Alle Welt redet vom Dialog der Kulturen, doch fehlt weithin seine geistige Grundlegung. Es genügt ja nicht, der pessimistischen Diagnose von Samuel Huntington, der einen immer schärferen Streit der Kulturen vorhersah, optimistische Behauptungen entgegenzuhalten. Das Feld ist weit und voller Widersprüche. Umso dringlicher wird die Frage, was die Denker und Gestalter unserer Gegenwart zur geistigen Situation der Zeit und damit zum Dialog der Kulturen wirklich zu sagen haben.
Ein ganz ungewöhnliches Buch gibt dazu nun vielerlei und stets hochinteressante Antwort. Unter dem Titel „Das Buch des Wissens“ versammelt es 27 „Gespräche mit den großen Geistern unserer Zeit“, geführt von dem Kulturanthropologen Professor Constantin von Barloewen und seiner Assistentin Gala Naoumova. Diese Gespräche wurden ursprünglich vor etwa zehn Jahren für das Fernsehen aufgezeichnet, für den österreichischen Rundfunk ORF und den deutsch-französischen Sender ARTE.
Barloewen wollte damit erste Bausteine für eine „interkulturelle Bibliothek“ zusammentragen – und das ist ihm gelungen. Schon die Fernsehgespräche erregten große Aufmerksamkeit, jedenfalls beim gebildeten Publikum und auch bei manchen Rezensenten. Einige der Gespräche wurden dann von der „Frankfurter Rundschau“ einem breiteren Publikum vorgestellt. Und schließlich gelang nun diese Buchpublikation, zuerst in französischer Sprache bei dem Verlag Grasset, seither in einer Reihe anderer Sprachen und jetzt endlich auch auf Deutsch. Ein Welterfolg also, und das mit Recht.
Dass die Gespräche durchweg schon vor einem Jahrzehnt geführt wurden, nimmt ihnen nichts von ihrer Aktualität, im Gegenteil. Zwar sucht vergeblich, wer dort das letzte Wort zur gegenwärtigen Wirtschaftskrise finden möchte. Doch wer sich für universelle Fragestellungen interessiert, wird hier fündig. Denn wo hat es das schon gegeben, dass der Leser von geistig führenden Persönlichkeiten aus allen Weltteilen erfahren kann, was sie über unsere Gegenwart und Zukunft denken? Fragesteller Barloewen macht es Gesprächspartnern und uns, den Lesern, nicht leicht er zielt in die Tiefe, auf die unsere Welt langfristig prägenden Strömungen und Ereignisse.
Er gehört damit zu der seltenen, im Zeitalter immer weiter gehender Spezialisierung der Wissenschaften sogar noch seltener werdenden Spezies der Kulturforscher, die über solide Feldarbeit hinaus den größeren Zusammenhängen nachspüren, also interdisziplinär und kulturvergleichend arbeiten. Sein Lebensweg prädestiniert ihn dafür: 1952 in Buenos Aires geboren, führten ihn Forschungsaufenthalte und Reisen nach Deutschland, Frankreich, in die USA, nach Lateinamerika, Ostasien und Madagaskar. Er gehört dem Advisory Committee der Harvard Academy for International Studies an.
Die Themenpalette des Buchs reicht von der Wasserstoffbombe bis zur mystischen Welt- und Gotterkenntnis, von anspruchsvoller Lyrik über spannende Architektur bis zur menschlichen Sprache, von der Frage, was das Leben sei, bis zu Kontroversen darüber, ob es Fortschritt als Geschichtskategorie gebe. Manchen Leser mag solche Themenvielfalt zunächst verwirren, bis er oder sie erkennt, dass sich in solchen Fragen und Deutungen die widerspruchsvolle Vielfalt unserer Welt spiegelt, die sich einfachen Antworten verweigert.
Derartige Welterkenntnis wird von Persönlichkeiten vermittelt, die aus den verschiedensten Erdteilen stammen und aufgrund von Beruf und Berufung in sehr unterschiedlichen Lebenskreisen wirken oder gewirkt haben. Sie reichen von dem arabischen Dichter Adonis bis zu dem jüdischen Denker Elie Wiesel. Die Mehrzahl stammt aus dem europäisch-nordamerikanischen Kulturkreis, doch sind auch die anderen Weltregionen gut vertreten: die arabische Welt neben Adonis durch den früheren UNO-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali, Lateinamerika durch Carlos Fuentes und Oscar Niemeyer, Afrika mit den Literaturnobelpreisträgern Nadine Gordimer und Wole Soyinka, Asien durch Raimon Panikkar und Tu Wei-Ming. Es fällt allerdings auf, dass die Gespräche fast ausschließlich mit älteren Menschen geführt worden sind etliche Protagonisten sind inzwischen bereits verstorben: Erwin Chargaff, Samuel Huntington, Leszek Kolakowski, Claude Lévi-Strauss, Yehudi Menuhin, Czes?aw Mi?osz, Ilya Prigogine, Arthur Schlesinger, Edward Teller. Man kann, ja muss, was sie sagten, jetzt als ihr Vermächtnis lesen. Aber auch die anderen gehören fast alle zu jener Gruppe von Menschen, der wir Altersweisheit zutrauen.
Was sagt uns ihre Weisheit? Wenden wir uns zunächst der aus Europa, Israel und Nordamerika stammenden Mehrheit zu. Sie bietet auf den ersten Blick ein Bild der außerordentlichen Heterogenität. Von jeder Position ist auch das Gegenteil eloquent vertreten. Beispiel Gottesfrage: Während Kardinal Poupard die christliche, also positive Antwort auf die Frage gibt, ob Gott existiere und in die Welt wirke, zweifelt der Biochemiker Erwin Chargaff, ob er den Messias erkennen könne. Und andere lehnen jede metaphysische Aussage überhaupt ab, so der Soziologe Claude Lévi-Strauss, der findet, das Leben habe keinen Sinn, überhaupt habe nichts einen Sinn, und der jede Art von Glauben, außer den an diese Aussage, ablehnt. Auch Oscar Niemeyer, der weltberühmte brasilianische Architekt, erklärt, er glaube an nichts.
Leben wir also in einer postreligiösen Gesellschaft? Diesem Eindruck widerspricht der Musiker Yehudi Menuhin. Er ist überzeugt, wir brauchten Mythen, „denn wir benötigen auch Erklärungen für das, was wir nicht wissen“. Der ungebrochene Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts freilich hat kaum noch eine Chance. Die Naturgeschichte kenne keinen Fortschritt, erklärt Stephen Jay Gould, Zoologe und Geologe, kurz und bündig. Edward Teller, Konstrukteur der Wasserstoffbombe, hält zwar demgegenüber an seiner Überzeugung fest, der wissenschaftlich-technische Fortschritt sei eine gute Sache. Doch steht er damit ziemlich allein da. Auch der indische Philosoph Raimon Panikkar erklärt, der Fortschrittsgedanke überzeuge ihn nicht. „Er setzt einen linearen Zeitbegriff voraus und hat gar keine wissenschaftliche Grundlage.“ Denn die naturwissenschaftliche Zeit sei „keine wirkliche Zeit, sie ist eigentlich nur eine Matrix und eine Chiffre, um Rechnungen aufzustellen“. Und er fragt: „Worum handelt es sich – um eine tote astrophysische Welt, von der wir nicht einmal wissen, wie sie wirklich existiert, oder um das menschliche Leben, um unsere Erfahrung? Wenn ich sage, dass ich an die Fortschrittsideologie nicht glaube, will ich nicht sagen, dass es keine Bewegungen, keine Dynamik, keine großen Momente, keine Sternstunden der Menschheit gegeben hat.“ Er glaube nur nicht an etwas Monotones, Lineares, das auf derselben Ebene verlaufe.
Die aus den nicht europäischen Teilen der Welt stammenden Gesprächspartner bringen, so wie Panikkar, zum erheblichen Teil andere Perspektiven als ihre „westlichen“ Kollegen in die geistig-wissenschaftliche Debatte ein. Die politisch übliche wohlfeile Beschimpfung des „Westens“ ist zwar ihre Sache nicht. Aber auf Barloewens Frage, worin Lateinamerikas spezifischer Beitrag zur künftigen Weltzivilisation bestehen könne, antwortet der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes selbstbewusst: „Fünf Jahrhunderte lang ist der Okzident in den Süden und Osten eingedrungen und hat seine Werte durchgesetzt, ohne irgendjemanden um Erlaubnis zu fragen. Heute kommen die Völker aus dem Süden und Osten zurück und fragen ebenso wenig um Erlaubnis.“ Als eine mögliche Folge dieser Wanderungsbewegung in umgekehrter Richtung prophezeit Fuentes die Vermischung der Rassen und Kulturen. Als Ursache der Migrationsbewegungen macht Fuentes die ungleiche Verteilung der Reichtümer der Welt aus und fordert, der Westen müsste mehr Verständnis für die Entwicklungsländer aufbringen.
Der israelische Dichter Amos Oz, auf der Grenze zwischen Orient und Okzident lebend, stimmt in diesem Sinn ein Lob der Wüste an, die ihm geholfen habe, „alles wieder in seine richtigen Proportionen zu bringen. Seit vielen Jahren pflege ich meinen Tag mit einem kleinen Spaziergang in die Wüste zu beginnen, schon frühmorgens, gleich nach Tagesanbruch. Ich schaue nach diesen Hügeln und diesen Tälern, die seit 15.000 Jahren unverändert daliegen. Dann gehe ich nach Hause, trinke einen Kaffee, stelle das Radio an und höre die Politiker ihr ,Niemals‘, ,Für immer und ewig‘, ,Ein für alle Mal‘ versichern und weiß, dass die Steine da draußen darüber nur lachen können, denn die Ewigkeit der Wüste ist eine andere als die der Politiker. Die Wüste ist für mich die große Quelle einer heilsamen Demut.“
Ein anderes Beispiel: Barloewen fragt Adonis, ob eine humanistische Ethik den Menschen eine ähnliche Sicherheit geben könne wie die Glaubensgewissheit der Religionen. Antwort Adonis: „Ich denke schon, aber wie könnte man dahin kommen? Was uns dazu fehlt, ist der Mythos beziehungsweise das, was einmal Mythos hieß. Was jetzt herrscht, ist der Logos im trivialen Sinn des Wortes, dem gegenüber man all das verworfen und marginalisiert hat, was Mythos meint, das heißt alles, was menschlich, Poesie, Liebe, Freundschaft, persönliche Beziehungen ist. Um wieder ins Gleichgewicht zu kommen, bräuchte man den Mythos. Aber wie sollte man dahin kommen können, die Welt von der Notwendigkeit des Mythos zu überzeugen?“ Weniger resigniert sagt dazu der nigerianische Nobelpreisträger Wole Soyinka, er sei überzeugt, auf der Suche nach einer humanisierenden Welttheologie könne man von afrikanischen Religionen einiges lernen.
Es mag zu kühn sein, aus solchen Bemerkungen Einzelner allgemeine Folgerungen zu ziehen. Gleichwohl gewinnt der aufmerksame Leser den Eindruck, dass metaphysische Bindung des Menschen, mithin Religion, für die Denker außerhalb des europäisch-nordamerikanischen Kulturkreises eine höhere Bedeutung hat als für viele ihrer Kollegen auf beiden Seiten des Atlantiks.
In seinem Nachwort sagt in diesem Sinn Constantin von Barloewen: „Der Mensch ist mehr als die Abwesenheit des Saldos seiner selbst, er will nicht nur Papierschiffchen aus dem Schein anfertigen in jener künstlichen Alchemie des Lebens, wie es die technische Zivilisation der Moderne anbietet.“ Und darum seien „die Gegenkräfte von solch elementarer Wichtigkeit, wie sie im partizipatorischen Denken und in einer Kultur des Dialogs zum Ausdruck kommen“. Gegen eine solche Position wird es in unserer pluralistischen Kultur Widerspruch geben, vor allem von jenen Deutern unserer Gegenwart, die vom letztlichen Sieg der „westlichen“ Kultur überzeugt sind, die etwa gar ein „Ende der Geschichte“ prophezeien. Leszek Kolakowski, der große polnische Philosoph, hält dagegen: „Ich glaube nicht, dass die Kulturen in einer Art Schmelztiegel aufgehen werden. Ihre Eigentümlichkeiten bleiben wohl auch in Zukunft erhalten. Der Gedanke, sie einfach zu beseitigen, ist eine akademische Illusion.“ Zum Glück.
Das Buch des Wissens. Gespräche mit den großen Geistern unserer Zeit. Von Constantin von Barloewen und Gala Naoumova. Wilhelm Fink Verlag, München, 2009.