Ursachen bekämpfen

von David H. Ucko

Talking about a revolution (Ausgabe II/2020)


Wie reagiert man auf Widerstandsbewegungen, die versuchen, politische und gesellschaftliche Veränderungen mit Gewalt herbeizuführen? Nach der Theorie der Aufstandsbekämpfung, wie sie etwa das britische Militär formuliert hat, muss den gewalttätigen Akteuren Einhalt geboten werden. Gleichzeitig muss aber auch auf die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten reagiert werden, die die Menschen auf die Straße und zur Gewalt treiben. Die Doktrin der Aufstandsbekämpfung trägt – auch wenn sie in den Augen ihrer Kritiker nur ein Euphemismus für Todesschwadronen und Massaker ist – eine liberale Handschrift: Sie geht davon aus, dass sich durch Stabilität und durch Reformen am Gesellschaftsvertrag dafür sorgen lässt, dass der Staat inklusiver wird und es fortan weder Grund noch Gelegenheit zum Rebellieren gibt.

Laut den Prinzipien der Aufstandsbekämpfung kommt es für die beteiligten Streitkräfte darauf an, ein differenziertes Verständnis eines Konflikts zu entwickeln, unter einem gemeinsamen Oberbefehl zu agieren, sich bei Operationen von nachrichtendienstlichen Informationen leiten zu lassen, Aufständische zu isolieren und dafür zu sorgen, dass die breite Bevölkerung das Vorgehen des Staates als berechtigt wahrnimmt.

Doch warum besteht die Theorie der Aufstandsbekämpfung, auf die der Westen bei seinem Engagement im Irak und in Afghanistan baute, so selten den Praxistest? Unsere Erfahrungen mit der Bekämpfung von Aufständen beruhen seit Jahrhunderten auf Interventionen des Westens in fremden Staaten. Immer wenn „wir“ uns engagieren, sind also von vornherein bestimmte Bedingungen gegeben: Die einheimische Regierung ist waffentechnisch unterlegen, es wird um internationalen Beistand ersucht, und ein oder mehrere Drittstaaten folgen dem Aufruf und entsenden militärische Mittel. Dies führt dazu, dass die Reaktion insgesamt militarisiert wird – auch, weil wir unsere nichtmilitärischen Bemühungen, die helfen sollen, die „eigentlichen Ursachen“ zu bekämpfen, vernachlässigen.

„Die Vertrauenskrise des Systems lädt dazu ein, die staatlichen Strukturen mit Gewalt umzustürzen, statt mit ihnen zu arbeiten.“

Es hat sich gezeigt, dass Widerstandsbewegungen, die den Status quo gewaltsam infrage stellen, die niedrigsten Instinkte des Staates wecken. Blutvergießen erregt Aufsehen. Der Staat leitet rasche Gegenmaßnahmen ein. Das Militär wird losgeschickt und soll mit etwas „fertigwerden“, was zu Recht als Gefahr für die Sicherheit dargestellt wird. Das Militär kann aber nur einen Schutzschild für politische und soziale Reformen bieten. In aufstandsgefährdeten Staaten kommt erschwerend hinzu, dass deren Regierungen in der Regel den Beweis schuldig bleiben, dass politische und gesellschaftliche Widersprüche auf friedlichem Wege aufgelöst werden können. Die Vertrauenskrise des Systems lädt dazu ein, die staatlichen Strukturen mit Gewalt umzustürzen, statt mit ihnen zu arbeiten. Staaten, die den Legitimitätstest nicht bestanden haben, müssen sich deswegen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Das ist eine Herkulesaufgabe, aber nicht unmöglich. Die „Demokratische Sicherheitspolitik“, die Kolumbien 2002 einleitete, trug nicht nur deswegen zum Sieg über die FARC-Guerilla bei, weil das Militär mobilisiert wurde, sondern auch weil es gelang, die Bevölkerung für eine gemeinsame Vision eines inklusiven und demokratischen Staats zu gewinnen. 

Wirklicher Erfolg setzt den Willen voraus, die Sicherheit der Menschen und die soziale Sicherheit über die Sicherheit des Regimes und der Eliten zu stellen. Er setzt voraus, dass man „das Volk“ als Bürger und Mitwirkende einer gemeinsamen politischen Anstrengung erkennt. Nur so kann Widerstandskraft gegen extremistische Ideologien entwickelt werden. 

 

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld



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