„Die Kolonialzeit setzt sich fort“

Interview mit Abdulrazak Gurnah

Geht ohne (Ausgabe I/2023)

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Abdulrazak Gurnah. Foto: Joel Saget / Getty Images


Herr Gurnah, im Jahr 2021 wurden Sie mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Die Jury würdigte damit vor allem Ihre „kompromisslose und mitfühlende Durchdringung der Auswirkungen des Kolonialismus“. War das rückblickend ein wichtiger Meilenstein für die Kolonialismusdebatte?

Ich glaube schon. Das Thema Kolonialismus wird mittlerweile breiter diskutiert. Die Debatten knüpfen zwar nicht immer an die heutige Situation in den ehemals kolonisierten Ländern an, sondern drehen sich oft um europäische Staaten und andere ehemalige Kolonialmächte. Aber immerhin ist das Thema dort nun stärker präsent als früher.

Das liegt auch daran, dass diese Länder heute keine monokulturellen Gesellschaften mehr haben. Ohnehin haben die verschiedenen Ausprägungen des europäischen Kolonialismus bei allen nationalen Unterschieden ja stets eines gemeinsam: Sie waren weitgehend auf Gewalt und Zwang aufgebaut.

Sie selbst sind auf der Insel Sansibar aufgewachsen. Nach der dortigen Revolution im Jahr 1964 kamen sie mit 18 Jahren als Flüchtling nach Großbritannien. Die Auswirkungen des Kolonialismus waren für Sie also bereits als junger Mensch real. Wie hat diese Erfahrung Sie und Ihr Werk beeinflusst?

Wir alle, die die Kolonialzeit persönlich erlebt haben, erinnern uns intensiv daran – und auch Menschen, die sie nicht selbst erlebt haben, bekommen heute ihre Folgen zu spüren. Die Kolonialgeschichte setzt sich zwangsläufig fort und muss im Interesse aller Beteiligten aufgearbeitet werden. Gerade heute Nachmittag sprach ich mit jemandem über Kunstschätze, die von verschiedenen Orten geraubt wurden und sich heute im Berliner Humboldt-Forum oder im British Museum in London befinden.
 

„Wenn ich auf Polemik aus wäre, dann wäre ich in die Politik gegangen oder hätte mich als Aktivist engagiert“

Der Raub von Kunstwerken und religiösen Gegenständen ist jedoch nicht die einzige Wunde, die die Kolonialgeschichte gerissen hat. Zahlreiche Kulturen werden auch heute noch abgewertet oder geringgeschätzt. Es muss vieles auf den Tisch und auch auf den Verhandlungstisch, und dabei geht es nicht nur um die Schuldfrage, sondern auch darum, die Langzeitwirkung dessen zu begreifen, was damals geschah.

Europas Realität ist bis heute mit dieser Geschichte verwoben. Es ist ja nicht so, als sei die Kolonialzeit mit einem Schlag beendet gewesen, als die Europäer ihre Kolonien aufgaben. Im Gegenteil: Europas Wohlstand hat noch immer eine Menge mit dem Kolonialismus zu tun – genau wie die Armut in vielen ehemaligen Kolonialgebieten.

Gehen einzelne Länder Ihrer Einschätzung nach unterschiedlich mit diesen Altlasten des Kolonialismus um?

Sicher. In Deutschland wird das Thema beispielsweise erst seit relativ kurzer Zeit offen diskutiert, und selbst heute liegt die koloniale Vergangenheit des Landes vielen Menschen sehr fern. Das ist in Großbritannien und Frankreich anders. Dort sind die Spuren des Kolonialismus auf Schritt und Tritt sichtbar, allein schon weil dort überall Menschen leben, die aus den ehemaligen Kolonialgebieten stammen und sich oft lautstark zu Wort melden. Das ist in Deutschland schlichtweg nicht der Fall.

Bekommt die Diskussion dadurch in Großbritannien eine andere Dringlichkeit?

Zumindest ist die Kolonialismusdebatte dort Teil eines umfassenderen Kulturkampfes: Die eine Seite verteidigt das Empire; die Gegenseite fordert mit Nachdruck, dass Großbritannien sich seiner Geschichte stellt. Standbilder werden umgestürzt und ehemalige Nationalhelden mit Farbe beworfen. Hinter diesen Aktionen stehen oft Britinnen und Briten und nur selten Menschen, die früher selbst unter kolonialer Aggression zu leiden hatten. Dadurch haben diese vermeintlich kleinen Aktionen eine enorme Symbolkraft.

In zwei Ihrer Romane spielt Deutsch-Ostafrika, das auch das heutige Tansania umfasste, eine prominente Rolle: in „Das verlorene Paradies“ (1994) und „Nachleben“ (2020). In beiden Büchern beschreiben Sie den deutschen Kolonialismus durch die Linse zwischenmenschlicher Beziehungen und Interaktionen. Warum haben Sie diesen Zugang gewählt?

Ich versuche immer, eine in sich stimmige Geschichte zu erzählen und nicht ins Triviale oder Polemische abzugleiten. Wenn ich auf Polemik aus wäre, dann wäre ich vielleicht in die Politik gegangen oder hätte mich als Aktivist engagiert. Die Situationen, die wir erleben, sind jedoch oft vielschichtig. Als Schriftsteller versuche ich erkennbar zu machen, was tatsächlich passiert ist.

Ich will die Interaktion zwischen den Menschen aus nächster Nähe betrachten, ihre Familien, die Feinheiten ihres alltäglichen Lebens. Dadurch werden die Orte und die Geschichte lebendig.

In dem Roman „Nachleben“ wird diese Erzählweise dadurch unterstrichen, dass neben Englisch auch immer wieder andere Sprachen auftauchen: Arabisch, Suaheli und sogar Deutsch. Wie kamen Sie darauf, so viele Sprachen zu mischen?

Das liegt zum einen daran, dass meine Muttersprache Suaheli ist und ich erst später in der Schule Englisch lernte; und zum anderen wollte ich in „Nachleben“ die vielsprachige und multiethnische Gesellschaft an der afrikanischen Ostküste abbilden – und ihre Verbindung zum Indischen Ozean. Denn die Menschen reden dort tatsächlich bis heute so.
 

„Ich frage mich oft, ob es besser gewesen wäre, wenn ich in Tansania geblieben wäre“

Sie streuen englische Wörter ein, nutzen ein paar indische Brocken und mischen etwas Arabisch dazu, auch wenn sie eigentlich Suaheli sprechen. Wenn ich schreibe, stellt dieses Sprachgemisch sich von ganz allein ein.

Manche Wörter haben im Englischen auch einfach keine genaue Entsprechung. Dann lasse ich das ursprüngliche Wort stehen und mache seine Bedeutung auf andere Weise verständlich. In meinem Buch verwende ich zum Beispiel oft das Wort „Marehemu“, das dem Namen einer verstorbenen Person vorangestellt wird – vor allem dann, wenn man sich dieser Person besonders verbunden fühlt.

Im Grunde bedeutet „Marehemu“ so viel wie „Möge Gott seiner Seele gnädig sein“. Im Englischen müsste ich jedes Mal, wenn ich diese Person erwähne, „Mein Vater, Gott sei ihm gnädig, ...“ schreiben; das würde schwülstig oder albern klingen. Den Zusatz komplett wegzulassen, wäre in Suaheli jedoch respektlos.

Haben Sie jemals daran gedacht, nur auf Suaheli zu schreiben?

Nein. Das ist das, was ich anzubieten habe (zeigt auf sein Buch), und das ist gut so. Jemand anders wird es übersetzen. Gerade erscheint eine neue Übersetzung von „Das verlorene Paradies“ auf Suaheli.

Sie leben seit vielen Jahren in Großbritannien. Haben Sie durch die geografische Entfernung mittlerweile einen anderen Blick auf Ostafrika?

Ich bin jetzt 73. Das schärft den Blick und macht es mir leichter, die richtige Perspektive zu finden. Nach der Revolution konnte ich viele Jahre nicht nach Tansania reisen. Später änderte sich dann jedoch die Rechtslage, sodass ich 1984 zum ersten Mal wieder dort war. Seitdem bin ich ziemlich oft zurückgekehrt. Ich telefoniere auch mit meinen Schwestern und Nichten und verfolge, was dort passiert.

Nach der Flucht hatte ich es in Großbritannien anfangs schwer, aber dadurch, dass ich in der Fremde lebe, kann ich auch über Großbritannien und über Entwurzelung schreiben. Ich frage mich oft, ob es besser gewesen wäre, wenn ich in Tansania geblieben wäre – oder ob es besser war, wegzugehen und sich anderswo zu verwirklichen.

Diese Fragen treiben mich wie Millionen von Menschen in der ganzen Welt um und beeinflussen mein Schreiben nach wie vor.

Das Interview führte Jess Smee
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

„Nachleben“. Von Abdulrazak Gurnah. Penguin, München, 2022.
„Das verlorene Paradies“. Von Abdulrazak Gurnah. Penguin, München, 2021.



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