Jenseits von Batman

von Aho Huang

Ein bisschen Frieden (Ausgabe II+III/2023)

  • Der Comicherausgeber Aho Huang. Foto: Dala Publishing

    Der Comicherausgeber Aho Huang. Foto: Dala Publishing

  • „Darling Knight“ von Lucas Paixão, aus: ”Rainbow Apartment“, Dala, Taipeh, 2020

  • Auszug aus „Colorful” von Moriku, in: „Rainbow Apartment“, Dala, Taipeh, 2020

    Auszug aus „Colorful” von Moriku, in: „Rainbow Apartment“, Dala, Taipeh, 2020

  • Auszug aus „I Have A Good Dream Tonight” von Weien Lee, in: „Rainbow Apartment“, Dala, Taipeh, 2020

    Auszug aus „I Have A Good Dream Tonight” von Weien Lee, in: „Rainbow Apartment“, Dala, Taipeh, 2020

  • Auszug aus „Trust” von Nin, in: „Rainbow Apartment“, Dala, Taipeh, 2020

    Auszug aus „Trust” von Nin, in: „Rainbow Apartment“, Dala, Taipeh, 2020


Comics sind in Taiwan wie Bubble Tea: Man bekommt sie an jeder Straßenecke, in jedem Laden und auf jeder Onlineplattform. Jüngere Semester können sich ein Leben ohne Comics nicht vorstellen, dabei ist es noch nicht lange her, dass sie zum festen Bestandteil der taiwanischen Kultur wurden.

Im Zuge der Demokratisierung in den 1980er- Jahren eröffneten sich neue kulturelle Freiräume und Austauschmöglichkeiten mit den Nachbarländern. Wenn ich von „Comic“ spreche, dann meine ich allerdings nicht „Batman“ oder „Mickey Maus“ oder was man im Westen sonst typischerweise mit dem Genre verbindet.

Bis heute hat kaum jemand in Taiwan diese Charaktere in Comicform gelesen (auch wenn sie natürlich die Popkultur geprägt haben). Die taiwanische Szene ist vielmehr stark vom Manga beeinflusst, dem unverwechselbaren Stil, der sich in Japan entwickelt hat.

„Mangas sind der Sauerstoff der Kultur“

Für die Japanerinnen und Japaner sind Mangas wie die Luft zum Atmen; Sie sind der Sauerstoff der Kultur. Und auch in Taiwan, wo heute jede fünfte Veröffentlichung ein Comic ist, machen die Mangas mittlerweile fast neunzig Prozent aus.

Ich arbeite schon seit über dreißig Jahren als Verleger und Redakteur von Comics. Als ich in den 1980er-Jahren aufgewachsen bin, waren sie vor allem eins: Unterhaltung. Veröffentlicht wurden lustige, kurze Geschichten, bei denen sich die Leserinnen und Leser amüsierten und bestenfalls jeden Tag wissen wollten, wie die Story in der nächsten Ausgabe weitergeht.

Auch Liebesgeschichten waren und sind enorm beliebt, vor allem sogenannte BL- oder GL-Comics – das steht für „Boys Love“ und „Girls Love“, Genres, deren Fangemeinde sich vor allem aus weiblichen Teenagern rekrutiert.

„Boys Love- und Girls Love-Comics sind Fantasien, die mit den Geschlechterrollen brechen“

Diese Geschichten handeln von zwei als Heteros auftretenden Protagonisten, die sich im Lauf einer Geschichte, trotz aller Widrigkeiten, ineinander verlieben. Oft sind BL-Storys Fan-Fiction über Stars oder bereits existierende Comicfiguren, die dann eine Wendung hin zum Romantischen nehmen. Dabei geht es explizit nicht darum, dass die Charaktere real schwul oder lesbisch sind. Es sind Fantasien, die mit den Geschlechterrollen brechen.

Mittlerweile erfreut sich der Comic als Kunst- und Literaturform auch bei Erwachsenen großer Beliebtheit. Thematisch hat sich die Szene in den letzten Jahren verändert. Sie ist vielfältiger, experimenteller und politischer geworden. Diese Entwicklung hängt vor allem damit zusammen, dass sich die gesamte politische Situation im Land verändert hat.

Noch vor fünfzig Jahren haben die meisten hier von sich gesagt: „Ich bin Chinese und Taiwaner.“ Vor zwanzig Jahren klang die typische Selbstbeschreibung so: „Ich bin Taiwaner, aber auch Chinese.“ Heute, im Jahr 2023, wird so gut wie jeder in Taiwan sagen: „Ich bin Taiwaner.“ Dass wir uns mehr und mehr unsere eigene taiwanische Identität erarbeiten, zeigt sich natürlich auch in der Kunst.

Wenn eine Geschichte in Taiwan spielt, wird dies meistens mithilfe bestimmter gut erkennbarer Merkmale klargemacht: Mal taucht in der Skyline der 101-Tower auf oder man sieht die Taipeher Metro. Ein anderes Mal isst ein Charakter spezifische taiwanische Snacks oder spricht im Slang einer bestimmten Region.

„Es gibt auch ganz persönliche, autobiografische Comics, zum Beispiel aus Sicht eines Kindes gezeichnet, das von seinen Großeltern von der Zeit des Weißen Terrors erzählt bekommt“

Unsere Comiczeichnerinnen und -zeichner schaffen inzwischen vermehrt Werke jenseits von gewohnten Erzählmustern. Sie thematisieren die Politik, die historische Bedeutung des Ozeans, die Geschichte des taiwanischen Teehandels oder die Situation der Indigene. Es sind auch ganz persönliche, autobiografische Geschichten dabei, erzählt etwa aus Sicht eines Kindes, das von seinen Großeltern erzählt bekommt, was sie zur Zeit des Weißen Terrors ertragen mussten.

Sogar das taiwanische Kulturministerium fördert die Comic-Szene mittlerweile finanziell. Und im Jahr 2018 hat in Taipeh mit der Taiwan Comic Base das erste Museum eröffnet, dass sich ausschließlich dieser Kunstform widmet.  

Besonders beliebt sind zurzeit autobiografische Inhalte, die eine bestimmte historische Zeit zum Leben erwecken, wie jene von Sean Chuang: In seinem »80s Diary in Taiwan« beschreibt er detailliert den damaligen Alltag – wie er Breakdance lernte, zum ersten Mal Musik mit einem Walkman hörte und Bruce Lee als sein Idol entdeckte.

Ich hatte damit gerechnet, dass ein solches Werk vor allem taiwanische Leserinnen und Leser interessieren würde, aber es wurde auf Comicfestivals in der ganzen Welt gezeigt und in mehrere Sprachen übersetzt.

Diese neue Vielfalt der letzten Jahre zeigt sich auch im Verlagswesen. Als ich 2003 den Verlag Dala gegründet habe, konzentrierten wir uns auf die Sparten Sex, Essen und Unterhaltung.

„In der taiwanischen Literatur, im Film und im Theater sind LGBTIQ-Themen präsent, aber im Comic gibt es eine Leerstelle“

Irgendwann habe ich begonnen, thematische Sammelbände herauszugeben, zum Beispiel zum Thema Nostalgie. Auch Graphic Novels haben wir immer öfter veröffentlicht – meiner Meinung nach die Arthouse-Filme der Comicwelt.

Als im Jahr 2019 in Taiwan die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert wurde, ist mir aufgefallen, dass Themen der sexuellen Identität und diverse Gender im Comic nicht wirklich stattfinden. Klar – „Boys Love“ und „Girls Love“ haben einen großen Marktanteil, aber dieses Genre würde ich nicht als aus der LGBTIQ-Community stammend bezeichnen.

Darin geht es um romantische Fantasien, aber nicht um die Herausforderungen, die queere Menschen täglich zu bewältigen haben. In der taiwanischen Literatur, im Film und im Theater sind LGBTIQ-Themen präsent, aber im Comic gibt es eine Leerstelle.

Höchste Zeit, das zu ändern, dachte ich. Also habe ich Künstlerinnen und Künstlern mit individuellem Bezug zum Thema einen Freifahrtschein gegeben. Sie konnten selbst über Inhalt, Stil und Genre ihrer jeweiligen Geschichte entscheiden.

„Unser Comic-Sammelband spielt im Jahr 2024, also fünf Jahre nach Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe“

Das Ergebnis ist „Rainbow Apartment“, ein Sammelband mit sechs Geschichten, die im Jahr 2024 spielen, also fünf Jahre nach Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Jede Story spielt in einem anderen Stockwerk eines typischen Wohnhauses in Taipeh. Die Geschichte im ersten Stock handelt von einem HIV-positiven Kunstlehrer, der sich in ein Aktmodell verliebt.

Im zweiten bahnt sich eine rein virtuelle Romanze an. Eine Etage darüber navigieren zwei Frauen die Schwierigkeiten und Unsicherheiten mit aufkeimender Liebe, während das queere Paar im vierten Stockwerk seine Beziehung vor den konservativen Eltern verheimlicht. Die nächste Geschichte porträtiert den Alltag einer Trans-Frau, die trotz Diskriminierung und Beziehungsproblemen ihren eigenen Weg findet.

Und in der sechsten Etage verliebt sich ein bisexueller Mann in seinen schwulen Mitbewohner. Jede der Geschichten ist in einem anderen Stil gezeichnet, was die Vielfalt der taiwanischen LGBTIQ-Community widerspiegelt. Das Gebäude der „Rainbow Apartments“ ähnelt einem Haus in Taipeh, das tatsächlich existiert. Unser Verlag Dala war früher im obersten Stockwerk untergebracht.

Mit dem Buch wollten wir eine Vision davon zeichnen, was hoffentlich in ein paar Jahren möglich sein wird: dass Menschen jeglicher sexueller Orientierung und jedes Begehrens offen und frei leben können und sich nicht dafür verstecken müssen, wer sie sind.

Protokolliert von Gundula Haage



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