Anwältin der Freiheit

von Navi Pillay

Ein bisschen Frieden (Ausgabe II+III/2023)

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Navi Pillay. Foto: Wikus de Wet / Getty Images


Meine Kindheit roch nach den indischen Gerichten meiner Mutter. Wenn mir der Duft von angebratenem Koriander und Chili in die Nase steigt, bekomme ich sofort Appetit. Ich wuchs in den 1940er-Jahren in Clairwood auf, einem Vorort der südafrikanischen Stadt Durban.

Meine Großeltern kamen aus Indien und schufteten fünf Jahre lang auf einer Zuckerrohrfarm, bis sie endlich ein Stück Land kaufen durften. Clairwood war explizit für Menschen indischer Abstammung ausgewiesen und ziemlich vernachlässigt: die Straßen voller Schlaglöcher, keine Toiletten, kein Abwassersystem.

Viele meiner Schulfreundinnen mussten die Schule früh beenden und arrangierte Ehen eingehen. Zu meinem Glück legte mein Vater, ein Busfahrer, auch für seine Töchter Wert auf Bildung. Ich war gut in der Schule und gewann mehrere Preise. Darum sammelten meine Lehrer Geld in unserer Nachbarschaft und ermöglichten es mir so, zu studieren.

Ab 1960 war es Nicht-Weißen wie mir in Südafrika erstmals erlaubt, eine Universität zu besuchen, allerdings getrennt von den Weißen. Ich studierte in Durban Westville in einem Lagerhaus. Die untere Etage war voller Kartoffeln, wir lernten im Obergeschoss. Noch immer ist mir die beängstigende Atmosphäre dieser Zeit sehr präsent. Rassistische Gewalt gehörte zum Alltag und viele Studierende wurden verhaftet. Damals nahm ich mir vor, meinen Verstand zu nutzen, mich hochzuarbeiten und etwas zu verändern.

„Im Jahr 1995 erhielt ich einen überraschenden Anruf: „Bleiben Sie dran, es ist der Präsident.“ Im ersten Moment dachte ich, jemand würde mich zum Narren halten, aber es war tatsächlich Mandela.“

Ich habe Jura studiert. Normalerweise werben Kanzleien die Studierenden mit den besten Abschlüssen direkt von der Uni an. In meinem Abschlussjahr war das nicht der Fall, weil ich, das indische Mädchen, die besten Noten hatte. Also zog ich auf der Suche nach Arbeit von Kanzlei zu Kanzlei, doch alle sagten mir ab: „Wir können von keiner weißen Sekretärin verlangen, Anweisungen von dir entgegenzunehmen. Und was ist, wenn du schwanger wirst?“ Mein Mantra lautete jedoch: „Wenn man dir eine Tür vor der Nase zuschlägt, musst du eine andere finden.“ Darum gründete ich meine eigene Kanzlei, als erste nicht weiße Frau in Südafrika.

In meinen Jahrzehnten als Anwältin verteidigte ich einige Anti-Apartheid-Aktivisten. Ich war die einzige Frau, die als Anwältin das berüchtigte Gefängnis auf Robben Island betreten hat, in dem Nelson Mandela inhaftiert war. Jeder Besuch der Gefängnisinsel war fürchterlich. Die brillantesten Köpfe unseres Landes waren dort eingesperrt. Viele Aktivisten wurden misshandelt und gefoltert, Rechtsschutz gab es nicht.

Später wurden jedoch all die Fälle von Misshandlung und Folter, die wir dort sammelten, von der Anti-Apartheid- Bewegung als Beweismittel gegen das Regime genutzt. Im Jahr 1994 erkämpften wir uns dann endlich ein demokratisches Südafrika. Wie alle meine Landsleute erinnere ich mich noch ganz genau an den Moment, als Mandela aus Robben Island entlassen wurde.

Im Jahr 1995 erhielt ich einen überraschenden Anruf: „Bleiben Sie dran, es ist der Präsident.“ Im ersten Moment dachte ich, jemand würde mich zum Narren halten, aber es war tatsächlich Mandela. Er verkündete mir, dass ich von der Generalversammlung der Vereinten Nationen zur Richterin des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda ernannt worden war.

Während meiner Zeit am Tribunal war ich an mehreren bahnbrechenden Urteilen beteiligt: Während des Genozids an Tutsi wurden systematisch sexualisierte Gewalttaten begangen. Doch sie wurden nie verurteilt, weil es damals noch keine international anerkannte Defnition von Vergewaltigung gab. Also erarbeiteten wir selbst eine, die bis heute gilt.

Im zweiten Fall ging es um Medien. Alle Beweise deuteten darauf hin, dass der ruandische Völkermord ohne die Hassbotschaften eines Radiosenders nie das ganze Land erfasst hätte. Wir argumentierten deshalb, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht absolut ist. Es unterliegt der Einschränkung, dass nicht zu Gewalt aufgerufen werden darf.

„Ich bin davon überzeugt, dass Menschen, die wie ich Gewalt und Diskriminierung erfahren haben, aus diesen Erfahrungen auch etwas Positives schöpfen können.“ 

Im Jahr 2003 wurde ich in das Richtergremium des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag gewählt – und 2008 ernannte mich der damalige UN-Generalsekretär Ban Ki-moon zur Hohen Kommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen.

Wenn man sich meinen Lebenslauf anschaut, klinge ich sicherlich nach einer sehr ehrgeizigen Person. Dabei habe ich mich auf keinen dieser hohen Posten beworben! Blicke ich auf meine Karriere zurück, dann bin ich stolz auf meine Arbeit, auch wenn sie oft sehr hart war.

Und obwohl ich mir über die Jahre viele Geschichten von Menschen angehört habe, die Schreckliches erlebt haben, bleibe ich eine Optimistin. Ich bin davon überzeugt, dass Menschen, die wie ich Gewalt und Diskriminierung erfahren haben, aus diesen Erfahrungen auch etwas Positives schöpfen können.

Meine Lebenserfahrung unter der Apartheid hat mich darin geschult, Unrecht zu erkennen und meinen Werten treu zu bleiben. Ungerechtigkeit kann nur dann überwunden werden, wenn man etwas dagegen tut.



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