Krisenprävention und Konflikttransformation haben in der Außenpolitik in den vergangenen zehn Jahren einen immer größeren Stellenwert erhalten. Die wissenschaftliche Begleitung dieses Themas ist inzwischen recht umfangreich, hat allerdings für den Teilaspekt Kultur noch nicht die wünschenswerte Tiefe erreicht. Das lag bisher unter anderem an einem Defizit in der theoretisch fundierten Herleitung, Definition und Abgrenzung kultureller Konflikte, aber auch an einem Mangel an empirisch gesicherten Analysen. Angesichts der internationalen Auseinandersetzung mit den Thesen von Samuel Huntington ist das schon erstaunlich. Es ist deshalb eine höchst begrüßenswerte Initiative der Bertelsmann-Stiftung gewesen, eine wissenschaftliche Studie zum Thema „Kultur und Konflikt in globaler Perspektive“ angestoßen und dafür das Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg gewonnen zu haben.
Die im Herbst 2009 erschienene Studie liefert einen empirischen und theoretischen Beitrag zur Analyse der Bedeutung von Kultur im weltweiten inner- und zwischenstaatlichen Konfliktgeschehen von 1945 bis heute und erfasst alle Konflikte in der Datenbank CONIS („Conflict Information System“). Als kulturelle Konflikte werden dabei solche politischen Auseinandersetzungen definiert, „in denen Kultur den Konfliktgegenstand darstellt“. Man geht also nicht auf Ursachen oder Motive der Akteure ein, sondern auf die Themen, die in den Konflikten durch Aussagen der Beteiligten oder durch Handlungen deutlich werden. In acht Fallstudien untersuchen die Wissenschaftler den Aceh-Konflikt in Indonesien, den Sprachenstreit in Belgien, die Auseinandersetzung um eine neue Verfassung in Bolivien, den zweiten Irakkrieg, den Streit um die Mohammed-Karikaturen, die Unruhen in Nigeria, den Pattani-Konflikt in Südthailand und den Tschetschenienkonflikt.
Die Ergebnisse sind recht eindeutig: Die Datenbank erfasst im Zeitraum von 1945 bis 2007 762 innerstaatliche und zwischenstaatliche politische Konflikte. Der Anteil kultureller Konflikte am weltweiten Konfliktgeschehen ist dabei in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen und erreicht jetzt 44 Prozent von der genannten Gesamtzahl. Kulturelle Konflikte sind überwiegend ein innerstaatliches Phänomen (81 Prozent aller Konflikte) und besonders anfällig für Gewalt (in 86 Prozent aller innerstaatlichen Konflikte kommt es zu Gewaltanwendung). Fast die Hälfte der kulturellen Konflikte geht auf geschichtliche Zusammenhänge („Historizität“, beispielsweise Großbritannien/Schottland, Aceh) zurück, ein weiteres Viertel hat religiöse Gründe.
Das restliche Viertel betrifft religiös-sprachliche oder rein sprachlich bedingte kulturelle Konflikte. Eine größere kulturelle Fragmentierung führt zu einer höheren Wahrscheinlichkeit kultureller Konflikte. Und es gibt deutliche regionale Unterschiede: Der Vordere und Mittlere Orient weisen eher religiöse Konflikte auf, Asien eher historizitäre, Europa eher sprachliche. Während das Ergebnis für Afrika ambivalent ist, wird Amerika eindeutig von nicht kulturellen Konflikten dominiert. Die Studie zeigt, dass kulturelle Konflikte nicht erst mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes entstanden sind. Deutlich wird auch, dass die Grundprinzipien des interkulturellen Dialogs – Wertschätzung von Vielfalt, Glaubwürdigkeit des Gegenübers, interkulturelle Kompetenz der Akteure – die unverzichtbaren Erfolgsfaktoren für den Weg von Krisen und Konflikten zu einem Zusammenleben ohne Gewalt sind.
Herfried Münkler hat an der Studie kritisiert der identitätsbezogene Kulturbegriff der Heidelberger Politikwissenschaftler sei zu schwammig. Die Studie verstehe Kultur als ein „Bedeutungsgewebe (...), das zur Hervorbringung und Wahrung der Identität eines Kollektivs konstituiert wird“. Die in diesem Rahmen erfolgte Differenzierung der drei Domänen Sprache, Religion und Historizität ist aus meiner Sicht aber ein wesentlicher theoretisch-konzeptioneller Schritt vorwärts. Aus der Sicht der Außenkulturpolitik wäre es nun wünschenswert, Theoretiker und Praktiker zusammenzubringen und sowohl die Ergebnisse der Studie für die praktische Politik als auch aus der Praxis sich ergebende Fragen für weitergehende Forschungsarbeiten zu formulieren.
Besonders zu loben ist die Bertelsmann-Stiftung dafür, dass ihr die Langfassung der Studie („Kulturelle Konflikte seit 1945. Die kulturellen Dimensionen des globalen Konfliktgeschehens“ von Aurel Croissant et al., Nomos, München, 2009) als nicht ausreichend geeignet für den von ihr gewünschten politisch-wissenschaftlichen Diskurs erschien und sie deshalb auf eine gut lesbare, griffige Kurzfassung drängte. Für Wissenschaftler ist die ausführlichere Publikation mit den Überlegungen zur Forschungssystematik, zum Aufbau der Datenbank und zu den differenzierten Ergebnissen natürlich wesentlich ergiebiger.
Kultur und Konflikt in globaler Perspektive. Die kulturellen Dimensionen des Konfliktgeschehens 1945–2007. Hrsg. von der Bertelsmann Stiftung, Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh, 2009.