Warum sich Kolumbianer nicht auf freie Plätze setzen

von Karsten Höhnke

Körper (Ausgabe II/2010)


Der Sitzplatz im überfüllten Bus neben mir wird frei. Trotzdem setzt sich die ältere Dame, die der begehrten Plastikschale am nächsten steht, nicht sofort hin. Stattdessen stellt sie sich davor, sodass sich niemand anderes hinsetzen kann, nimmt aber nicht Platz. Vielleicht schickt sie ein Stoßgebet an die Virgen de Carmen, die hier die Schutzheilige der Reisenden ist, um sich zu bedanken. Schließlich sind viele Kolumbianer sehr gläubig. Oder handelt es sich um eine Form von Aberglauben?

Nach einiger Zeit in Kolumbien fällt mir auf, dass sich das Phänomen sehr häufig beobachten lässt. Sowohl in den kleinen Colectivo-Bussen als auch in den modernen Fahrzeugen des Transmilenio, die auf einer abgegrenzten Spur fahren und eine Art U-Bahn-Ersatz sein sollen, bleiben viele vor allem ältere Fahrgäste zunächst vor dem gerade frei gewordenen Platz einen Moment lang stehen, bevor sie sich setzen. Besonders irritierend ist das, wenn man seinen Sitz für einen älteren Menschen aufgibt und dieser sich zwar bedankt, aber erst mal stehen bleibt.

Irgendwann löst sich das Rätsel, als ich mich selbst auf einen gerade frei gewordenen Platz setze und mich die Frau neben mir fragt, ob der Platz nicht noch ziemlich warm sei. Kolumbianer empfinden es als unhygienisch, wenn ein Sitzplatz noch die Körperwärme des Vorgängers hat, und lassen ihn deshalb erst einmal abkühlen.



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