich weiß nicht einmal, ob es echte oder erfundene sind. Ob es diese Pilze überhaupt gibt.“ – „Sie meinen, ob die Hauptfigur diese Pilze sich nur vorstellt?“ – „Wie bitte?“ – „Ich meinte, ob es die Pilze nur in der Vorstellung der Frau gibt?“ – „Nein. In der Geschichte sind sie real. Aber ich weiß eben nicht, ob es diese Pilze auch außerhalb der Geschichte gibt.“ – „Was für Pilze sind es? Und aus welcher Sprache übersetzen Sie?“ – „Es sind deutsche Pilze in einer deutschen Geschichte.“ – „Ach so, das erklärt alles.“ – „Was?“ – „Na, Ihre Verblüffung.
Lassen Sie es mich so erklären: Die Völker der Erde teilen sich in zwei Klassen: in Mykophile, also Pilzliebhaber, und in Mykophobe, diejenigen, die keine Pilze mögen. Die Deutschen zählen schon seit der Antike zur ersten Klasse, aber wir, das heißt unsere Vorfahren die Römer, zur zweiten. Deswegen haben wir so wenige Namen für Pilze. Die alten Germanen sahen die Pilze, die Römer nicht: Sie wuchsen außerhalb ihrer Wahrnehmung.“ – „Nun, ich habe ja einige Namen im Wörterbuch gefunden, die lateinischen und die, die man in Spanien benutzt. Aber wenn ich die verwende, wird kein argentinischer Leser etwas verstehen. Und außerdem klingen sie nicht schön.“ – „Und auf Deutsch klingen die Namen schön?“ „In ihnen liegt eine gewisse Erotik. Und sie erfüllen ihren Zweck.“ – „Sie meinen, sie bringen die beiden Figuren zusammen?“ – „Genau. Und als die Frau und der Mann gemeinsam aus dem Zug steigen, werfen sie die Pilze weg.“ – „Ah, jetzt verstehe ich Sie, das Wichtige sind nicht die Pilze, sondern die Namen!“ – „Deswegen rufe ich Sie ja an, weil ich nicht weiß, was ich tun soll ...!“ – „Also, sagen Sie mir mal die lateinischen Namen und ich sage Ihnen, ob ich die Pilze kenne …“
Den Neugierigen unter Ihnen, denen die hier erzählten Anekdoten nicht genügen, verrate ich meine Lösungen. Im ersten Fall übersetzte ich „Schweizerdegen“ wortwörtlich, da der Begriff im Kontext erklärt wurde. Die Hauptfigur erzählt nämlich, dass sie die Arbeit in der Druckerei bekam, weil sie, wie die alten Arbeiter, die man Schweizerdegen nannte, nicht nur gelernt habe, wie man setzt, sondern auch, wie man druckt. Im zweiten Fall tauschte ich die Pilze durch bekanntere aus, griff auf die lateinischen Namen zurück und erfand ein paar neue, die für einen spanischsprechenden Leser nach Pilzen klangen und eine gewisse Erotik versprühten: copa amarilla, nidito de pájaro, hongo castaña.
Aus dem Spanischen von Timo Berger