Wenn du im Amazonaswald bist, musst du auf der Hut sein vor dem Tiger. Ich nehme eine Machete und einen Vorderlader mit, um mich verteidigen zu können. Aber das reicht nicht: Der Tiger ist neugierig und folgt dir. Wenn du dich umdrehst und ein paar Schritte zurückgehst, dann wirst du die Spuren des Tigers entdecken. Du musst immer hellwach sein: Deswegen bereite ich Koka zu, bevor wir – immer zu zweit – in den Wald aufbrechen.
Koka ist keine Droge. Wir nehmen es, um nicht müde zu werden. Einer von uns nimmt abends Koka und hält Wache, der andere schläft. In meinem Garten stehen Kokapflanzen. Ich ernte die Blätter, trockne sie am Feuer, dann zerhacke ich sie, bis ein feines Pulver entsteht. Das vermenge ich mit zerkleinerten Blättern des Cetico-Baums. Koka pur wäre zu stark. Du kannst aber auch Ampiri nehmen, das ist eingekochte Tabakessenz, die wir mit Salz vermischen, das wir aus einer Palme gewinnen. Wenn du Koka mit Ampiri nimmst, schläfst du zwei Tage und zwei Nächte nicht. Aber das wirkt nicht wie Kokain. Wenn Du Kokain nimmst, kannst du nichts essen, aber mit Koka schon. Es gibt dir Kraft.
In dem Waldgebiet, in das wir fahren, leben nur unsere Landsleute vom Stamm der Bora. Der Wald liegt drei Tage von unserem Dorf, San Andrés, entfernt. Um dorthin zu gelangen, musst du mit einer Barkasse nach Bella Vista fahren, dann in ein Boot nach Brillo Nuevo steigen und von dort aus mit dem Kanu in den Wald rudern. Einmal im Jahr gehe ich für einen Monat in den Wald, um Kalebassen und Nussschalen zu suchen für die Masken und Köcher, die ich schnitze.
Aber es gibt auch andere Dinge, die ich im Wald suche: die Ayahuasca-Liane, zum Beispiel. Aus der Liane und den Blättern des Chacruna-Baums wird „Ayahuasca“ gebraut. Ein Sud, mit dem wir ein Ritual der Reinigung durchführen. Die Ayahuasca-Liane sammle ich an einem nur eine Stunde von San Andrés entfernten Ort. Sie würde auch in meinem Garten wachsen. Aber dann würde sie für das Ritual nicht taugen: Wenn die Leute sie sehen, geht ihre Wirkung verloren. Um zwei Liter Ayahuasca-Sud zu brauen, braucht man anderthalb Säcke Lianen. Man kocht die Lianen von sechs Uhr am Morgen bis sechs Uhr am Abend und erhält einen braunen Sud. Nicht jeder muss dieselbe Menge Ayahuasca zu sich nehmen: Jungen Männern reicht etwas weniger als eine Tasse voll. Bei Frauen muss man vorsichtig sein: Es gibt Frauen, die viel vertragen, und empfindlichere. Man sollte mit kleinen Dosen anfangen.
Ayahuasca ist ein Ritual der Reinigung. Es geht über drei Tage: Montag, Mittwoch und Freitag. Die Behandlung ist so lang, weil der Körper von innen gereinigt wird. Das Ayahuasca dringt tief in dich ein und treibt den Schmutz aus dir heraus. Wenn du es nimmst, denkst du, dass alles, was in dir ist, sogar deine Gedärme, aus dir heraussprudeln. Und wenn dich deine Gedärme verlassen in der Nacht, wirst du in deinem Erbrochenen Leute sehen. Was bedeutet das? Es sind all die Verunreinigungen, die in dir waren. Das erzähle ich den Leuten, bevor ich sie einlade, den Ayahuasca-Sud zu trinken. Und genauso ergeht es ihnen. Am zweiten Tag wollen sie ihre Ration schon nicht mehr trinken. Aber man muss es dreimal machen. Erst dann wird der Körper wirklich rein sein.
Schon als kleiner Junge wollte ich das Ayahuasca-Ritual kennenlernen. Als ich älter wurde, suchte ich mir einen Meister. Die Ausbildung dauerte mehr als zehn Jahre. Eines Tages sagte der Meister zu mir, du weißt jetzt alles, du kannst praktizieren. Ich war 38 Jahre alt, als ich zum ersten Mal Menschen einlud, Ayahuasca zu trinken. Jeder nimmt Ayahuasca aus einem anderen Grund. Der eine will seine Zukunft sehen, der andere seinen Erfolg bei der Arbeit verbessern, ein dritter den Alkoholismus überwinden. Wenn die Wirkung einsetzt, sieht man Schlangen, die an einem hochzüngeln. Doch dann muss man sich konzentrieren und die Augen geschlossen halten. Man darf nur an die Sache denken, die man erfahren möchte. Wenn man seine Gedanken schweifen lässt, hilft das Ayahuasca nicht.
Manchmal wollen Leute aus Lima Ayahuasca probieren, manchmal sogar Leute aus Frankreich oder New York. Einmal kam ein Deutscher mit einer Holländerin. Die Holländerin erzählte: „In Holland nehme ich legale Drogen wie Marihuana.“ „Dann wird dir das Ayahuasca stark zusetzen“, warnte ich sie. Die Lasterhaften vertragen es nicht gut. „Es wird dich nicht umbringen“, sagte ich, „aber es wird mit den Drogen in deinem Körper zusammenstoßen!“ Und tatsächlich ging es ihr danach übel.
Ich bin nicht der Einzige in San Andrés, der das Ritual kennt, aber die anderen widmen sich anderen Dingen. Man muss für das Ayahuasca viel Zeit aufbringen und den Kopf frei haben. Manchmal bekommt selbst ein Schamane Probleme, etwa mit seiner Frau. Die muss du erst lösen: Wenn du nicht stark bist, dann bringt dich Ayahuasca aus dem Gleichgewicht.
Protokolliert von Timo Berger