Das kultivierte Leiden

von Sander L. Gilman

Körper (Ausgabe II/2010)


Wenn Sie, so wie ich, im Dezember 2009 in Hongkong gewesen wären, hätten Sie die Auswirkungen jener moralischen Panik beobachten können, die Hongkong bereits nach dem SARS-Ausbruch im Jahr 2003 befallen hatte und die eine Folge der Schande war, die über China hereingebrochen war, weil das Land als Ursprungsort einer Krankheit gesehen wurde, welche die ganze Welt bedrohte. Jeder in Hongkong war 2009 hypersensibel gegenüber H1N1, der „Schweinegrippe“, von den städtischen Gesundheitsbeamten, die mit Masken ausgerüstet am Flughafen standen und den Ankömmlingen Thermometer entgegenschleuderten, bis zu den Einwohnern, die hinter Atemschutzmasken in den Straßenbahnen durch die Stadt rauschten.

Wir leben heute im zweiten biologischen Zeitalter. Das erste dominierte das Ende des 19. Jahrhunderts. Es dauerte von 1882, als Robert Koch den Erreger der Tuberkulose entdeckte, bis 1900, als die Kreuzungsversuche mit Erbsenpflanzen wiederentdeckt wurden, die der russische Mönch Gregor Mendel bereits etliche Jahre zuvor unternommen hatte. Die Mendelschen Regeln begründeten die moderne Genetik. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs beherrschte dann die Physik mit Albert Einstein und der ersten Atombombe 1945 die Wahrnehmung von Wissenschaft. Erst Ende des 20. Jahrhunderts eroberte die Biologie die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zurück und wurde wieder zu einer „Spitzenwissenschaft“.

Heute, im 21. Jahrhundert, ringen wir darum, die neuen Wege, welche die Humanbiologie einschlägt, zu verstehen. Neue Techniken wie bildgebende Verfahren zur Darstellung von Gehirnaktivitäten, aber auch das Wiederauftreten von Krankheiten wie der Syphilis weisen darauf hin, dass wir unsere Konzepte von Gesundheit und Krankheit in diesem zweiten Zeitalter der Biologie überdenken müssen.

Einige der Erklärungen des ersten Zeitalters der Biologie, in dem Krankheitserreger und Vererbungsregeln definiert wurden und der menschliche Körper aus klar nachvollziehbaren chemischen Interaktionen zu bestehen schien, beantworten schlicht nicht alle Fragen, die sich uns über unsere Körper stellen. Der neu entstehende Wissenschaftszweig der Humanbiologie mit seinen vielen Teildisziplinen konfrontiert uns mit einer komplexen natürlichen Welt, wirft mehr und mehr Fragen auf und postuliert neue Antworten. Wie schon im ersten Zeitalter – jenem Zeitalter, das von sich selbst glaubte, Krankheiten wie Milzbrand, Tuberkulose, Tollwut und Syphilis besiegt zu haben – werden die Erkenntnisse der neuen biologischen Welt daran gemessen werden, ob sie Krankheiten bezwingen können.

Was ist nun aber Krankheit? Ist es lediglich die Interaktion zwischen uns und der Welt, die uns umgibt und die ständig versucht, uns krank zu machen? Macht unser Körper selbst uns krank, weil er einem mehr oder weniger schnellen Verfall ausgeliefert ist? Ist Krankheit nur eine mechanische Antwort auf eine Infektion oder auf die durch Vererbung voreingestellten Grenzen unseres Körpers, und damit von Individuum zu Individuum verschieden? Oder ist Krankheit erst die Deutung solcher Prozesse, das, was wir mittels unseres Verstandes und unserer Emotionen sehen?

Wenn alle mentalen Krankheiten wirklich nur Krankheiten des Gehirns wären, wie einige Wissenschaftler aus der Welt der bildgebenden Verfahren der Gehirnströme behaupten, wie kann es dann sein, dass die Symptome von Geisteskrankheiten sich von Ort zu Ort und Kultur zu Kultur verändern? Was ist mit Symptomen von Geisteskrankheiten, wie zum Beispiel der Flexibilitas cerea, die Individuen zwingt, über Stunden oder sogar Tage in einer bestimmten Körperposition zu verharren?

Dieses Symptom war das meistverbreitete Symptom psychischer Krankheit in den Asylen für Hilfesuchende des 19. Jahrhunderts. Warum scheinen einige Geisteskrankheiten auf bestimmte Kulturen oder Gruppen begrenzt zu sein oder verändern ihre Form von Kultur zu Kultur? Anorexia nervosa beispielsweise, die Magersucht, ist im gegenwärtigen Amerika vor allem eine Krankheit junger Mädchen und Frauen. In China dagegen befällt sie vor allem junge Männer. Für manch einen beweisen diese unterschiedlichen Erscheinungsbilder von psychischen Krankheiten gar nichts. Im besten Fall werden solche Abweichungen als Spezialfälle von Gehirnerkrankungen gesehen, die keinerlei Signifikanz haben, im schlechtesten als Anzeichen gesellschaftlichen Simulierens.

Wie steht es nun aber um „echte“ Krankheiten, solche, die das erste biologische Zeitalter beherrschten und von denen wir wissen, dass sie durch bestimmte Erreger verursacht werden, wie Tuberkulose oder Syphilis? Was ist mit genetischen Krankheiten wie Diabetes oder dem Tay-Sachs-Syndrom, einer angeborenen schweren Intelligenzminderung, die mit Erblinden einhergeht? Sind sie genauso sozial variabel? Ob nun auf der Ebene des Individuums oder der Gemeinschaft, die Reaktionen auf alle Krankheiten und Krankheitsprozesse spiegeln immer die Lokalität, die Kultur und die Geschichte des leidenden Individuums oder der Gruppe wider. Das Tay-Sachs-Syndrom zum Beispiel tritt besonders häufig bei Menschen jüdisch-osteuropäischer Herkunft, bei Frankokanadiern, Iren und den Cajuns im amerikanischen Bundesstaat Louisiana auf. Die Art, in der wir auf eine Krankheit reagieren, scheint natürlich zu sein. Krankheiten werden aber ebenso von soziokulturellen Bedingungen mitbestimmt.

Einige Krankheiten verursachen moralische Panik mit ernsthaften politischen und sozialen Folgen. Besonders die Syphilis im 19. Jahrhundert und AIDS in den 1980er-Jahren sind hier hervorzuheben. Bei seinem ersten Aufflackern in Südchina bekam SARS den Namen „feidianxing shengjing bing“ (ernstes akutes Nervositäts-Syndrom), weil es von fast schon paranoider Angst begleitet wurde. Hier hat sich bereits das Modell einer Infektion manifes­tiert, die eine psychologische Komponente hatte, eine öffentliche Hysterie über die Gefahr der Ansteckung. Diese neue Krankheit wurde im Westen mit einer Paranoia gesehen, als handele es sich um eine neue Form der Cholera oder der Pest, die vom Osten ausgehend über Reise- und Handelsrouten die Welt überziehen würde. SARS haftete ein Stigma an.

Im 21. Jahrhundert galt es als Gefahr, die sich nicht etwa langsam durch die Schifffahrt, sondern sehr schnell durch den Flugverkehr verbreiten, die Zivilisation angreifen und sie zerstören würde. Und die Schuld daran gab man den Menschen in Hongkong und Südchina. Natürlich waren und sind die Auswirkungen von SARS und H1N1 auf die Gesundheit evident, aber die medizinischen Antworten darauf wurden und werden nicht nur von den Fortschritten im medizinischen Wissen und der Technologie gesteuert, sondern auch von der sozialen Bedeutung, die mit diesen Krankheiten assoziiert wird.

Krankheiten zu konstruieren, bedeutet nicht notwendigerweise, sie zu erfinden. Echte pathologische Erfahrungen werden oft als Teil eines neuen Musters interpretiert, das man dann erkennen, diagnostizieren und behandeln kann. Wie wir eine Krankheit erleben, hängt von der Krankheit selbst ab, von unserer Einschätzung, wie hoch das Risiko sein wird, diese Krankheit zu bekommen, sowie von unserer Reaktion auf dieses Risiko. In diesem Sinne schien sich H1N1 im Auftreten nicht sehr von der saisonal auftretenden Grippe zu unterscheiden und hatte in etwa die gleichen Erkrankungs- und Sterberaten wie diese jährliche Pandemie. Aber man war geschult durch SARS und durch die hartnäckige Angst vor der Vogelgrippe. Dass die Vogelgrippe in den Fokus der Besorgnis um Epidemien rückte, folgte ebenfalls dem Modell von SARS.

Obwohl es weder 2004 noch 2005 oder 2006 zu einer Vogelgrippe-Epidemie kam, hielt die Weltgesundheitsorganisation daran fest, Karten über die Ausbreitung solcher potenzieller Epidemien anzufertigen, die durch Wildvögel übertragen werden, wenn sie die Weiten Sibiriens überqueren und nach Europa eindringen. So enthüllten die Karten im Frühling 2005, dass die ersten Fälle von Vogelgrippe, die durch das H5N1-Virus verursacht worden waren, in Südostasien, in Kambodscha und Vietnam und dann in China auftraten. Eine zweite, sehr viel schlimmere Epidemie als die Gefahr durch SARS wurde vorhergesagt, eine Pandemie, die das Massensterben der Grippewelle von 1918 bis 1919 noch in den Schatten stellen würde. Millionen von Toten wurden prognostiziert und eine weltweite moralische Panik brach aus. Doch natürlich waren weder die Vogelgrippe noch Südostasien echte Bedrohungen für die Menschheit. Hingegen schienen jüngst das weit vom Ursprungsort von SARS und der Vogelgrippe entfernte Mexiko sowie Schweine, die selten über Grenzen hinwegfliegen, Ursprung und Brutstätte eines neuen gefährlichen Erregers zu sein. Doch auch bei dieser Infektion stellte sich heraus, dass sie zwar gefährlich war, aber doch kaum gefährlicher als die jährliche Grippewelle, die wir regelmäßig erwarten und mit der wir uns Jahr für Jahr auseinandersetzen.

Und doch fühlten Menschen, die an H1N1 erkrankten, ihr Leben in sehr viel stärkerem Maße bedroht, wurden zu Objekten von Angst und Schrecken, wurden als Bedrohung für andere wahrgenommen, wurden stigmatisiert und erlebten ihre Krankheit oft als sehr viel schlimmer, als eine „normale“ Grippe es gewesen wäre. Vielleicht liegt das daran, dass wir die Gefahren der saisonalen Grippe herunterspielen und sie als „schwere Erkältung“ abtun, obwohl mehrere Zehntausend Menschen jedes Jahr daran sterben – und im Übrigen sterben regelmäßig auch Menschen an gewöhnlichen Erkältungen. Aber sicher wird das Erleben von H1N1 auch davon geprägt, dass es wieder einmal der epidemische Killer sein sollte, auf dessen Auftauchen wir in den letzten Jahren so intensiv vorbereitet wurden. Diese Deutung erregt Emotionen, die Krankheit kreieren, nicht in dem Sinn, dass sie neu erfunden wird, sondern in dem Sinn, dass dadurch unser Erleben der Krankheit geprägt wird. Und das gilt für alle Krankheiten, von Geisteskrankheiten bis hin zur Grippe.

Aus dem Englischen von Karola Klatt



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