Patriarchale Finsternis

von Huma Ahmed-Ghosh

Angst vor Frauen (Ausgabe IV/2022)

  • Eine Straßenszene im Kabul der 1980er-Jahre. Es sind sowohl Frauen in westlicher Kleidung wie auch in Burka zu sehen. Foto: AFP / Getty Images

  • Kurz vor dem Jahrestag der Machtübernahme der Taliban im August 2022 demonstrieren Frauen vor dem Bildungsministerium in Kabul unter dem Motto „Brot, Arbeit und Freiheit“. Die seltene Demonstration wird schnell von bewaffneten Talibanmitgliedern zerstreut, die in die Luft feuern. (Photo by Nava Jamshidi/Getty Images)


Wie in kaum einem anderen Land ist das Leben der Frauen in Afghanistan durch rivalisierende Patriarchate geprägt worden und durch ein extremes Auf und Ab, was ihre Rollen und Rechte anbelangt.

Mal versuchten Könige oder Besatzungsmächte das Land radikal zu modernisieren, dann wieder machten andere Herrscher, vor allem fundamentalistische islamische Regime, ebendiese Bestrebungen auf brutalste Weise wieder zunichte. Das betrifft den Zugang zu Bildung und der Berufswelt ebenso wie das Eigentums- und Eherecht.

Für einen ersten Schub hin zu mehr Freiheiten sorgte Abdur Rahman Khan, der von 1880 bis 1901 regierte. Der Emir schaffte die Schwagerehe ab, also die Tradition, dass Witwen einen Bruder ihres verstorbenen Mannes heiraten müssen.

Khan setzte das Heiratsalter für Mädchen auf 16 und für Jungen auf 18 Jahre herauf, gewährte Frauen das Recht auf Scheidung und führte die Schulbildung für Mädchen ein. Seine Lieblingsfrau Babo Jan trat unverschleiert auf, konnte reiten und vermittelte immer wieder in Clanstreitigkeiten – was damals für eine Frau durchaus unüblich war.

All diese Neuerungen stießen in den ländlichen Gebieten auf heftigen Widerstand. Als Abdur Rahman Khans Sohn Habibullah Khan (1901 bis 1919) die Nachfolge als Emir antrat und diese Gleichstellungsagenda weiter vorantrieb, wurde er ermordet.

Dessen Nachfolger wiederum, der Emir und spätere afghanische König Ghazi Amanullah Khan (1919 bis 1929) bestand auf dem Schulbesuch für Mädchen, erhöhte das Heiratsalter weiter auf 18 Jahre, schaffte die Polygamie ab und gewährte Frauen das Recht, ihren Ehemann selbst auszusuchen – und zur Wahl zu gehen. Doch nachdem oppositionelle Stammesführer Amanullah Khan zur Abdankung und Flucht gezwungen hatten, wurden alle diese Fortschritte rückgängig gemacht.

„Öffentliche Hinrichtungen und Auspeitschungen gehörten zum Alltag, beispielsweise für Frauen, die man des Ehebruchs bezichtigte“

Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis Versuche unternommen wurden, um die Stellung von Frauen wieder zu stärken. Ab 1964 gab es unter König Mohammed Zahir Schah, der von 1933 bis 1973 regierte, vor allem mit der Einführung einer modernen Verfassung erneut Reformbemühungen, etwa mit der Garantie von Grundrechten für die gesamte Bevölkerung, auch für Afghaninnen, die nun auch wieder wählen und sogar selbst für politische Ämter kandidieren durften.

Die sowjetische Besatzung von 1979 bis 1989 brachte ein Empowerment von Frauen durch Bildung und Beschäftigung – zum Teil weil die Männer im Krieg kämpften, der zwischen den Truppen der Regierung und der Sowjets und den Mudschaheddin entbrannte, zum Teil weil Frauen nun als wirtschaftlich wertvolle Ressourcen galten. Der Anteil von Mädchen mit Schulbildung nahm zu, viele Frauen aus den Städten wurden in die UdSSR geschickt, etwa um Medizin zu studieren.

Doch schon in dieser Zeit begannen die Mudschaheddin in Regionen, in denen sie an Einfluss gewannen, auf der Grundlage ihrer Auslegung des Islam drastische Maßnahmen gegen Afghaninnen zu ergreifen. Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen im Jahr 1989 und der schrittweisen Machtübernahme durch die Mudschaheddin und die Taliban stürzte das Land, was Frauenrechte anbelangte, zurück in die Tiefen der patriarchalen Finsternis.

Mit der Taliban-Herrschaft ab 1996 wurde das „Ministerium zur Förderung der Tugend und zur Verhinderung des Lasters“ eingerichtet, um Frauen zu überwachen und zu kontrollieren. Sie verboten das Fernsehen und verkündeten über Radio Shariat täglich neue Gesetze und Richtlinien.

Frauen durften das Haus nicht mehr ohne einen Mahram, ein männliches Mitglied der Familie, vor dem sich die Frau nicht verhüllen muss, verlassen; sie hatten eine Burka zu tragen; Mädchenschulen mussten schließen; Frauen durften nicht mehr arbeiten und wurden zwangsverheiratet. Öffentliche Hinrichtungen und Auspeitschungen gehörten zum Alltag, beispielsweise für Frauen, die man des Ehebruchs bezichtigte.

„Nach dem 11. September verbesserte sich die Lage für Stadtbewohnerinnen enorm“


Nach dem 11. September 2001 und dem Einmarsch der USA folgten zwei Jahrzehnte mit schwachen Reformversuchen. In Kabul und einigen städtischen Zentren verbesserte sich die Lage zwar enorm, mit Ausbildungsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen, einer besseren medizinischen Versorgung, neuen Arbeitsplätzen; ein Frauenministerium wurde geschaffen, und es gab Amtsträgerinnen.

Doch die Maßnahmen bewirkten keine strukturellen Veränderungen und erreichten vor allem Stadtbewohnerinnen, die Landbevölkerung profitierte in deutlich geringerem Ausmaß davon.

Seit die Taliban im Jahr 2021 wieder die Macht ergriffen haben, scheinen auch die kleinen Erfolge wieder zunichtegemacht zu werden. Das offenkundigste Zeichen dafür im Alltag ist die Pflicht zur Verschleierung. Dazu kommt, dass Frauen die Bildung verweigert wird und ihre Tätigkeiten sich im Wesentlichen auf den Haushalt beschränken.

Trotz allem gibt es in Afghanistan auch eine Geschichte der Frauenbewegung – angefangen mit den Königinnen, die oftmals selbstbewusst auftraten wie die erwähnte Babo Jan, bis hin zu Frauengruppen, die heimlich, trotz eines Verbotes, Mädchen unterrichtet haben. Dieser Kampf geht weiter – und die Welt sollte sich solidarisch zeigen.

Aus dem Englischen von Claudia Kotte



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