Als ich eines Abends auf dem Nachhauseweg in die Minsker Metro stieg, erregte das Plakat des Internet-Handels oz.by meine Aufmerksamkeit. Darauf wurden verschiedene Bücher beworben – eines davon war „Paranoia“ von Wiktor Martinowitsch. Das interessierte mich sofort, denn ich kannte den Mann als stellvertretenden Chefredakteur der wöchentlich erscheinenden Wirtschaftszeitung Belgaseta. Als Schriftsteller aber war er bis dahin nie in Erscheinung getreten.
Zu Hause angekommen, bestellte ich das Buch wie gewohnt auf der Seite des Internethandels. Nur drei Tage später erschien in der nicht staatlichen gesellschaftspolitischen Zeitung Narodnaja Wola ein Interview mit Martinowitsch, in dem er sagte, dass sein Buch verboten worden sei. Und tatsächlich – an dem Tag, als mein Exemplar mit der Post ankam, war es schon nicht mehr möglich, „Paranoia“ im Laden zu kaufen.
Martinowitschs Werk ist eine Liebesgeschichte, geschrieben in der Sprache des KGB. Der junge Schriftsteller Newinskij lernt ein Mädchen kennen. Wie sich herausstellt, ist sie die Geliebte des Ministers für Staatssicherheit.
Der Schriftsteller und seine Freundin spazieren zusammen durch die Stadt und treffen sich in einer Wohnung, in der sie meinen, völlig sicher zu sein. Doch die ganze Zeit über verfolgt der Geheimdienst jeden ihrer Schritte und zeichnet ihre stundenlangen Gespräche auf.
Nie wird im Text der Name des belarussischen Geheimdienstes KGB erwähnt. In „Paranoia“ ist vielmehr von einem allmächtigen „MGB“ die Rede, einem Ministerium für Staatssicherheit. Doch zweifellos ist es dem KGB nachempfunden. Die Geschichte spielt ganz offensichtlich in Belarus – auch wenn der Name des Landes kein einziges Mal fällt. „Paranoia“ liest sich sogar wie eine Enzyklopädie des Lebens im heutigen Belarus: Das Buch beschreibt, wie das einheimische Bier schmeckt und wie der Unabhängigkeitstag gefeiert wird. Das Buch enthält Details zur Architektur der Hauptstadt, die nicht nur im postsowjetischen Raum einzigartig ist. Das Buch schildert die Ängste, die fast jeder Bürger dieses Landes kennt. Doch all diese Dinge – das MGB, die Architektur und der Geschmack des Bieres – bilden lediglich den Hintergrund für eine unglücklich verlaufende Liebesgeschichte.
Wenn „Paranoia“ also ein Buch über die Liebe ist, warum wurde es dann verboten? Und das im 21. Jahrhundert, einem Zeitalter, in dem man im Internet finden kann, was immer man möchte. „Ich habe den Eindruck, dass die Situation, in der wir uns jetzt gerade befinden, ganz und gar nicht dem 21. Jahrhundert entspricht“, sagt der Autor Martinowitsch. „Die Verwaltung in Belarus verhält sich so, als ob es weder das Internet gäbe noch die Massenauflagen, über die der Philosoph Walter Benjamin schon in den 1920er-Jahren geschrieben hat.“
Nie gab es jedoch eine offizielle Ansage, dass Martinowitschs Roman verboten würde. Er verschwand einfach plötzlich. Am Tag meines Interviews mit dem Autor erhielt er einen Anruf aus einer „in Minsk angesiedelten Verwaltung“, wie er es selbst formuliert. Der Beamte schlug dem Schriftsteller ein Treffen vor, um über das weitere Schicksal des Buchs in Belarus zu sprechen. Martinowitsch verzichtete darauf und verweigerte sich damit faulen Kompromissen.
Über das inoffizielle Verbot des Buches schrieben in Belarus nur nicht staatliche Zeitungen und Nachrichtenagenturen. In den staatlichen Medien gab es keine Informationen über den verschwundenen Roman. Nicht einmal die Wochenzeitung Belgaseta, für die Martinowitsch arbeitet, veröffentlichte dazu einen Beitrag. Auch wenn in nicht staatlichen Medien eine Zeit lang über den Fall berichtet wurde, gab es keine Debatten über mögliche Gründe. Niemand schrieb, dass man Martinowitschs Buch deshalb verboten hatte, weil sein Sujet der tatsächlichen Situation in Belarus sehr nahe kommt. Weil der MGB aus dem Buch an den belarussischen KGB denken lässt und das MGB-Ministerium an den Präsidenten Lukaschenko.
In Internetblogs erschienen Reportagen aus Buchhandlungen, in denen die Nutzer berichteten, was die Verkäufer ihnen über „Paranoia“ gesagt hatten. Der eine Händler meinte, er habe noch nie von Martinowitschs Buch gehört, der andere erzählte die Geschichte nach, weil es ihn selbst interessierte, warum man den Roman verboten hatte, wieder ein anderer zuckte verständnislos mit den Schultern.
Martinowitsch erzählt mir von einer Kulturwissenschaftlerin, die das Verbot des Romans vorhergesehen hatte. Ihren Namen möchte der Autor allerdings nicht nennen. Grundlage für ihre Prognose war die Tatsache, dass „Paranoia“ zwar weder direkt den Präsidenten Lukaschenko porträtiert noch den belarussischen Geheimdienst KGB, sehr wohl aber die Beziehungen zwischen den Menschen und den Machthabern in Belarus verdeutlicht. Weil eben darüber in Martinowitschs Buch sehr viel zu erfahren sei, habe man es aus dem Verkehr gezogen. „Was ich sicher weiß, ist, dass es einen Anruf bei der Leitung eines belarussischen Internethandels gegeben hat“, sagt Martinowitsch, „alles andere sind Vermutungen.“
Der Autor ist überzeugt davon, dass weder Präsident Alexander Lukaschenko noch Innenminister Anatoli Kuleschow noch KGB-Chef Wadim Zaizew sein Buch gelesen haben. All die Leute, die sich mit der nationalen Sicherheit von Belarus beschäftigen – was in ihren Augen vor allem bedeute, für Stabilität zu sorgen, indem man einen Machtwechsel verhindert –, würden sich mit literarischen Projekten nicht auseinandersetzen.
Das Geschehen um „Paranoia“ ist einzigartig. Mit Martinowitschs Roman wurde zum ersten Mal in der Geschichte des unabhängigen Staates Belarus ein literarisches Werk verboten. Wie der Autor selbst sagt, wird sein auf Russisch geschriebener Roman jedoch trotz des Verbots in Belarus verkauft. Man kann ihn allerdings weder in Buchhandlungen noch im Internet erwerben. Und auch auf Buchmessen ist es nicht möglich, ein Exemplar in die Hand zu bekommen. Der Autor hat es selbst vergeblich versucht.
Doch das Buch gibt es und die Verkäufer fühlen sich wie Verschwörer, wenn sie es herausgeben. Wenn man nicht den Anschein erweckt, ein Beamter oder Mitarbeiter des Geheimdienstes zu sein, erhält man das Buch in einem schwarzen Paket, das man erst auf der Straße öffnen darf.
Nach dem Verbot ist „Paranoia“ gefragter denn je. Rund 3.000 Exemplare sind bereits verkauft worden. Jetzt wäre ein Nachdruck fällig. Doch Martinowitsch glaubt nicht daran, dass es eine neue Auflage geben wird. Aufgrund der politischen Situation in Belarus und den Geschäftsinteressen des russischen Verlags AST, der das Buch herausgibt, sei damit nicht zu rechnen. Allerdings suche man in Großbritannien gerade nach einem Übersetzer. „Ich würde vorschlagen“, sagt Martinowitsch, „dass die Leute auf Buchmessen nachfragen: Was ist mit diesem Roman?“
Wenn man den Autor fragt, was ihn dazu motiviert habe, sein Werk zu schreiben, antwortet Martinowitsch, er habe sich befreien wollen. Von den Romanfiguren, die in seinem Kopf herumgeisterten, aber auch von seiner eigenen Paranoia. „Mein Ziel als Bürger von Belarus bestand darin, den Leuten zu zeigen, wie sehr sie sich fürchten“, erklärt Martinowitsch. „Zu zeigen, dass diese Angst keine Grenze kennt. Mein Ziel als Mensch, der Schriftsteller sein möchte, bestand darin, Aufmerksamkeit zu erregen.“ Wegen seines Buchs bezeichnet man Martinowitsch inzwischen als Dissidenten – ein Status, der dem Autor alles andere als angenehm ist. Oft genug impliziert dies schließlich, nicht nur stärker kontrolliert, sondern möglicherweise auch anderweitig drangsaliert zu werden.
Sein Romanheld, der Schriftsteller Newinskij, habe einiges mit ihm gemeinsam, meint Martinowitsch, besteht aber darauf, dass er in seinem Helden nicht sich selbst porträtiert habe. Es beunruhige ihn jedoch, wie sich die Themen seiner Hauptfigur mit seinem eigenen Leben verflechten. „Das gefällt mir nicht, weil es mit Newinskij ein schlechtes Ende nimmt. Er verliert den Verstand und landet im Gefängnis. Ich möchte nicht, dass es mir irgendwann auch so ergeht.“
Aus dem Russischen von Carmen Eller