„Nichts war überflüssig“

Interview mit Makiko Yamaguchi

Geht ohne (Ausgabe I/2023)

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Japaischer Holzschnitt mit einer Ansicht der Stadt Kyoto während der Edo-Periode. Foto: DAJ / Getty Images


Frau Yamaguchi, Sie haben in Berlin das Kunstfestival „reEDOcate me!“ co-kuratiert, das sich mit Nachhaltigkeit befasst und auf die japanische Edo-Zeit verweist. Was hat es damit auf sich?

Die Edo-Epoche begann Anfang des 17. Jahrhunderts – in einer Zeit, in der in Japan die Ressourcen sehr knapp wurden und man die kolonialen Machtansprüche der Europäer immer mehr als Bedrohung wahrnahm. Darum schottete sich Japan für über 200 Jahre vom Rest der Welt ab. In dieser Zeit versorgte sich das Land komplett selbst.

Wie kam es zu dieser Ressourcenknappheit?

Die Bevölkerung wuchs stark, immer mehr Menschen zogen in die Städte, insbesondere nach Kyoto, Osaka und Edo, dem heutigen Tokio. Um mehr Brennmaterial und Baustoff zu gewinnen, wurden viele Wälder gerodet. Gleichzeitig kam es zu schlimmen Überschwemmungen, gefolgt von Dürren und Hungersnöten. Solche Krisen haben in der Menschheitsgeschichte oft zum Zusammenbruch von Zivilisationen geführt, beispielsweise auf den Osterinseln. Doch in Japan kam es anders.

Wieso?

Während in Ländern wie England Kohle verheizt wurde, um die Industrialisierung voranzutreiben, gab es in Japan kaum fossile Energieträger. Man nutzte fast nur nachwachsende, pflanzliche Stoffe. Und weil auch diese schnell zur Neige gingen, wurde in die Aufforstung investiert und ein komplexes Recycling- und Reparatursystem eingeführt.

Wie funktionierte dieses System?

Nichts war überflüssig, alles wurde weiterverwendet. Ein Kimono beispielsweise wurde getragen, bis er auseinanderfiel. Dann wurde er etwa zu einer Decke weiterverarbeitet – und ging diese kaputt, dann wurden daraus Putzlappen gemacht. Alles, was übrig blieb, wurde verbrannt und als Asche zum Düngen der Felder genutzt. Selbst der Müll wurde damals von Sammlern gekauft, die von Haus zu Haus gingen.

Und auch Sushi entstand in dieser Zeit, um kalten Reis zu verwerten und so Brennstoff zu sparen. Was ich aus künstlerischer Sicht besonders spannend finde, ist, dass die Edo-Zeit trotz der Knappheit auch eine kulturelle Blütephase war. Denn vieles, was heute mit der japanischen Kultur assoziiert wird, entspringt dieser Epoche.

Zum Beispiel?

Die japanische Malerei Ukiyo-e etwa, und auch
die japanische Literatur und das Theater erlebten eine Blütezeit. Das Kabuki-Theater, das heute eher eine Art museale Kunst ist, war damals sehr gesellschaftskritisch.

Wie endete diese Epoche?

Wohl vor allem damit, dass am 8. Juli 1853 vier US-Kriegsschiffe in die Bucht von Edo einliefen und die Öffnung des japanischen Marktes erzwangen. Was folgte, war eine Modernisierung nach westlichem Vorbild. Japan gab sich große Mühe, um möglichst schnell zu einem industriellen Land zu werden. So wurden die vorherigen Errungenschaften und Lebensweisen als rückständig und veraltet abgewertet.

Wie erinnert man sich in Japan heute daran?

In meiner Schulzeit wurde die Epoche – obwohl sie mit einer 260-jährigen Phase des Friedens einherging – als dunkle Zeit vermittelt, vergleichbar dem Mittelalter. Und tatsächlich war die Gesellschaft damals in einem feudalen System streng hierarchisch organisiert, mit einer großen Kluft zwischen den ärmeren Menschen und den Herrschenden.

Trotzdem kann die Edo-Zeit uns als Inspiration dienen. Und das ist es auch, was wir mit unsererm Kunstfestival anregen wollten: kreativ auf gegenwärtige Krisen zu reagieren und mit Knappheit umgehen zu lernen.

Das Interview führte Gundula Haage



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