Unsicherheit ist mir vertraut

von Bridget Liang

Schwarz-Weiß-Denken (Ausgabe II/2022)

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Der Februar 2022 war ein grauenhafter Monat für mich. Über mehrere Wochen hinweg wurde Kanadas Hauptstadt Ottawa vom sogenannten „Freedom-Convoy“ heimgesucht – einer Gruppe von Truckern, die mit Straßenblockaden gegen die Corona-Maßnahmen protestierten.

Die Blockade weitete sich zu einer rechtsextremen Bewegung aus. Im Namen der „Freiheit“ flatterten zahlreiche Hakenkreuz- und Konföderiertenflaggen.

„Ich gehöre gleich mehreren diskriminierten Gruppen an.“

Ende Februar wurden die Proteste zwar durch die Polizei aufgelöst, doch deren Botschaft verbreitete sich weiter. Für wen sie die Welt „freier“ machen wollen? Ganz bestimmt nicht für Menschen wie mich. Für uns sind sie eine Erinnerung daran, dass wir uns nicht sicher fühlen können.

Ich bin trans, habe eine Behinderung und Eltern unterschiedlicher ethnischer Herkunft. So gehöre ich gleich mehreren diskriminierten Gruppen an.

Die Trucker blockierten Rettungswagen und Notrufe, was viele Menschen in große Bedrängnis brachte. Rassistisch, sexistisch und homophob motivierte Straftaten nahmen zu.

„Ist es zu viel verlangt, ohne die Angst leben zu wollen, dass weiße Rassisten meine Familie angreifen?“

Einige Mitglieder der Polizei unterstützten die Proteste, was mir und vielen anderen Angst machte. Das Gefühl der Unsicherheit ist mir leider viel zu vertraut.

Auch vor Beginn der Blockaden begleiten mich im Alltag ständig Fragen wie: Werde ich auf dem Weg zum Supermarkt belästigt, weil ich eine Trans-Frau bin?

Seit Beginn der Pandemie mache ich mir Sorgen um meine chinesisch-kanadische Mutter und um meine Großmutter. In ganz Nordamerika kam es zu Überfällen auf Menschen asiatischer Herkunft, weil ihnen von Rechtsextremen die Schuld an Corona gegeben wurde.

„Leider braucht es noch immer solche separierten sicheren Orte, weil wir Marginalisierten nie automatisch davon ausgehen können, dass andere Menschen unsere Rechte respektieren.“

Ist es zu viel verlangt, ohne die Angst leben zu wollen, dass weiße Rassisten meine Familie angreifen? Wirklich sicher fühle ich mich oft nur in meinen „Safe Spaces«, also wenn ich mich an Orten befinde, wo ich so akzeptiert werde, wie ich bin.

Leider braucht es noch immer solche separierten sicheren Orte, weil wir Marginalisierten nie automatisch davon ausgehen können, dass andere Menschen unsere Rechte respektieren.

Im Gegensatz dazu fühlen sich die Trucker auch im öffentlichen Raum sicher. Sie haben sich über Wochen häuslich auf der Straße eingerichtet, haben Essen und Benzin miteinander geteilt. Offenbar verstehen auch sie das Konzept, füreinander zu sorgen.

Aber diese Fürsorge erstreckt sich nicht auf andere. Einige von ihnen verglichen die Impf- und Maskenpflicht mit der Verfolgung von Juden durch die Nazis. Vielleicht sind sie diejenigen mit Empathiedefizit – und nicht autistische Menschen wie ich.

„Wie können wir eine Welt schaffen, in der wir keine „Safe spaces“ mehr brauchen?“

Ich weiß natürlich, dass viele Menschen frustriert sind und unter der Pandemie leiden. Sie sind mit neoliberalen, kapitalistischen Überzeugungen aufgewachsen, da wird kollektive Fürsorge nicht wertgeschätzt. Das teils strafbare Handeln der Trucker muss natürlich Konsequenzen haben, aber ich möchte ihnen auch Mitgefühl entgegenbringen.

Ich wünsche mir Wege, um Brücken zu schlagen – damit sich niemand mehr durch den Schutz marginalisierter Gruppen bedroht fühlt. Die große Frage ist nur, wie ein gemeinsames Verständnis von Fürsorge und Aufeinander-Achten entstehen kann, bei dem alle gewinnen.

Wie können wir eine Welt schaffen, in der wir keine „Safe spaces“ mehr brauchen? Denn das ist es, was „Freiheit“ für mich bedeutet.

Aus dem Englischen von Luisa Donnerberg



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