Eine Stimme haben

von Lubi Barre

Schwarz-Weiß-Denken (Ausgabe II/2022)

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Die Autorin Lubi Barre. Foto: Cécile Ash


Ich sitze mit meinen beiden Jungs im geräumigen Abteil eines Zuges, der uns im Eiltempo nach Süddeutschland bringt, und bitte sie, mir eine Minute Gehör zu schenken. Ich möchte sie etwas fragen. Der eine schaut von seinem Donald-Duck-Heft auf, der andere legt eine Spotify-Pause ein. Vier Augen blicken mich gespannt an. Ich frage: „Habt ihr das Gefühl, dass ihr eine Stimme habt?“

Als ich noch ein Mädchen war, galt in Ostafrika, wo ich aufwuchs, für die Vorstellung davon, eine „Stimme zu haben“, das Gleiche wie für die, „Gefühle zu zeigen“: Es gab sie nicht. Beides war verkümmert durch die Macht der gelebten Kultur und aufgrund generationsübergreifender Traumata. Ich fühlte mich missverstanden, nirgendwo zugehörig, anders als die anderen, Treibgut in einem Meer der Übereinstimmungen. Ich wurde zur Insel – und war genauso isoliert.

Unser Land hat die längste Küstenlinie Afrikas, wie ein elegantes Messer ragt es in den Indischen Ozean, und es hat selbst etwas Inselhaftes. Die Bewohner sind genetisch eng verwandt, sprechen dieselbe Sprache und beten zu demselben Gott. Eine dreifache Bedrohung – sprachlich, ethnisch und religiös homogen. Eine streng kontrollierte Identität, für die Neugier kein Zeichen von Intelligenz darstellt, sondern eine Gefahr – besonders bei einer altklugen erstgeborenen Tochter. Ein Ort, an dem eine Stimme zu haben etwas Singuläres ist.

„Meine Eltern unterzeichneten ein paar Formulare, bezahlten horrende Schulgebühren, und meine Brüder und ich waren an der Amerikanischen Schule aufgenommen.”

An dem Tag, an dem ich zum ersten Mal jemanden Englisch reden hörte, wurde mir klar, was Ehrgeiz ist. Und wie sehr ich mich ins Zeug legen würde für etwas, das ich mir wünschte und das ich brauchte. Ich hörte meine Brüder in dieser fremden Sprache miteinander reden, die ganz anders war als die, in der wir uns mit unseren Eltern unterhielten und in der ich an der Schule unterrichtet wurde. Wie angeregt und cool sie wirkten, wenn sie diese neuen Wörter benutzten! Und mit welcher Leichtigkeit meine Lippen die Wörter nachformten! Mit der unbeschreiblichen Besitzlust einer Siebenjährigen wollte ich mir diese Wörter aneignen.

Zwei Jahre lang hatte ich eine arabische Schule besucht. Eine Schule mit lauter Fremden und einer roten Sandfläche als Pausenhof. Mein Vater war der Meinung, seine Tochter müsse auf diese Schule gehen, weil ihr so unsere Religion noch nähergebracht würde.

Ich war fleißig und bestand die Aufnahmeprüfung für die Amerikanische Schule in Mogadischu. Zum Eintritt kam es jedoch nicht; meine Schuluniform blieb unbenutzt. Was auf dem Land nur ein Gerücht war, entpuppte sich in unserer Hauptstadt als handfester Krieg. Wir flohen nach Paris, die Stadt, in der ich geboren wurde. Meine Eltern unterzeichneten ein paar Formulare, bezahlten horrende Schulgebühren, und meine Brüder und ich waren an der Amerikanischen Schule aufgenommen.

„Wie wichtig die Sprache meiner Wahl ist, begann ich zu verstehen, als ich nach Deutschland kam, wo ich auf einmal sprachlich und phänotypisch eine Minderheitenschriftstellerin war.”

Ich erinnere mich, wie ich in der Schulbibliothek saß, wo meine Bücherbesessenheit ihren Anfang nahm. Ich las oft und unersättlich. Ließ mich in die Geschichten fallen, die sich mir auf den Seiten darboten, und tauchte in Welten ein, in denen ich meine Eltern für nichts um Erlaubnis bitten musste. Welten, die total anders waren als meine, voll mit Gedanken, Verhaltensweisen und Lebenswegen, die nichts mit meinem eigenen streng geregelten Dasein zu tun hatten. Ich wünschte mir weder Barbiepuppen noch sonst irgendwelche Spielsachen, sondern immer nur Bücher, Bücher, Bücher. Fenster für meine Fantasie, in der ich frei über endlose grüne Wiesen rannte, mit Raufbolden kämpfte, mich ver- und entliebte und mit fiktiven Familien in Häusern saß, durch die ein Duft von schweren Backwaren wehte. Alle Figuren, von denen ich in diesen prägenden Jahren las, hatten Farben, die kräftiger waren als meine eigenen.

Ich habe lang nicht hinterfragt, warum ich auf Englisch schreibe, in einer Drittsprache, die ich öfter gebrauchte als meine Mutter- oder meine Zweitsprache (Somali und Arabisch). Da ich meine restlichen Kindheitsjahre in Amerika verbrachte, schien es mir ganz natürlich. Wie wichtig die Sprache meiner Wahl ist, begann ich zu verstehen, als ich nach Deutschland kam, wo ich auf einmal sprachlich und phänotypisch eine Minderheitenschriftstellerin war.

Im Englischen entdeckte ich meine Unabhängigkeit – in einer Sprache, die meine Eltern sich zwar als Kommunikationsmittel angeeignet hatten, aber nicht, um tiefer darin einzutauchen. Ich fand meine Stimme im Englischen, weil es meine einzige Chance war, wirkliche Freiheit zu erlangen.

„Nicht vielen von uns ist das Privileg vergönnt, sich die Sprache aussuchen zu können, die ihre Stimme stärkt, sie nährt und nicht unterdrückt, die sie ermutigt und nicht einschüchtert oder gar Missbrauch mit ihrem Denken treibt.” 

Eine Sprache, die mit keiner kulturellen oder elterlichen Ausrichtung verbunden war. Eine Sprache, die Raum für alles bot, was mich ausmachte. Eine Sprache, in der ich frei denken konnte, die ich auf meine ganz eigene Art und Weise verfremden konnte und die mir aus der Einsamkeit, welche mich über so weite Strecken meines Lebens begleitet hatte, heraushalf. Eine erwählte Sprache. Nicht vielen von uns ist das Privileg vergönnt, sich die Sprache aussuchen zu können, die ihre Stimme stärkt, sie nährt und nicht unterdrückt, die sie ermutigt und nicht einschüchtert oder gar Missbrauch mit ihrem Denken treibt.

Leicht war der Weg allerdings nicht. Fast dreißig Jahre hat es gedauert, bis ich die Kraft der neuen Sprache zu nutzen verstand. Die ersten zwanzig Jahre schlummerte sie in meinem Kopf und in meinen Büchern. Mein Schreiben hielt ich vor der Öffentlichkeit geheim, weil meine Eltern es missbilligten. Diese Sprache hielt mich dazu an, nur Wahrhaftiges zu schreiben, auch wenn es mir noch schwerfiel, da so vieles mit schleimigen Rückständen von Schuld und Scham behaftet war.

Als ich Mutter wurde und meine Jungs ermutigte, den Mund aufzumachen und den Generationenkreislauf zu durchbrechen, kam ich mir wie eine Heuchlerin vor, denn ich hatte meine Stimme ja selbst noch nicht in der breiteren Öffentlichkeit erhoben.

„Ich danke dem kleinen Mädchen, das ich in Mogadischu war.”

So verspürte ich irgendwann den Druck, endlich mit meiner Arbeit vor ein Publikum zu treten. Bei Lesungen vor deutschem Publikum stellte ich allerdings mehr und mehr fest, dass man meine eigentliche Erzählung ignorierte. Die Sprache, die ich mir in Kindertagen als Fahrschein in die Freiheit erkämpft, in der ich in aller Stille meine Traumata verarbeitet hatte und in der ich jetzt anderen davon zu erzählen begann. Die Sprache, die mich zur Wahrheit verpflichtete, wurde zur Nebensache. Was zählte, waren plötzlich nur noch meine Herkunft und meine Hautfarbe. Ich wurde zum Highlight Reel; mit dem Blick auf mein Äußeres und Mutmaßungen wurden meine Worte ausradiert.

Doch im Gegenzug wurde meine Stimme sicherer und reifer, kräftig wie der stärkere Arm eines Tennisprofis. Ich schmettere bestimmte Fragen zurück, übernehme die Herrschaft über das Narrativ, gestalte das Gespräch und lenke es auf Inhalt und Bedeutung meines Schreibens statt auf die Form meines Gesichts.

Ich danke dem kleinen Mädchen, das ich in Mogadischu war. Es hatte keine Stimme, aber Intuition; es hatte Träume, auch wenn es sie nicht benennen konnte. Ich danke dem kleinen Mädchen und betrachte meine Jungs im Zug. Das Fortbestehen meiner selbst in der Form ihrer Augen, der Farbe ihrer Haare, ihrer Freiheit im Denken. Als die beiden mit einem Eifer, der nichts von Traumata weiß, auf meine Frage antworten, denke ich, ich hätte sie vielleicht anders stellen sollen: „Wisst ihr, wie es sich anfühlt, wenn man keine Stimme hat?“

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld



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