Über die Frage, ob Deutschland auf dem Weg zu einer Bildungsrepublik ist, kann man nur sprechen, wenn man weiß, was unter Bildung verstanden, wie Bildung empirisch gemessen wird. Prinzipiell hat die empirische Bildungsforschung drei Zugänge: die Darstellung von erreichten Abschlüssen oder Zertifikaten, die Bestandsaufnahme von erzielten kognitiven Kompetenzen und die Erörterung von sozialen Kompetenzen. Eine solche Bestandsaufnahme kann absolut erfolgen, wir sprechen dann etwa über absolute Bildungsarmut, sie kann aber auch relativ zum Bevölkerungsdurchschnitt einer bestimmten Region vorgenommen werden, dann sprechen wir über relative Bildungsarmut.
Kommen wir zunächst zu den erreichten Abschlüssen oder Zertifikaten. Hierbei handelt es sich um die prozentuale Verteilung von Personen mit Haupt-, Real- und Gymnasialabschluss und deren Veränderung über die Zeit. In anderen Ländern findet man auch Darstellungen über die Dauer des Schulbesuchs, da dort Zertifikate oder Abschlüsse weit weniger wichtig sind. Beide Maße, Abschlüsse wie Dauer des Schulbesuchs, sind etablierte Kennzahlen und werden bei Weitem am häufigsten genutzt. Das zweite Konzept wird mit dem Begriff der kognitiven Kompetenzen beschrieben. Damit sind unter anderem die allseits bekannten PISA-Tests gemeint, die mathematisches, naturwissenschaftliches oder Leseverständnis prüfen. Die Tests bilden verlässlicher als Zeugnisse und Abschlüsse die Stellung Deutschlands im internationalen Vergleich ab: Sie messen die erzielten Ergebnisse national ganz unterschiedlicher Bildungsinstitutionen nach einem einheitlichen Maßstab.
Das dritte Konzept, die sozialen Kompetenzen, können wir in der empirischen Bildungsforschung bislang nur wenig abbilden. Wir wissen aber, dass sie in einer wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft zunehmend wichtiger werden und in hohem Maße den Zugang zu Positionen im Arbeitsmarkt mitbestimmen. Im Zuge des gerade eingerichteten nationalen Bildungspanels (NEPS) werden solche Skalen entwickelt und der Zusammenhang zwischen Zertifikaten, kognitiven und sozialen Kompetenzen bestimmt. Quer zu diesen drei Ansätzen zur Messung von Bildung liegen nun Aussagen zu ihrem Niveau. Von einer absoluten Bildungsarmut kann dann gesprochen werden, wenn man keinen Hauptschulabschluss hat absolute Ausbildungsarmut liegt vor, wenn eine berufliche Ausbildung fehlt. Absolute Kompetenzarmut kennzeichnen wir als das, was das PISA-Konsortium als funktionalen Analphabetismus bezeichnet.
Dieser liegt vor, wenn man zwar lesen kann, das Gelesene aber nicht im Sinn erfasst und wiedergegeben werden kann. Relative Armutsmessungen beziehen sich immer auf die Gesamtverteilung. Bei Zertifikaten würde man entsprechend heute einen mittleren Abschluss als Grenze zur Ausbildungsarmut setzen, bei Kompetenzen kann man sich an nationale oder internationale Mittelwerte halten. Schaut man nun – absolut und relativ –, wie sich die Bildung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland über die Zeit entwickelt hat, sieht man seit etwa 1995 nur verhaltenen Fortschritt. Nach wie vor verlassen zehn Prozent der heutigen jungen Bevölkerung die Schule ohne Hauptschulabschluss, bei Personen mit Migrationshintergrund ist dieser Anteil noch höher. Diese Menschen sind bildungsarm. Zieht man statt Zertifikaten Kompetenzen heran, sind die Anteile noch höher und liegen bei 20 bis 22 Prozent. Einen solch hohen Anteil kompetenzarmer Jugendlicher sollte und kann sich ein Land wie Deutschland nicht leisten. Dabei trifft Bildungsarmut in Deutschland nicht auf ausgeprägten Bildungsreichtum. Prozentual haben wir wesentlich weniger Studierende als andere Länder. Unterschiede bleiben im Übrigen auch dann bestehen, wenn wir berücksichtigen, dass viele Berufe hier im Rahmen des dualen Systems oder einer vollzeitschulischen Ausbildung erlernt werden, in anderen Ländern aber Teil universitärer Curricula sind.
Damit ist die Frage: „Bildungsrepublik Deutschland?“ klar beantwortet: Deutschland ist weit davon entfernt, eine Bildungsrepublik zu sein. Diese Erkenntnis ist nicht neu, bislang allerdings hat sie nicht zu den notwendigen Reformen des Bildungssystems geführt. Zwar sprechen Politiker aller Parteien bei jeder Gelegenheit über Bildung. Doch konzertierte und konzentrierte Taten lassen auf sich warten. Auch die Wissenschaft hat das Problem der Bildungsarmut seit Langem auf der Agenda, äußert sich dazu, und muss sich mittlerweile fast dafür entschuldigen. Doch es gibt keinen Anlass, das Thema zur Seite zu schieben. Im Gegenteil, es wäre gefährlich. Denn wir stehen heute vor mindestens drei Herausforderungen, die wir bisher aber ungenügend angepackt haben. Die erste Herausforderung besteht in der demografischen Entwicklung: Unsere höhere Lebenserwartung bei guter Gesundheit erfordert – zumindest unter den Bedingungen des heutigen Sozialversicherungssystems – eine längere Dauer der Erwerbstätigkeit. Diese kann nicht durch eine Bildung und Ausbildung zu Beginn des Lebens getragen werden: Wir brauchen eine Öffnung hin zu einer systematischen Weiterbildung, hin zu einer zweiten und dritten Ausbildung. Wir müssen Lebensverläufe entsprechend sozial absichern und Unterbrechungen einer ansonsten als ununterbrochen gedachten Erwerbskarriere ermöglichen.
Die zweite Herausforderung liegt in dem Bevölkerungsrückgang: Bleibt unser Bildungsniveau bei den heutigen Anteilen von Abiturienten und Studierenden, werden wir in wenigen Jahren absolut gesehen weniger qualifizierte Personen haben als heute. In Zukunft müssen daher prozentual mehr Personen als heute einen Hochschulzugang erwerben und die Hochschulen auch mit Abschluss durchlaufen. Ansonsten werden wir einen hohen Fachkräftemangel zu bewältigen haben. Die dritte Herausforderung ergibt sich aus der Veränderung des Arbeitsmarktes. Diese zeigt deutlich, dass die Anzahl der Jobs für niedrig qualifizierte Personen stark abnimmt. Dagegen sehen wir deutliche Zuwächse in Branchen mit hoch qualifizierten Arbeitskräften. Wir können uns daher nicht damit zufriedengeben, den heutigen Stand an gut gebildeten Personen zu halten – allein dies würde prozentual eine Steigerung der Bildungsquote bedeuten. Wir müssen den Anteil gut gebildeter Personen darüber hinaus sehr deutlich steigern, um für einen stark veränderten Arbeitsmarkt gewappnet zu sein.
Um an dem heutigen Bildungsniveau etwas zu ändern, müssen wir unsere Potenziale ausschöpfen. Personen mit Migrationshintergrund haben es schwer an unseren Schulen, schon allein deshalb, weil sie oft nicht ausreichend gut Deutsch sprechen. Personen aus bildungsfernen Schichten oder langzeitarbeitslosen Elternhäusern erreichen selten einen guten Schulabschluss. Dabei sind es zunehmend die jungen Männer, die unsere Aufmerksamkeit brauchen. Während sich unter den Frauen „nur“ 14 Prozent im Bereich der Kompetenzarmut befinden, sich diese im internationalen Vergleich also in Richtung eines bildungsreichen Landes wie Finnland bewegen, liegt die Kompetenzarmut junger Männer bei 26 Prozent. Dabei hat sich die Schere zwischen Männern und Frauen in der jüngsten Vergangenheit immer mehr geöffnet. Oft wird dieses Phänomen mit dem hohen Anteil von Frauen unter den Lehrpersonen erklärt. Allerdings zeigen die Leistungsindikatoren von jungen Männern im internationalen Vergleich keine Korrelation mit dem prozentualen Anteil von Frauen, die in einer Schule unterrichten. An den Frauen kann es also nicht liegen, dass die Männer niedrige Kompetenzen besitzen.
Der Unterschied ergibt sich eher aus der noch immer stark geschlechtsspezifischen Erziehung in deutschen Familien. Lassen Sie mich ganz plakativ argumentieren: Junge Mädchen werden früher zu Haushaltsarbeiten herangezogen als junge Männer. Sie bekommen schon früh Geld in die Hand und werden allein zum Einkaufen geschickt. Sie dürfen oder müssen Geschirrspülmaschinen und Waschmaschinen bedienen. All diese Tätigkeiten führen zu Verantwortungsbereitschaft, aber auch zu einer Form von selbstverantwortlichem, souveränem Zeitmanagement. Mädchen erledigen dann auch eher Aufgaben, wenn kein Erwachsener darüber wacht. Damit sind die jungen Mädchen besser für den Systembruch gerüstet, den wir in den letzten Jahrzehnten beobachten konnten. Fand die deutsche Halbtagsschule noch ihre Entsprechung in einer maximal auf Teilzeit ausgerichteten Erwerbstätigkeit von Frauen, so passt sie heute nicht mehr zu den auch politisch gewollten Doppelverdienerpaaren. Halbtagsschulen und die Vollzeiterwerbstätigkeit beider Eltern führen bei den Kindern dazu, ihre Nachmittage selbst regulieren zu müssen, sie bedürfen daher eines ausgebildeten Zeitmanagements. Mädchen sind hier besser als junge Männer vorbereitet.
Was ist in dieser Situation zu tun, wo ergeben sich Ansatzpunkte? Im Folgenden kann ich nur kurz auf wenige Bestandteile eines ganzen Maßnahmenbündels eingehen, welches vieler weiterer Ergänzungen bedarf.
Zunächst müssen wir einen Weg einer präventiven Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik entschlossen ausbauen und begehen. Bildungspolitik ist Teil der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Bildung schützt vor Arbeitslosigkeit, insbesondere vor länger anhaltender Arbeitslosigkeit. Höhere Bildung geht einher mit höherer Teilhabe an der Gesellschaft, mit besserer Gesundheit, mit längerer Lebenserwartung. Eine Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik kann nicht erst dann ansetzen, wenn die Kinder schon in den Brunnen gefallen, der Versicherungsfall schon eingetreten ist. Beide Bereiche brauchen eine früh im Lebensverlauf ansetzende Bildungspolitik. Darunter verstehe ich auch eine qualitativ hochwertige frühkindliche Betreuung. Deutschland verhandelt Bildung noch immer zu stark unter dem Aspekt des Konsums, nicht der Investition. Im internationalen Vergleich stecken wir weniger Geld in das Bildungssystem und verteilen das Geld anders über die einzelnen Altersstufen. Geben andere Länder proportional mehr für die Vorschul- und Primärbildung aus, so stecken wir proportional mehr in die Gymnasien. Auch hieran sieht man das Fehlen eines präventiven Ansatzes. Deutschland muss mehr in Bildung und Ausbildung investieren, insbesondere gilt das für die frühen Lebensabschnitte.
Deshalb müssen wir die Quantität und Qualität der frühkindlichen Bildungseinrichtungen erhöhen. Im Sinne einer präventiven Sozialpolitik und des Ausschöpfens vorhandener, aber bislang ungenutzter Potenziale ist auch der zügige Auf- und Ausbau frühkindlicher Bildungseinrichtungen zu verstehen. Die in Deutschland so ausgeprägte Übertragung des Bildungsstands der Eltern auf ihre Kinder und die Probleme der Integration von Kindern mit Migrationshintergrund in das deutsche Bildungssystem müssen früh im Leben der Kinder angegangen werden. Doch gerade diese Gruppen besuchen seltener Kinderkrippen und Kindergärten als Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern. Und gerade diese Kinder profitieren wohl am wenigsten von finanziellen Transfers in die Familien, da es an so vielem fehlt. Der Ausbau einer entsprechenden Infrastruktur verbunden mit entsprechender Überzeugungsarbeit bei den Eltern dürfte Bildungsarmen besonders zugutekommen.
Wir müssen auch Ganztagsschulen flächendeckend ausbauen. Ich habe bereits auf die Diskrepanz zwischen der zunehmenden Arbeitsmarktbeteiligung beider Elternteile und den in traditionellen Strukturen verharrenden Schulen verwiesen. Viele Kinder sind zu früh allein zu Hause. Ein Ausbau von Ganztagsschulen ist aber auch aufgrund der verkürzten Schuljahre in Gymnasien und der wachsenden Anforderungen einer Wissensgesellschaft nötig. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass wir die frühe Selektivität des Bildungssystems beenden. Deutschland ist neben Österreich das einzige Land, das an der Dreigliedrigkeit des Schulsystems festhält. Nun ist diese Systemfrage ideologisch überfrachtet und wäre als solche ein eigenes Thema.
Ich möchte an dieser Stelle nur eines festhalten: Das dreigliedrige Schulsystem Deutschlands führt nicht zu dem erhofften Ziel, mehr hochkompetente junge Menschen als in anderen Ländern auszubilden. Deutschland hat im internationalen Vergleich mehr Bildungsarme, aber auch weniger Bildungsreiche. Unter einer frühen Selektivität verstehe ich aber noch einen ganz anderen Punkt – die immer früher geforderte Wahl einzelner Fächer innerhalb des Gymnasiums. Durch die Einführung des achtjährigen Gymnasiums erfolgt die Auswahl von Profil- und Leistungsfächern mittlerweile im Alter von 14 Jahren. Insbesondere im Zusammenspiel mit den Bachelor-Studiengängen, die ihrerseits stärker als Diplomstudiengänge auf den Beruf vorbereiten, erscheint mir eine so frühe Engführung nicht zeitgemäß. Wir kommen auch nicht umhin, die Durchlässigkeit zwischen beruflicher Ausbildung und Hochschulausbildung zu erhöhen. Mehr als 90 Prozent der Hochschulzugangsberechtigten erreichen diese Reife konventionell über das Gymnasium, während in anderen Ländern auch nach einer Berufsausbildung Colleges oder Universitäten besucht werden können.
Trotz einiger Fortschritte in jüngster Zeit müssen wir hier schneller handeln, wir müssen den jungen Leuten eine zweite Chance geben, wir brauchen mehr Hochschulabsolventen. Wir müssen außerdem die Weiterbildung ausbauen. Aufgrund der demografischen Entwicklung und einer immer geringer werdenden Halbwertszeit des Wissens müssen wir Systeme der Weiterbildung aufbauen. Darunter verstehe ich weit mehr als berufsnahe Kurzmodule, es muss uns um das Erlernen eines zweiten und dritten Berufs im Lebensverlauf gehen. Hierfür brauchen wir begleitende neue Sicherungssysteme. So paradox es klingen mag – nur Erwerbsunterbrechungen ermöglichen eine längere Erwerbstätigkeit. Gleichzeitig ist es wichtig, dass wir die Qualitätssicherung von Bildungseinrichtungen garantieren. Die Bildungsberichterstattung ist ein gutes Stück vorangekommen, auch Benchmarks, also Maßstäbe, die einen direkten Vergleich ermöglichen, kommen immer mehr in Mode. Dennoch driften die Kenntnisse von Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Bundesländer immer weiter auseinander, wir brauchen also eindeutige Bildungsstandards.
Hierbei müssen wir darauf achten, dass die Indikatoren zur Bildungsmessung weit auseinanderfallen können: Zertifikate messen nicht das Gleiche wie Kompetenzen. Schnell kann ein Abbau von Zertifikatsarmut zu einem Aufbau von Kompetenzarmut führen, allzu leicht kann man – um nationale und internationale Benchmarks zu erfüllen – in einen Prozess des „Zertifikat-Dumpings“ geraten. Auch an den Schulen muss die Transparenz erhöht werden. Mittlerweile liegen Schulen viele Daten vor. Man weiß um Abbruch- und Erfolgsquoten, um Leistungsindikatoren. Aber man lässt sie in der Schublade – oder muss sie darin lassen. Damit ist niemandem gedient. Eltern und Kinder müssen ihre Wahlen informiert treffen können.
Es liegt nun an uns, eine Bildungsoffensive zu starten – als gemeinsame Aufgabe von Bund und Ländern, über Ressorts und über Parteigrenzen hinweg. Das deutsche föderale System ist handlungsfähig, der Pakt für Forschung und Innovation beweist dies ebenso wie die Exzellenzinitiative. Nun müssen wir darangehen, den Bereich der Niedrigbildung ebenso entschlossen in die Hand zu nehmen. Es bringt nichts, wenn wir anderen reihum die Schuld an der Misere geben, mal Lehrern, mal Eltern, mal Kindern, mal dem System als solchem. Es bringt nichts, wenn wir einzelne Schwerpunktsetzungen der politischen Parteien herausheben und dabei das große Ganze – und hier sehen wir weitgehende Übereinstimmung in den parteipolitischen Zielen – aus den Augen verlieren. Wir müssen handeln, und unter „wir“ verstehe ich uns alle.