Der Übersetzer, ein Schizophreniker par excellence, bewohnt Lewis Carrolls Wunderland hinter den Spiegeln, in dem er zwei Rollen zugleich übernehmen muss: die der Alice und die des Humpty Dumpty. Humpty Dumpty, der sich in Christian Enzensbergers Übersetzung zum Goggelmoggel wandelt, sagt: „Wenn ich ein Wort gebrauche (...), dann heißt es genau, was ich für richtig halte – nicht mehr und nicht weniger.“ „Es fragt sich nur“, sagt Alice, „ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann.“ „Es fragt sich nur“, sagt Goggelmoggel, „wer der Stärkere ist, weiter nichts.“
Alices Verwirrung gegenüber dem Gedicht „Jabberwocky“, das ihr Humpty Dumpty vorträgt, entspricht der Ratlosigkeit des Übersetzers bei seinem ersten Blick auf das zu übersetzende Original. Ein Gedicht, das mit den Worten „Twas brillig …“ beginnt – in Enzensbergers Übersetzung „Verdaustig war’s …“ –, scheint zunächst wenig mit den Texten gemein zu haben, die Übersetzern üblicherweise vorliegen. Doch im Grunde fängt ihr Weg immer bei Alices Unverständnis an und endet bei Humpty Dumptys Standpunkt: Ich bin der Stärkere.
Denn anfangs sollte der Übersetzer auch dem scheinbar Verständlichen mit Misstrauen begegnen, als könnte jedes Wort des Originals etwas anderes bedeuten, als er denkt. Denn wie sich in den musikalischen Phrasen jeder Ton erst durch die umstehenden Töne definiert, ändern auch die Wörter je nach Kontext und Stellung im Satz ihre Bedeutung. Nur wenn man sich wie Alice fragt, was alles in „verdaustig“ enthalten sein könnte, findet man den Weg zu dem Wort, das man als Übersetzer selbstherrlich wie Humpty Dump-ty in seinen Text setzen kann. Bei Humpty Dumpty heißen solche Wörter „portmanteau“: Schachtelwörter mit mehreren Bedeutungen. „Verdaustig“ heißt für ihn: „vier Uhr nachmittags – wenn man nämlich noch verdaut, aber doch schon wieder durstig ist“. So in der beherzten Übersetzung Christian Enzensbergers, denn beim Benennen darf der Übersetzer einmal der Stärkere sein.
Zu dem anfänglich notwendigen Grundmisstrauen des Übersetzers kommt jedoch die Notwendigkeit eines Grundvertrauens in die eigene Sprache, das heißt darauf, dass sie auf ihre Weise ausdrücken kann, was das Original auf seine spezifische Art sagt, sofern man nur lange genug nach dem richtigen Wort sucht. Denn die Macht des Benennens, die er ausübt, darf der Übersetzer nicht missbrauchen. Diese Art Macht hat er mit einem anderen literarischen Wesen gemein: mit Don Quijote.
Er kann als Prototyp des Humpty-Dumpty-Übersetzers betrachtet werden, da er sich seine Wirklichkeit allein durch den Akt der Namensgebung erschafft. Er, der arme Landadlige Alonso Quijano, nennt sich Don Quijote, das Objekt seiner Anbetung Dulcinea, die Windmühlen Riesen. Er kennt keine Zweifel, stellt sich nicht wie Alice die Frage, ob man denn Schafherden so einfach in Heldenheere umübersetzen kann.
Dem heutigen Übersetzer geht es ganz anders. Bis zum Machtwort, das er abschließend in seiner Übertragung unweigerlich sprechen muss, ist es ein langer Weg, der mit Zweifeln gepflastert ist, die sich nicht einmal mit dem Blick auf den gedruckten Text ausräumen lassen. Was Antonin Artaud in einem Brief vom 30. September 1943 an Jean Paulhan über den Schriftsteller schreibt, gilt auch für den Übersetzer: „Ich frage mich, inwieweit sich der Schriftsteller als Herr über die Sprache fühlen darf. Zwar ist es seine Aufgabe, die Wörter zu bändigen, doch wenn er gesagt hat, was er zu sagen hatte, wie sicher kann er sein, sie gezähmt zu haben?“ Jede gute Übersetzung fängt mit diesem Zweifel an und wird am Ende, nachdem sie ihr letztes Wort gesprochen hat, wieder in ihn entlassen.
Die Kunst des Übersetzers muss so weit gehen, dass er erkennen und umsetzen kann, was sich auch in die alltäglichen Wörter hineinschachtelt. Ein solcher Schachtelbegriff wäre etwa der „caballero de la triste figura“, denn er muss das melancholische Liebesleiden des Ritters und dessen erbärmliche Gestalt umfassen. Deshalb ist der „Ritter von der traurigen Gestalt“ eine so ideale Lösung. Manche Wörter werden sogar erst in der Übersetzung zu solch Schachtelwörtern, die dem originalen Text eine zusätzliche Schublade hinzufügen. Ein Beispiel wäre der „erlesenste“ aller fahrenden Ritter, denn Don Quijote ist nicht nur einer der erlesensten Vertreter des Rittertums, sondern er hat es sich buchstäblich in den Ritterromanen „erlesen“. Cervantes spielt gern mit solchen Ausdrücken, die doppeltes Gepäck tragen, und der Übersetzer kann sogar noch einige aus eigener Ernte hinzufügen und Don Quijote beispielsweise in Harnisch geraten oder die Rechnung ohne den Wirt machen lassen (was er im wörtlichen und übertragenen Sinn tut).
Was sind die Anforderungen an einen Übersetzer bei diesem Drahtseilakt zwischen dem misstrauischen Herantasten und dem Machtwort, das er am Ende zu sprechen hat? Er steht vor dem Text wie die Ritter aus Don Quijotes Ritterromanen, die auf einer Wegkreuzung innehalten und grübeln, welchen Weg sie einschlagen sollen. Doch ist seine Aufgabe noch heikler, denn er muss in alle Himmelsrichtungen auf einmal davonreiten, sich aber zugleich für einen Weg entscheiden. Ein Text ist ein komplexes Gefüge aus syntaktischen, klanglich-rhythmischen und semantischen Elementen, dazu noch in ein geografisches und historisches Umfeld gebettet, sodass bei der ersten Sichtung des Textmaterials die verschiedensten Elemente um die Vorherrschaft bei der Übersetzung ringen.
Jeder Übertragung muss also eine genaue Stilanalyse des Originals vorangehen: Wo setzt der Autor seine Akzente im Satz? Welche Rolle spielt die lautliche Komponente? Wie knapp oder wortreich umkreisend behandelt er sein Sujet? Wie einfach oder komplex sind seine Sätze? Inwieweit entfernt er sich von den gewohnten Bahnen der Originalsprache? Ist sein Stil ein vorwärtsdrängender, verbenreicher oder ein statischer, substantivischer? Welchen Bereichen entnimmt er seine Bilder? Wie emphatisch-mitreißend oder kühl-distanziert ist sein Ton? Welche Stilmittel bevorzugt er? All dies und noch viel mehr muss der Übersetzer zu Beginn seines Unterfangens in die Waagschale werfen und entscheiden, welche Schwerpunkte er in seiner Übertragung setzen will. Wesentlich ist, dass er einen Weg, für den er sich entschieden hat, so konsequent verfolgt wie Humpty Dumpty, damit ein lebendiges Ganzes entsteht und kein Patchwork verschiedener Stile.
Gerade bei den neuen Versionen der Klassiker bietet sich dem Übersetzer die Chance, ein Werk, das seine Vorgänger meist unter dem Primat der eleganten Wiedergabe des Inhaltlichen übertrugen, aus der Perspektive seiner sprachlichen Eigenheiten neu zu beleuchten. So kann man sich bei einer neuen „Don Quijote“-Übertragung ganz dem Spiel überlassen, das Cervantes mit der Sprache seiner Zeit und den verschiedenen Sprechweisen seiner Figuren treibt. In der Übersetzung gilt es, sich die cervantinischen Stilmittel anzueignen und die deutsche Sprache frei auf ihren Wegen wandern zu lassen, also nicht nur Wort für Wort voranzuschreiten, sondern Cervantes’ Sprachspiele durch die Möglichkeiten des Deutschen zu erweitern.
Seine Vorliebe für klangliche Spiele kann man etwa in Wendungen einfließen lassen wie „segenlose Degenbücher“ oder „windige Schwindler“. Sanchos Faible für Sprichwörter kann man dazu nutzen, längst vergessene deutsche Sprichwörter wieder aufleben zu lassen (Dem Betrübten ist übel geigen / Eiserne Stirn stößt sich keine Beulen / Mancher meint sich im Sattel und hat noch keinen Fuß im Bügel), aber auch dazu, über das Spanische nachträglich den deutschen Sprichwortschatz durch eigene Erfindungen zu erweitern (Der Schwätzer Spott ereilt selbst Gott / Späte Gaben gleichfalls laben / Der Abt singt, damit die Münze klingt). Don Quijotes Oszillieren zwischen seinem zeitgenössischen Spanisch und dem antiquierten Jargon der Ritterromane kann und sollte man als Übersetzer dazu nutzen, auch wieder vergessenen Wörtern der deutschen Literatur zu ihrem Recht zu verhelfen (hirnbrütig, trübetümpelig, zerpauken, Grobsack). Dies als Beispiel für Prämissen, die sich heutige Übertragungen setzen können und sollten.
Don Quijote lebt als ein Humpty Dumpty im Land hinter den Spiegeln, in dem er seine Wirklichkeit und seinen Stil verteidigt. Sancho Panza übernimmt dabei die Rolle einer Alice, da er nie weiß, ob er seinem Herrn blind vertrauen darf oder dessen Windmühlenriesen misstrauen soll. Auch dieses Paar der Weltliteratur kann folglich für die komplexe Aufgabe des Übersetzers stehen, der seine Arbeit als ein skeptischer Sancho beginnt und als Don Quijote in der Wirklichkeit seines eigenen Textes endet.