Gierig auf das Leben

von Thomas Hummitzsch

Körper (Ausgabe II/2010)


Jetzt bin ich auch nicht glücklicher, als ich es zu Hause war“, schreibt Susan Sontag im Februar 1949 in ihr Tagebuch, als sie mit 16 Jahren das Elternhaus für ihr Studium verlassen hat. Noch beherrscht sie leiser Zweifel, doch schon zu diesem Zeitpunkt hat sie ein klares Ziel vor Augen: „Ich möchte schreiben – ich möchte in einer intellektuellen Atmosphäre leben – ich möchte in einem kulturellen Zentrum leben, wo ich jede Menge Musik hören kann – all dies und noch viel mehr …“

Es ist nicht weniger als der literarische Auftakt einer Ausnahmekarriere, den diese Zeilen darstellen. Susan Sontag war die amerikanische Schriftstellerin, Publizistin und Filmregisseurin. Noch heute gilt sie als Amerikas brillanteste Essayistin.

In Chicago studierte sie Literatur, Theologie und Philosophie und heiratete mit 17 Jahren ihren Universitätsdozenten Philip Rieff. Zwei Jahre später brachte sie den gemeinsamen Sohn David zur Welt. 1959 trennte sie sich von Rieff und begann als alleinerziehende Mutter ein neues, von sexuellen Zwängen befreites Leben. In der Folgezeit bewegte sie sich als freie Autorin und Essayistin zwischen Paris und New York. Schnell erlangte sie mit ihren prägnanten Schriften Weltruhm. Ende der 1980er-Jahre lernte sie die amerikanische Fotografin Annie Leibovitz kennen, mit der sie bis zu ihrem Krebstod am 28. Dezember 2004 zusammenlebte.

Susan Sontags Sohn, der Journalist David Rieff, legte im Frühjahr 2009 seine Erinnerungen an die letzten Monate mit seiner Mutter vor. In „Tod einer Untröstlichen“ verarbeitete der Autor und Journalist nicht nur seinen persönlichen Schmerz, sondern wirft auch grundsätzliche Fragen nach dem Umgang mit dem Sterben in einer Gesellschaft auf, welche die Existenz des Todes zu leugnen sucht. Nun wirkt Rieff als Herausgeber der Tage- und Notizbücher, von denen seine Mutter mehr als einhundert hinterlassen hat. Unter dem Titel „Wiedergeboren“ liegen jetzt Auszüge aus ihren Journalen von 1947 bis 1963 vor, die Susan Sontag als Mensch zeigen und die Entwicklung ihrer Philosophie aus der persönlichen Erfahrung von Glück und Unglück nachvollziehbar werden lassen.

Durch die Lektüre dieser Gedanken wird deutlich, dass der von Daniel Schreiber in seiner Sontag-Biografie „Geist und Glamour“ latent geäußerte Vorwurf, die Amerikanerin habe sich als intellektueller Star selbst inszeniert, zu weit geht. Vielmehr galt für Sontag der Camus’sche Ansatz: „Ein Intellektueller ist ein Mensch, dessen Geist sich selbst beobachtet.“ Sontags Intellektualität war zuallererst auf die eigene Person gerichtet – schonungslos, radikal und zuweilen an der Grenze zur Selbstzerstörung.

Sontags Tagebücher machen deutlich, wie sehr ihre Genese als öffentliche Intellektuelle mit ihrem Privatleben verbunden war. Sie notiert und kommentiert auf einzelnen Blättern gelesene und zu lesende Bücher oder Zitate und berichtet über die Erwartungen und Wirkungen kultureller und gesellschaftlicher Ereignisse. Über all diesen Listen schwebt Sontags Sehnsucht nach Leben. Ihre Lese-, Schreib- und Reiseprojekte erzählen von der Begierde, den Augenblick mit der größtmöglichen Intensität erleben zu können. „Ich möchte lieber einen Schritt zu weit in Richtung Gewalt und Exzess gehen, als den Moment nicht voll auszuschöpfen.“ Diese Gier nach Leben erwuchs aus ihren privaten Beziehungen und den damit verbundenen Bedürfnissen und Hoffnungen, Ängsten und Nöten.

Ihre intellektuelle Auseinandersetzung mit der Gegenwart fand stets auch vor dem Hintergrund ihres persönlichen Befindens statt. Dabei ermöglicht „Wiedergeboren“ einen neuen Blick auf die Privatperson Susan Sontag. Die Analysen ihrer Liebesbeziehungen mit Philip Rieff („… es war alles nur Gerede …“) und Harriet Sohmers („Diese Leidenschaft ist eine Krankheit …“) sowie die Konflikte in ihrer Rolle als Mutter („Vielleicht sollte ich David weggeben“) und Tochter („Ich war nicht das Kind meiner Mutter – ich war ihre Untertanin“) sind zutiefst ergreifend

„Wenn meine Mutter nur nicht so viel gehofft hätte“, schreibt Rieff konsterniert am Ende seines aufwühlenden Erinnerungsbuchs. Es war eine Hoffnung wider die Vernunft, die sie an ihrem Lebensende bis zur Selbstverleugnung aufrechterhielt: den Tod durch Zukunftspläne verdrängen zu können. Die persönlichen Schriften Susan Sontags legen die Ursprünge dieser Verdrängung der Gegenwart durch die Zukunft offen. Gemeinsam mit David Rieffs Erinnerungen bilden sie den irrationalen Deutungsrahmen für die Philosophie der größten amerikanischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts.

Wiedergeboren. Tagebücher 1947–1963. Von Susan Sontag. Hrsg. u. mit einem Vorwort versehen von David Rieff. Aus dem Englischen von Kathrin Razum. Hanser-Verlag, München, 2010.

Tod einer Untröstlichen. Von David Rieff. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser. Hanser-Verlag, München, 2009.
 



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