Unmoral ist Kunst

von Ariana Harwicz

Schwarz-Weiß-Denken (Ausgabe II/2022)

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Dies ist zum Glück kein Podium und keine Unterschriftenliste, auf der man sich eintragen soll. Ich werde hier niemanden denunzieren oder schlechtmachen, obgleich die Feigheit einiger Schriftsteller als Verbrechen eingestuft werden kann. Denn längst sind zahllose staatliche, private, alternative Literaturpreise sowie höchst angesehene und vormals unabhängige Institute und Fakultäten in Amerika und Europa übereingekommen, die Literatur zum Gehilfen in der Identitäts- und Diversitätspolitik zu machen.

Ein Beispiel von vielen: Laut den Bewerbungsrichtlinien des Swedish Arts Council muss man in seiner Projektbeschreibung erläutern, ob die LGBTQ-Bewegung, das Thema Diversität und interkulturelle Perspektiven im eingereichten Projekt Thema sind. Ob es der Inklusion benachteiligter Menschen zuträglich ist. Bei manchen Filmfestivals etwa in den USA spielt, so höre ich von Leuten aus dem Gewerbe, die sexuelle Orientierung derer, die sich bewerben, eine Rolle - ob sie heterosexuell, nicht-binär, homosexuell oder trans sind. Natürlich liefert dies allerlei Gründe für Spekulationen und eine Art Identitätshandel oder „Schwarzmarkt“. Etwa wenn sich Leute als jemand anderes ausgeben bei dem Versuch, dieses Stipendium oder jene Förderung zu bekommen.

Talentierte Freunde fragten, ob ich es gut fände, wenn sie sich bei einer Bewerbung als trans- oder homosexuell präsentieren würden. Mit Scham erklärten sie, dass sie nur weiße Heteros seien und also benachteiligt. Hier findet eine Verschiebung statt: Das Werk verliert an Bedeutung, es geht vielmehr darum, „ins System hineinzukommen“. So wie Ingmar Bergman sich Sakko und Krawatte anzog, um wie ein Bürger auszusehen und dann in der Kunst wider die Norm zu handeln.

„Schreiben muss stets auf das Paradox hinarbeiten, auf eine neue Semantik.” 

Bei Wettbewerben, die mit gut dotierten Preisen locken, wird oft erwartet, dass die eingereichten Werke keine aggressiven Inhalte haben, keine Beleidigungen und obszönen Wörter enthalten. Das bedeutet, dass Schriftsteller nicht mehr wirklich schreiben, dass Kunst zu einem Subgenre wird, einem Akt ideologischer Kollaboration, die auf Erpressung beruht. Mit dieser Aussage habe ich mir in Argentinien Feinde gemacht, aber ich würde mich schlechter fühlen, wenn ich mich nicht dazu geäußert hätte. Viele Journalisten schrieben mir privat, wie gut sie meine Statements fänden, sie dann aber öffentlich zu unterstützen sei wieder eine andere Sache. „Wir können das nicht sagen“, erklären sie.

Was mich stutzig macht, sind nicht die Doxa (laut Pierre Bourdieu jene Überzeugungen und Meinungen, die von einer Gesellschaft nicht hinterfragt werden), sondern, wie viele Schriftsteller sich ihnen beugen. Wie viele von ihnen in Jurys tätig sind, in denen „moralische Integrität“ vorausgesetzt wird. Oder dass jene, die für Feminismus eintreten, sich beim Schreiben an die Vorgabe halten, dass es um Diversität gehen sollte. Dass wir hinnehmen, wenn Übersetzerinnen sich über den Text einer Autorin beschweren, weil er „Rassismus enthält“. Dass der Vorgang des „Überarbeitens“ beim Übersetzen akzeptiert wird. Das ist eine tödliche Falle.

Denn wenn jedes Schreiben ein Prozess gegen sich selbst ist, wie Ibsen dachte, ein Attentat auf sich selbst, eine Zerstörung, eine Kriegserklärung, dann ist Schreiben mit diesen neuen Losungen unvereinbar. Die der Kunst innewohnende Unmoral, wie Imre Kertész es formulierte, die Freude am Normenbruch, kann unter den aktuellen Bedingungen nicht existieren.

Schreiben muss stets auf das Paradox hinarbeiten, auf eine neue Semantik. Es darf sich nicht dem Markt andienen. Deshalb dürfen sich auch Schriftstellerinnen und Schriftsteller nicht den ihnen auferlegten Regeln und Identitäten beugen, sich nicht zu „der Autorin der ethnischen Vielfalt“, „dem Autor des schmutzigen Sex“ oder „der offiziellen Autorin des antikapitalistischen Punks“ machen lassen. Sonst geht es uns womöglich so wie der Gewinnerin des Booker-Preises 2020, die fast niemand zu ihrem Werk befragte, sondern ausschließlich zu ihrer nicht-binären Identität. Als wäre es ein Stil oder eine Neigung, anders zu sein, ein Opfer häuslicher Gewalt, afrikanischer Herkunft. Klingt das nicht ziemlich konservativ? 

Aus dem Spanischen von Laura Haber



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